Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB)

Der Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) sieht in § 32 SGB IX neue Fassung (n. F.) die Förderung einer von den Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängigen Beratung vor.

Diese soll den Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohten Menschen als ergänzendes niedrigschwelliges Angebot neben der Beratung durch die Rehabilitationsträger (§§ 14, 15 SGB I) zur Verfügung stehen.

In Anlehnung an die UN-Behindertenrechtskonvention sollen dabei Beratungsangebote von Menschen mit Behinderungen besonders gefördert werden.

"Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, einschließlich durch die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren" (Art 26, UN-BRK).

Beratungsform "Peer Counseling"

Für die Beratung für Menschen mit Behinderungen durch andere Menschen mit Behinderungen hat sich der Begriff des "Peer Counseling" auch im deutschsprachigen Raum weitreichend etabliert:

Peer Counseling (peer = der/die Ebenbürtige/Gleichgestellte; Counseling = Beratung) bezeichnet eine spezielle Form der Beratung für Betroffene durch Betroffene. Kerngedanke ist, dass Beratung am glaubwürdigsten durch Menschen vermittelt werden kann, die gleiche oder ähnliche Situationen wie der Ratsuchende bereits selbst erlebt haben (Wienstroer, 1999).

Die Beratungsform geht auf unterschiedliche Ansätze von Selbsthilfe- und Interessenverbänden in den USA der 1960er-Jahre zurück („Independent Living-Bewegung“). Veteranenverbände, Studierende oder Senioren entwickelten Konzepte zum Umgang mit gemeinsamen Herausforderungen; in Kalifornien entstanden erste Anlaufstellen für ältere Menschen im Rahmen des Peer Counseling. Mittlerweile gibt es in auch in Deutschland zahlreiche Peer Counseling-Angebote.

In der Regel strebt das Peer Counseling die Selbstbestimmung und unabhängige Lebensführung des Ratsuchenden an; es soll Selbsthilfekompetenzen sowie das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl des Klienten stärken. Hinzu kommt häufig eine politische Dimension der Interessenvertretung behinderter/chronisch kranker Menschen mit dem Anspruch der Gleichberechtigung und Anerkennung.

Die eigene Betroffenheit ist eine unablässige Voraussetzung für die Arbeit als Peer CounselorIn; es existieren jedoch keine einheitlichen Qualifizierungsstandards. Die Bandbreite der Qualifizierung reicht aktuell von der qualifizierten Laienhilfe bis zu Angeboten durch Mitarbeiter mit einer Ausbildung oder einem Studium, häufig im Bereich der Sozialpädagogik/Sozialarbeit oder ähnlichen Berufsfeldern. Zum Teil sind Peer CounselorInnen in Festanstellung und Vollzeit tätig, zum Teil ehrenamtlich in begrenztem Umfang. Etablierte Anbieter von Peer Counseling setzen sich für eine Qualifizierung und damit verbundene Professionalisierung der Beratertätigkeit ein.

Zentrale Merkmale unabhängiger Teilhabeberatung

Zentrale Merkmale einer ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung in Abgrenzung zur gesetzlichen Beratungs- und Unterstützungspflicht der Kostenträger sind (Wansing, 2016):

  • weitgehende Unabhängigkeit von ökonomischen und haushaltsrechtlichen Interessen;
  • keine Kostenverantwortung;  
  • Parteilichkeit mit dem Ratsuchenden.

Die Beratung von Betroffenen durch Betroffene zeichnet sich darüber hinaus u. a. aus durch:

  • Rückgriff auf die einschlägigen persönlichen Erfahrungen des Beraters;
  • Angebot eines Rollenvorbildes für die Ratsuchenden durch die Person des Beraters.

Ergänzende unabhängige Beratung im geltenden Sozialrecht

§ 65b SGB V gibt vor, ein von Leistungserbringern unabhängiges Beratungs- und Informationsangebot als Regelleistung für Verbraucher sowie für Patienten vorzuhalten. Ziel ist eine kostenfreie und qualitätsgesicherte Beratung in gesundheitlichen und gesundheitsrechtlichen Fragen. Hieraus ergibt sich eine Schnittstelle für Menschen mit Behinderungen, die in gesundheitsrechtlichen Fragen einen besonderen Bedarf haben. Aus der Vorgabe des § 65 SGB V entstand die Unabhängige Patientenberatung Deutschland gemeinnützige GmbH (UPD).

