20.05.2020 Sonstige Veröffentlichungen

„Hartmut Haines – Er brachte das SGB IX in die Spur" – Ein Nachruf

Dr. Hartmut Haines, Ministerialrat im Ruhestand, ist am 14. April 2020 kurz vor seinem 78. Geburtstag gestorben. Hartmut Haines arbeitete von 1971 bis 2007 im Bundesarbeitsministerium. Der promovierte Jurist Haines trug dort nachhaltig zur Entstehung und Entwicklung des Sozialgesetzbuchs bei. Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/Zentrum für Sozialforschung Halle, Dr. Diana Ramm und Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel, blicken in einem Nachruf auf das berufliche Wirken von Hartmut Haines.

„Die ihm gestellten Aufgaben und sein beharrliches Wesen brachten es mit sich, dass er (...) der Entwicklung allgemeiner Grundsätze und einer starken rechtlichen Stellung der Leistungsberechtigten besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat", schreiben die Autorin und Autoren in ihrer Würdigung und führen weiter aus:

„Bereits mit 28 Jahren hatte er mit einer Promotion zu Schnittstellen zwischen Bereicherungsrecht und Wirtschaftsrecht begonnen[1], die bis heute in den Standardkommentaren nicht nur zitiert, sondern auch referiert wird. Das war ein mutiger Einstieg, denn das Bereicherungsrecht gehört zu den besonders schwierigen und traditionsreichen Teilen des BGB, während das Marken- und Wettbewerbsrecht in ständiger Bewegung ist. Ihm gelang es, Vorschläge zu einer neu formulierten praktischen Konkordanz zwischen diesen verschiedenen juristischen Welten zu formulieren. Einige Gedanken wurden vom BGH 1976 zitiert (was für Dissertationen ungewöhnlich ist), als sich dieser in einer lange umstrittenen Rechtsfrage nach 50 Jahren von einer Doktrin des Reichsgerichts löste[2]. Mit dieser fachlichen Basis fand seine juristische Kompetenz auch später bei Personen Anerkennung, die erwarten, dass juristische Fähigkeiten zur Sicherung von gesellschaftlichem Stillstand eingesetzt werden.

Hartmut Haines war zunächst in der Phase der Kanzlerschaft Willy Brandts mit Konzeption und Entwicklung des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuchs (SGB I) befasst und erlebte die Arbeit der Sozialgesetzbuch-Kommission mit ihrem Vorsitzenden Hans F. Zacher[3]. Aus dieser Zeit rührte auch sein frühere Mitherausgeberschaft des renommierten Kommentars „Hauck/Haines“.

Nach dem Regierungswechsel zur CDU/CSU/FDP-Koalition 1982 fand er – „strafversetzt“, wie er launig formulierte – den Weg zu seinem beruflichen Lebensthema, dem Recht der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Über 16 Jahre hinweg entwickelte und hütete er die Idee eines verbindenden Gesetzbuchs mit Geltung für alle Rehabilitationsträger, das an Regelungswirkung über das bereits 1974 beschlossene Rehabilitations-Angleichungsgesetz hinausgehen sollte[4]. In dieser Zeit entwickelte und pflegte Haines auch internationale Kontakte auf diesem Gebiet, insbesondere im Rahmen des Europarats, der EG und der ILO sowie zur internationalen Community des Disability Management. Er konnte hier vielfältige Probleme und Lösungen studieren und sich vergewissern, dass es andere rechtliche und politische Lösungen gibt als die in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten. Dass diese gleichwohl eine hohe Anziehungskraft hatten und selbst diskutable praktische Alternativen in bestimmten historischen Situationen kaum in Betracht gezogen werden, konnte er im Prozess der deutschen Einheit erleben[5]. Die Behindertenberichte der Bundesregierung, heute noch wichtige Dokumente zur Geschichte der Behindertenpolitik, tragen seine Handschrift[6].

