17.02.2020 Rechtsprechung

Beschluss zu Verfassungsbeschwerde gegen Durchgangsverbot mit Blindenführhund

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 30. Januar 2020 der Verfassungsbeschwerde einer blinden Beschwerdeführerin stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berliner Kammergericht zurückverwiesen. Der Frau war durch die Ärzte einer Gemeinschaftspraxis verboten worden, ihre Blindenführhündin bei der für sie notwendigen Durchquerung der Praxis mitzuführen. Der dies bestätigende Beschluss des Kammergerichts verletzt nach Ansicht des BVerfG die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG; Az. 2 BvR 1005/18).

Die Beschwerdeführerin war in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis, die sich im selben Gebäude wie die im Ausgangsverfahren beklagte Orthopädische Gemeinschaftspraxis befindet. Die Physiotherapiepraxis ist zum einen ebenerdig durch die Räumlichkeiten besagter Arztpraxis zu erreichen, und zum anderen durch den Hof über eine offene Stahlgittertreppe. Am 8. September 2014 untersagten die Ärzte der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis der Beschwerdeführerin, die Praxisräume mit ihrer Hündin zu betreten und forderten sie auf, den Weg über den Hof und die Treppe zu nehmen. Die Frau beantragte vor dem Landgericht Berlin, die Ärzte der Gemeinschaftspraxis zur Duldung des Durch- und Zugangs zusammen mit der Hündin zu verurteilen. Sie trug vor, diese könne die Stahlgittertreppe nicht nutzen. Die Hündin scheue die Treppe, weil sie sich mit ihren Krallen im Gitter verfangen und verletzt habe. Die Klage blieb erfolglos, das Berliner Kammergericht (KG) wies mit angegriffenem Beschluss auch die Berufung der Beschwerdeführerin, die inzwischen einen Rollstuhl benutzen musste, zurück.

Das BVerfG hob den Beschluss auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das KG zurück.

Verweis auf Hilfe durch andere Menschen ist unzulässige Bevormundung

Nach Ansicht der Karlsruher Richter verkennt die angegriffene Entscheidung die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung), weil sie dessen Ausstrahlungswirkung in das Zivilrecht nicht berücksichtige. Indem das KG davon ausgehe, die Benachteiligung der Beschwerdeführerin sei nicht von § 19 Abs. 1 Nr. 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erfasst, habe es das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot nicht im Lichte des Grundrechts ausgelegt.

Eine mittelbare Benachteiligung liege vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften Personen wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise ohne sachliche Rechtfertigung benachteiligen können. Das scheinbar neutral formulierte Verbot, Hunde in die Praxis mitzuführen, benachteilige die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung in besonderem Maße. Das KG habe darauf abgestellt, dass die Beschwerdeführerin selbst gar nicht daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen. Vielmehr sehe sie sich wegen des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert. Hierbei beachte es nicht den Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat. Das KG vergleiche die Beschwerdeführerin nicht mit nicht behinderten Personen, sondern erwarte von ihr, sich helfen zu lassen und sich damit von anderen abhängig zu machen. Dabei verkenne es, so das BVerfG, dass sich die Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten Person anvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen müsste. Dies komme einer Bevormundung gleich, weil es voraussetze, dass sie die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre aufgebe.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, so die Karlsruher Richter weiter, berücksichtige das KG die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht hinreichend. Das Durchgangsverbot sei bereits nicht erforderlich, um einer – zu vernachlässigenden – Infektionsgefahr in der Praxis vorzubeugen. Sowohl das Robert Koch-Institut als auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft gingen davon aus, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen.

Anspruch auf volle und wirksame Teilhabe geht Rechten der Praxisgemeinschaft vor

Bei der Prüfung der Angemessenheit des Durchgangsverbots seien die auf Seiten der Ärzte betroffenen Interessen – die Berufsausübungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie – gegen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützte Recht der Beschwerdeführerin, nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt zu werden, gegeneinander abzuwägen. Während die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der Praxis mit Hund allenfalls in geringem Maße beeinträchtigt würden, bringe das Verbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin. Es werde ihr unmöglich, wie nicht behinderte Personen selbständig und ohne fremde Hilfe in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen. Das KG verkenne offenkundig, befand das BVerfG, dass das Benachteiligungsverbot es Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen.

Das BVerfG bezog sich darüber hinaus auf Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten sei. Mit diesem Ziel und dem dahinterstehenden Menschenbild sei es nicht vereinbar, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihre Führhündin vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen. Deshalb müssten die Interessen der Ärzte hinter dem Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zurückstehen. „Das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteiligt sie in verfassungswidriger Weise“, heißt es in der Begründung des Beschlusses abschließend.

Die vollständige Begründung ist auf der Webseite des BVerfG nachlesbar:

Zum Beschluss des BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2020 - 2 BvR 1005/18 -, Rn. (1-50)

(Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 2020)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

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