11.08.2022 Politik

Noch viele konträre Positionen zum Referentenentwurf eines „Triage-Gesetzes“

Wie können Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen vor einer Benachteiligung geschützt werden? Die Bundesregierung hat nach verschiedenen Anläufen am 14. Juni 2022 einen Referentenentwurf vorgelegt, das sogenannte „Triage-Gesetz“. Viele Institutionen und Verbände haben schriftlich bzw. im Rahmen einer Anhörung Stellung zu dem ethisch anspruchsvollen Thema bezogen. Menschen mit Behinderungen befürchten weiterhin eine Gefahr der Diskriminierung.

Mit einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) will das Bundesgesundheitsministerium (BMG) einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021 (Az 1 BvR 1541/20) umsetzen und geeignete Vorkehrungen treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird. Der Referentenentwurf schreibt im neuen § 5c IfSG „Verfahren im Falle pandemiebedingt nicht ausreichender intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten“ vor, dass eine Entscheidung zur Zuteilung knapper Ressourcen nur „aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebens­wahrscheinlichkeit“ der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden soll. Die Entscheidung sollen dabei mindestens zwei in Intensivmedizin qualifizierte und erfahrene Fachärztinnen oder Fachärzte einvernehmlich treffen und transparent dokumentieren.

Schwerpunkte der aktuellen Debatte zum Triage-Gesetz

Inhaltlich haben viele Verbände von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen begrüßt, dass der neue Referentenentwurf keine sogenannte „Ex-Post-Triage“ mehr vorsieht, d. h. eine bereits begonnene intensivmedizinische Behandlung soll nicht zugunsten einer neuen Patientin oder eines neuen Patienten abgebrochen werden. Von Seiten medizinischer Fachgesellschaften wurde dies kritisiert: Unabhängig davon, ob die intensivmedizinische Behandlung bereits eingeleitet wurde oder nicht, müssten bei den Zuteilungsentscheidungen alle Patientinnen und Patienten mit einem intensivmedizinischen Behandlungsbedarf gleichermaßen berücksichtigt werden, solange eine intensivmedizinische Behandlung ärztlicherseits indiziert sei und dem Patientenwillen entspreche.

Das Entscheidungskriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ wurde in den Stellungnahmen nicht nur aus ärztlicher Sicht mit Blick auf die häufig längeren COVID19-Behandlungen als nicht angemessen kritisiert. Von Seiten der Verbände von Menschen mit Behinderungen und Selbstvertretungsorganisationen sowie aus menschenrechtlicher Sicht wird dieses Entscheidungskriterium abgelehnt, weil es eine Abwägung von Lebenschancen bedeute und somit gegen den Grundsatz, dass kein Leben gegen ein anderes abgewogen werden dürfe, verstoße. Bei der Berücksichtigung von „Komorbiditäten“ würde zudem nicht genauer definiert, was darunter zu verstehen sei und wie dies von „Behinderung“ abzugrenzen sei. Es könne niemals ausgeschlossen werden, dass Behinderung nicht pauschal mit „Komorbidität“ und dadurch mit schlechteren Genesungsaussichten verbunden würde.

Dass bei den Triage-Entscheidungen neben mindestens zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten bei Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen noch eine weitere Person mit entsprechender Fachexpertise hinzuzuziehen sei, wurde einerseits positiv bewertet. Andererseits wurde aber auch kritisiert, dass die Regelungen eine Ausnahme bei Dringlichkeit vorsehen. Die Hinzuziehung einer dritten Fachperson mit behinderungs- bzw. erkrankungsspezifischer Expertise sei notwendig, um die Resilienz von Menschen mit Behinderungen zu erkennen und ihnen eine realistische Chance einzuräumen.

Aus ärztlicher Sicht wurde vorgebracht, dass das „Triage-Gesetz“ keinen sicheren Rechtsrahmen biete und die zusätzlichen Anforderungen des Mehraugenprinzips nebst umfangreichen Dokumentationspflichten das vorhandene Personal in Krankenhäusern zusätzlich belasten würde, insbesondere in Zeiten pandemiebedingt noch geringerer personeller Ressourcen und bei erheblichem Zeitdruck. Für eine sachgerechte und praktisch umsetzbare Entscheidungsfindung brauche es eine hinreichende personelle Ausstattung sowie eine hinreichende technische Infrastruktur für den Einsatz telemedizinischer Mittel.

Des Weiteren wurden Vorschläge zur Ergänzung des Referentenentwurfs eingebracht:

  • eine richterliche Genehmigungspflicht für Zuteilungsentscheidungen;
  • eine Verpflichtung für Krankenhäuser, Triage-Situationen an eine zentrale Stelle zu melden;
  • strafrechtliche Konsequenzen, wenn gegen das vorgeschriebene Diskriminierungs­verbot verstoßen wird, sowie Entschädigungen bei Benachteiligung;
  • eine regelmäßige Evaluierung der Verfahrensanweisung, die ein Krankenhaus für sich festlegt;
  • spezifische Vorgaben zur Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege zu Themen wie behinderungsspezifische Kenntnisse, barrierefreie Kommunikation, Diskriminierungsrisiken u. a.

Die Strategie, durch organisatorische Maßnahmen im Krankenhaus eine Triage-Situation gar nicht erst entstehen zu lassen, wurde von vielen Seiten als besonders wichtig erachtet.

In vielen Stellungnahmen wurde zudem darauf hingewiesen, dass der Referentenentwurf sich nur auf die pandemiebedingte Knappheit von Behandlungskapazitäten beziehe. Es wurde angeregt, Regelungen zur Sicherstellung diskriminierungsfreier Entscheidungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu verankern, damit diese auch für andere Triage-Situationen greifen.

Das parlamentarische Verfahren wird voraussichtlich nach der Sommerpause des Bundestags beginnen. Der Referentenentwurf vom 14. Juni 2022 und zugehörige Stellungnahmen sind unter folgendem Link auf der Seite des BMG abrufbar: Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes

(Quelle: Bundesgesundheitsministerium)


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