Sonstige Angebote der unabhängigen Teilhabeberatung finden im geltenden Sozialrecht lediglich Erwähnung als Angebote, auf die durch Leistungsträger hinzuweisen sei (z. B. § 11 Abs. 5 SGB XII).

Die gesetzlich geregelte Beratungsverantwortung in Fragen des Zugangs zu Rehabilitationsleistungen obliegt den Rehabilitationsträgern.

Ausblick zu § 32 SGB IX n. F.

Eine Umsetzung des § 32 SGB IX n. F. geht einher mit der Frage, wie einheitliche Standards in der Beratung von Menschen mit Behinderungen durch unabhängige Stellen geschaffen und eine qualitativ hochwertige unabhängige Beratungstätigkeit gewährleistet werden kann.

Während Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen einen rechtlichen Anspruch auf die gesetzlich vorgeschriebene Beratung durch die Rehabilitationsträger haben, der u. a. auch einen Amtshaftungsanspruch bei Beratungsfehlern umfasst (§ 839 BGB iVm Art. 34 GG), sieht der Entwurf für ein BTHG in Bezug auf die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung keine derartigen Verbindlichkeiten vor.

"Die Beratung durch gesellschaftliche Organisationen ist rechtlich schwer einzuordnen, denn das Beratungsverhältnis liegt oft an der Schnittstelle von privater, politischer und professioneller Sphäre. Es basiert auf Vertrauensverhältnissen, die sich der Verrechtlichung entziehen. (…) Fragen der Qualifikation und der Haftung wird sich auch die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung stellen, wenn dieser ausdrücklich die Aufgabe zugewiesen wird über Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach dem SGB IX, also über Rechtsfragen, zu beraten" (Welti, 2016).

Die Förderung von Diensten, die ein ergänzendes Beratungsangebot anbieten, soll bis zum 31.12.2022 befristet sein und nach den Vorgaben einer durch das BMAS noch zu erlassenden Förderrichtlinie umgesetzt werden (§ 32 SGB IX n. F.). Demnach existieren bislang keine konkreten Konzepte oder gar Vorgaben für einen flächendeckenden bundesweiten Ausbau ergänzender unabhängiger Teilhabeberatung.

Ergänzung (Januar 2018):

Nach der Verkündung des BTHG am 23.12.2016 und seiner Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 29.12.2016 ist der neue § 32 SGB IX zum 01.01.2018 in Kraft getreten. Die entsprechende Förderrichtlinie des BMAS wurde am 30.05.2017 im amtlichen Teil des Bundesanzeigers veröffentlicht und ist am 31.05.2017 in Kraft getreten.

Nachdem im Dezember 2017 bereits die Fachstelle zur ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (Fachstelle Teilhabeberatung) in Berlin eröffnet wurde, ging Anfang Januar 2018 auch der Webauftritt der Fachstelle Teilhabeberatung online:

www.teilhabeberatung.de   

Die Fachstelle Teilhabeberatung soll die Zusammenarbeit und Vernetzung der regionalen Beratungsangebote unterstützen. 

Ergänzung (Dezember 2019):

Am 01.01.2020 tritt das „Gesetz zur Entlastung unterhaltsverpflichteter Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe“ (Angehörigen-Entlastungsgesetz) in Kraft. Artikel 2 sieht Änderungen im SGB IX vor, u. a. bei der in § 32 festgelegten ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung. Die Bundesmittel für die Zuschüsse zur EUTB werden ab dem Jahr 2023 auf 65 Millionen Euro festgesetzt. Sie für Administration, Vernetzung, Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit der Beratungsangebote vorgesehen. Zuständig ist das BMAS. Das BMAS erlässt eine Rechtsordnung, um die Ausgestaltung und Umsetzung der EUTB nach dem Jahr 2022 zu bestimmen. Die zunächst vorgesehene Befristung bis zum 31.12.2022 entfällt.

Quellen

Stand: 18.12.2019


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