10.11.2020 Rechtsprechung

Übernahme von Fahrtkosten im Rahmen der Eingliederungshilfe

Entstehen bei der Durchführung einer Eingliederungshilfemaßnahme notwendigerweise Fahrtkosten, sind diese, nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Februar 2020, Az. B 8 SO 18/18 R, als notwendiger Bestandteil vom Sozialhilfeträger zu übernehmen.

Der 2008 geborenen schwerbehinderten Klägerin wurden vom Sozialhilfeträger für den Zeitraum September 2011 bis August 2015 Leistungen für teilstationäre Betreuung und interdisziplinäre Frühförderung im Rahmen der Eingliederungshilfe in einem integrativen Kindergarten bewilligt. Der Kindergarten befand sich 12 km vom Wohnort der Klägerin entfernt. Bis August 2013 übernahm der Sozialhilfeträger zusätzlich die Kosten eines Fahrdienstes. Eine Übernahme der Fahrtkosten ab September 2013 lehnte er ab und verwies in seiner Begründung darauf, dass die Klägerin einen geeigneten wohnsitznäheren Kindergarten besuchen könne. Im Übrigen seien die durch die Fahrten entstehenden Mehrkosten nicht behinderungsbedingt, weil auch nicht behinderte Kinder aufgrund ihres Alters in gleicher Weise in den Kindergarten gebracht werden müssen. Die Klägerin wurde daraufhin von ihren Eltern mit dem PKW auf eigene Kosten zum integrativen Kindergarten gefahren.

Mit dem Rechtsweg verfolgt die Klägerin nunmehr die Erstattung der durch Hin- und Rückfahrt zum integrativen Kindergarten entstandenen Fahrtkosten.

Der Anspruch auf Kostenerstattung einer selbstbeschafften Leistung besteht, wenn der Rehabilitationsträger eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Die Selbstbeschaffung (hier: Erstattung der Fahrkosten mit dem eigenen PKW) setzt dabei keine identische Leistung (hier: weitere Übernahme der Kosten für den Fahrdienst) voraus, es genügt dass die selbstbeschaffte Leistung wesensgleich ist. So verhält es sich bei den geltend gemachten Fahrkosten.

Rechtsgrundlage für die Übernahme der ursprünglich begehrten Fahrtkosten war § 19 Abs. 3 i. V. m. § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII, § 56 SGB IX (jeweils in der anzuwendenden Fassung). Ist das Erreichen einer konkreten Einrichtung, in welcher eine Eingliederungsmaßnahme vom Sozialhilfeträger bewilligt wurde, notwendigerweise mit der Entstehung von Fahrtkosten verbunden, so ist die Übernahme derselben vom Sozialhilfeträger unerlässlich, um die Ziele der bewilligten Eingliederungsmaßnahme nicht zu gefährden.

Die Klägerin konnte den über 12 km langen Weg zum und vom integrativen Kindergarten nicht zu Fuß zurücklegen. Dem Verweis auf einen näher gelegenen Kindergarten steht entgegen, dass die heilpädagogische Maßnahme ausdrücklich für den integrativen Kindergarten bewilligt wurde. Insoweit ist die Entscheidung bindend.

Vom BSG konnte indes nicht abschließend geprüft werden, inwieweit der Klägerin die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs möglich gewesen wäre, da es hierzu an Feststellungen der Vorinstanz fehlte. Zudem fehlte es an Feststellungen zur Höhe der tatsächlich entstandenen und damit erstattungsfähigen Fahrtkosten, weshalb das BSG die Sache an das Landessozialgericht zurückverwies.

Wenn die Entstehung von Fahrtkosten absehbar ist

Für die Praxis bleibt festzuhalten, dass Fahrtkosten als Bestandteil einer Eingliederungsmaßnahme vom Sozialhilfeträger zu übernehmen sind, wenn der Betroffene die fragliche Wegstrecke nicht zu Fuß zurücklegen kann. Die Übernahme der Fahrtkosten zur Ermöglichung der spezifischen Maßnahme ist dann unerlässlich.

Ist bei der Bewilligung einer spezifischen Maßnahme bereits die notwendige Entstehung von Fahrtkosten absehbar, stellt sich die Frage, wie weit die Beratungspflicht des Eingliederungshilfeträgers greift und von diesem bereits bei der Antragstellung auf einen naheliegenden Anspruch auf Fahrtkostenübernahme hinzuweisen ist.

Die Entscheidung über die Übernahme von Fahrt- bzw. Beförderungskosten kann bereits in die Entscheidung über die eigentliche Eingliederungsmaßnahme aufgenommen werden.

Urteil des BSG v. 27.02.2020, Az. B 8 SO 18/18 R

(Quelle: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 2020, S. 863)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

Entscheidungen zum Rehabilitations- und Teilhaberecht finden sich auch in der

 Rechtsdatenbank unseres Partners REHADAT.


Kommentare (2)

  1. Kirsten Westphal 20.11.2020
    Sehr geehrte Frau Niesen,

    ich bedauere, Ihnen in Ihrer konkreten Situation nicht weiterhelfen zu können. Die Aufgabe der DVfR e.V. besteht in der Weiterentwicklung des Rehabilitations- und Teilhaberechts im Gesamten.

    Eine Rechtsberatung, bzw. eine konkrete Unterstützung in Ihrem Fall gehört nicht zum Aufgabengebiet der DVfR e.V. Diesbezüglich sind auch keine entsprechenden Kompetenzen bei uns vorhanden.

    Allerdings bieten größere Sozialverbände für Menschen mit Behinderung wie beispielsweise der Sozialverband VdK Deutschland (www.vdk.de) oder der Sozialverband Deutschland (www.sovd.de) oder die BAG Selbsthilfe (www.bag-selbsthilfe.de) Beratungen an oder Sie fragen einen Anwalt.

    Grundsätzlich kann ich Ihnen mitteilen, dass die Übernahme von Fahrtkosten im Rahmen der Eingliederungshilfe bei einem Besuch der Förderschule nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Ich möchte Sie hierzu auf ein Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21.04.2011, Az: S 1 SO 3289/10 verweisen, zu lesen unter dem Link: https://sozialgericht-karlsruhe.justiz-bw.de/pb/,Lde/1210916/?LISTPAGE=1210872

    Mit freundlichen Grüßen
    Kirsten Westphal, DVfR
  2. Tanja-Stella Niesen
    Tanja-Stella Niesen 19.11.2020
    Guten Tag,

    ist dieses Urteil auch für die Fahrtkosten zu einer Förderschule geistige Entwicklung, 12 Kilometer entfernt, nicht im Einzugsgebiet, anwendbar?

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