1998 bot sich die Gelegenheit, nach dem Wechsel zu einer rot-grünen Mehrheit in Bundestag und Regierung, das im Koalitionsvertrag verankerte Vorhaben eines SGB IX zu realisieren. Karl-Hermann Haack, Behindertenbeauftragter der neuen Regierung und gut vernetzter Abgeordneter, ließ sich unter anderem vom vierten Behindertenbericht[7] inspirieren und machte sich die Forderung zum Anliegen. Haines hat es in einem 2017 geführten Interview so formuliert: „Der hat dann die Dampflok gespielt, um das Vorhaben im Parlament, in der Fachöffentlichkeit durchzubringen. Dabei war ich, um im Bilde zu bleiben, ein Rad in dieser Lokomotive.“[8] Seine Bereitschaft, in einem Interview substanziell, aber ohne Verklärung der eigenen Rolle, Stellung zu beziehen, zeigte, dass er dem Thema und der Wissenschaft bis zuletzt verbunden geblieben ist. So haben wir ihn auch 2015 bei einer Fachtagung für die Teilhabe von Menschen mit kommunikativer Behinderung erlebt, an der er trotz gesundheitlicher Lasten mit wacher Aufmerksamkeit teilgenommen hatte, nachdem er auch diese rehabilitationswissenschaftlichen Projekte zusammen mit den Betroffenenverbänden erfolgreich gefördert hatte.

Das keineswegs konfliktfreie Wechselspiel verschiedener Akteure im Parlament, im Ministerium, in der Selbstverwaltung und den Verbänden brachte, gegen massive Beharrungskräfte gerade in den Verwaltungen, aber auch im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das SGB IX schließlich in die Spur und zum Inkrafttreten am 1. Juli 2001. Harry Fuchs, Dampfkessel der Haack’schen Lok, wurde in diesem Prozess zeitweise als Gegenpol zu Haines wahrgenommen. In einem ebenfalls 2017 geführten Interview äußerte Fuchs rückblickend seine „große Hochachtung“ für die „sehr klugen Formulierungen“, die Haines für das Gesetz gefunden hat, und die Bedingung der politischen Durchsetzbarkeit und Basis späterer effektiver rechtlicher Durchsetzung der Kernanliegen geworden sind. Haines zeigte sich in diesem Prozess als loyaler Beamter mit eigenem politisch wie juristisch klugem Kopf.

Hartmut Haines war auch klar, dass es mit einem guten Gesetz nicht getan ist. In einer Deutlichkeit, die man heute bisweilen vermisst, nutzte er die verbleibenden Jahre seines Berufslebens und noch einen Teil seines Ruhestands, um die Rehabilitationsträger nichtöffentlich wie öffentlich auf das Gesetz, auf ihre Pflicht zu dessen Umsetzung und auf ihre Versäumnisse hinzuweisen. Seine klaren Worte und bisweilen harschen Auftritte blieben im Gedächtnis. Auf einer Tagung im November 2003 hielt er einen Beitrag „Die Umsetzung des SGB IX – erste Erfahrungen aus der Sicht des Gesetzgebers“. In der mündlichen Fassung begann er mit dem Hinweis, dass er als Beamter keineswegs der Gesetzgeber sei. Zugleich war er ein guter Interpret des objektiven gesetzgeberischen Willens. Den Verantwortlichen bei den Rehabilitationsträgern bescheinigte er zu diesem Zeitpunkt: „Offenbar warten sie darauf, dass der Gesetzgeber ihnen bis ins letzte Detail das kleine Einmaleins vernünftiger und bürgerorientierter Rechtsanwendung vorschreibt.“[9] Zum Bundesteilhabegesetz hat sich Haines nicht mehr öffentlich geäußert, aber mancher wird an seine Worte gedacht haben.

Zugleich zeigte er mit seiner langen Erfahrung denjenigen, die wie die Verfasser in dieser Zeit zu den Freundinnen und Freunden des SGB IX stießen, die langen Linien der Entwicklung und der Konflikte auf. So pflegte er zu erwähnen, dass zu Beginn seiner Tätigkeit in diesem Bereich die Rehabilitationsträger Rehabilitanden noch „einberiefen“ – ein langer Weg bis zu einem gelebten Wunsch- und Wahlrecht.

