14.04.2020 Verwaltung, Verbände, Organisationen

Menschenrechte in der Corona-Krise: Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften stoßen weiterhin auf Kritik

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) und weitere Institutionen und Verbände haben in eigenen Stellungnahmen die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften zur Entscheidungsfindung über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie scharf kritisiert.

„Restriktionen zur Eindämmung des Corona-Virus dürfen Menschen mit Behinderungen nicht diskriminieren oder besonderen Risiken aussetzen“, erklärte Beate Rudolf, Direktorin des DIMR, anlässlich der Veröffentlichung einer Stellungnahme der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu den Rechten auf Leben und Gesundheit von Menschen mit Behinderungen. Das Institut problematisiert in seiner Stellungnahme die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften, soweit sie Abstufungen beim Zugang zur Intensivmedizin zulasten von Menschen mit Behinderungen vorsehen. Die Empfehlung des Ethikrats, dass die medizinischen Fachgesellschaften Regeln zur Abwägung vorgeben sollen, sei höchst kritisch zu sehen. „Ethisch hoch brisante Fragen dürfen nicht allein von den medizinischen Fachgesellschaften beantwortet werden“, betonte Rudolf. Vielmehr sei eine breite Diskussion der menschenrechtlichen Dimension erforderlich. Mit Blick auf die Vorgaben der UN-BRK sei es geboten und förderlich, darüber mit Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisation in Austausch zutreten. „Hier stehen Bundesregierung und Bundestag in der Verantwortung“, so Rudolf.

„Diskriminierende Tendenzen im Krisenmanagement"

Auch das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) ist besorgt, dass Menschenrechte, zumal Rechte von Menschen mit Behinderungen, in diesen hektischen Zeiten des medizinischen Krisenmanagements aus dem Blickfeld geraten. „Leitlinien wie die der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) demonstrieren diskriminierende und utilitaristische Tendenzen im aktuellen Krisenmanagement. Wenn es um die Frage geht, abzuwägen, wessen Leben angesichts Ressourcenknappheit gerettet werden soll – und wessen nicht –, soll und darf der Staat die medizinischen Verantwortlichen selbstverständlich nicht allein lassen“, heißt es begleitend zu der Stellungnahme von BODYS.

BODYS empfiehlt, zeitlich befristete, an den Menschenrechten orientierte Leitlinien in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu generieren. Behinderung dürfe weder unmittelbar noch mittelbar ein Kriterium für die Vorenthaltung oder Einstellung medizinischer Versorgung sein. Wenn der Staat diskriminierende Empfehlungen von Fachgesellschaften stillschweigend akzeptiere, mache er sich zum Komplizen dieser Diskriminierung, so BODYS.

Gesellschaftlicher Diskurs gefordert

Zuvor hatten bereits Organisationen der Menschen mit Behinderungen gegen die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften protestiert und einen breiten gesellschaftlichen Diskurs gefordert. Die LIGA Selbstvertretung forderte den Deutschen Bundestag auf, angesichts der gegenwärtig kursierenden Papiere zu menschenrechtlich problematischen Entscheidungen über Leben und Tod bei möglicherweise knappen Ressourcen eindeutig Stellung zu beziehen.

Die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen hat sich ebenfalls mit einer Stellungnahme zu den Ethik-Empfehlungen im Rahmen von Covid-19 positioniert. Darin heißt es: „Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen." 

Am 16. April 2020 lädt die behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Corinna Rüffer, zu einer Online-Diskussion mit dem provokanten Titel „Wer stirbt zuerst? Triage und Risikogruppen" ein, an der auch die Richterin Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen und Prof. Dr. Till Zimmermann, Professor für Strafrecht, teilnehmen.

Weitere Informationen

Zur Pressemitteilung und Stellungnahme des DIMR zur Corona-Pandemie: Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen sicherstellen

Zur Pressemitteilung und BODYS-Stellungnahme „Inklusion in Zeiten von Katastrophen-Medizin“

Zur Stellungnahme der BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen "Die Würde aller Menschen ist unantastbar!"

Zur Online-Diskussion von Bündnis 90/Die Grünen am 16.04.2020, 19 Uhr

(Quellen: Bochumer Zentrum für Disability Studies; Deutsches Institut für Menschenrechte; kobinet-Nachrichten)


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