Hartmut Haines war ein Ministerialbeamter, der früh erkannt hat, dass es nicht ausreicht, nur mit anderen Teilen der Exekutive zu sprechen. Er hielt den Kontakt zu Abgeordneten, zu Richterinnen und Richtern und vor allem zu den Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen und anderen Menschen in der sozialen Praxis. Ein intensiver Austausch verband ihn mit den Schwerbehindertenvertretungen, allen voran denjenigen der Automobilindustrie und ihrem Sprecher Bernhard Grunewald, aber auch mit Betriebsärzten. Er hat auch die Bedeutung der Wissenschaft für den Diskurs um die Wirklichkeit des Rechts erkannt und die Anfänge des heute unter www.reha-recht.de zu findenden Forschungszusammenhangs beim IQPR in Köln unterstützt. Ebenso hat er selbst das SGB IX im Lehr- und Praxiskommentar unter anderem an der Seite von Dirk Dau und Franz Josef Düwell engagiert kommentiert.

Den bereits zitierten Beitrag beendet Haines mit dem Ausblick: „Aber Gesetzesparagraphen allein prägen nicht die alltägliche Realität. Vielmehr muss der mit dem SGB IX verfolgte Paradigmenwechsel in die soziale Wirklichkeit umgesetzt werden. Dabei wird sich zeigen, dass Vorteile für die Betroffenen zugleich Vorteile für die Allgemeinheit sind. (…) Die Zukunft von Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen ist durch das Programm des SGB IX vorgezeichnet. Es ist Sache von uns allen, es jeden Tag aufs Neue konsequent und engagiert Wirklichkeit werden zu lassen.“

In dem Vorläufer des Diskussionsforums Rehabilitations- und Teilhaberecht hatte er diese Aufforderung Ende 2006 weiter verdeutlicht[10]:

„Was hat sich beim SGB IX bewährt? Vor allem das Ingangsetzen eines Entwicklungsprozesses unter aktiver Beteiligung der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen, in dem sich Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen schrittweise durchsetzen lassen – auch, aber nicht nur im Sozialrecht, im Sozialleben und im Arbeitsleben“.

Diese Prozesse werden wir in seinem Sinne weiter voranbringen."

Prof. Dr. Wolfhard Kohte/ Dr. Diana Ramm/ Prof. Dr. Felix Welti


[1] Haines, Bereicherungsansprüche bei Warenzeichenverletzungen und unlauterem Wettbewerb, 1970.

[2] BGH, Urt. v. 30.11.1976, BGHZ 68, 90.

[3] Vgl. Haines, Der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuchs, Ein Meilenstein für die Neuordnung des Sozialleistungsrechts. Versuch einer rechtspolitischen Zwischenbilanz, ZSR 1976, 1-6.

[4] Zur Bilanz bis dahin: Haines, Die Schwierigkeiten auf dem Weg zum SGB IX, ZSR 1997, 463-476.

[5] Vgl. Ramm, Die Rehabilitation und das Schwerbeschädigtenrecht der DDR im Übergang zur Bundesrepublik Deutschland – Strukturen und Akteure, 2017, S. 226 ff.

[6] Zuletzt der Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe, BT-Drs. 15/4575 vom 16.12.2004.

[7] Vierter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, BT-Drs. 13/9514 vom 18.12.1997.

[8] Die Interviews wurden im Rahmen des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekts „Der Beitrag der sozialen Selbstverwaltung zur Entwicklung des Rehabilitationsrechts vom Reha-Angleichungsgesetz zum SGB IX 1989 bis 2001“ der Universität Kassel geführt und werden im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung öffentlich zugänglich gemacht werden.

[9] Haines in: Igl/ Welti (Hrsg.), Recht der Rehabilitation und Teilhabe – Zwischenbilanz zum SGB IX: Kritische Reflexion und Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 42, 43.

[10] Haines, 5 Jahre SGB IX – Was hat sich bewährt?, IQPR-Forum D 1/2007, unter www.reha-recht.de.


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