01.09.2015 B: Arbeitsrecht Winkler: Beitrag B11-2015

Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – Anmerkung zu LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.06.2012 – 1 Sa 225 e/11

Im vorliegenden Beitrag befasst sich der Autor mit dem Anspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung und diskutiert dazu ein Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Schleswig-Holstein vom 19.06.2012. Das Gericht hatte darüber zu entscheiden, ob die schwerbehinderte Klägerin gegenüber ihrem Arbeitgeber einen Beschäftigungsanspruch hat und ein Zahlungsanspruch aus Nichtbeschäftigung besteht.

Es kam zu dem Schluss, dass der Arbeitgeber aus § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch IX verpflichtet ist, Arbeitsbereiche für Schwerbehinderte in zumutbarem Umfang umzuorganisieren. Zudem sei es rechtsmissbräuchlich, unnötig hohe Qualifizierungshürden aufzustellen, um schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auszuschließen. Wenn der Arbeitgeber sein Direktionsrecht nicht dazu nutze, entsprechend geeignete Arbeitsplätze zu schaffen, mache er sich schadensersatzpflichtig.  

Der Autor stimmt der Entscheidung des LAG zu und geht in seiner Würdigung vertieft auf die behinderungsgerechte Beschäftigung und den Zahlungsanspruch ein.

(Zitiervorschlag: Winkler: Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – Anmerkung zu LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.06.2012 – 1 Sa 225 e/11; Forum B, Beitrag B11-2015 unter www.reha-recht.de; 01.09.2015)

 


I. Thesen des Autors

  1. Der Arbeitgeber muss alles Zumutbare tun, um behinderungsgerechte Beschäftigung gemäß § 81 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) IX zu ermöglichen.

  2. Unterlässt der Arbeitgeber die zumutbare Umorganisation oder vereitelt er auf andere Weise, dass der schwerbehinderte Beschäftigte behinderungsgerecht beschäftigt werden kann, macht er sich schadensersatzpflichtig.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Arbeitsbereiche in zumutbarem Umfang umzuorganisieren, damit er den Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX erfüllen kann.

  2. Es ist rechtsmissbräuchlich, für Tätigkeitsbereiche im Unternehmen zusätzliche hohe Qualifikationshürden aufzustellen, die mit der eigentlichen Tätigkeit nichts zu tun haben, wenn dadurch der Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer weitestgehend leerläuft.

  3. Der Arbeitgeber darf sich nicht darauf berufen, es sei kein behinderungsgerechter Arbeitsplatz vorhanden, wenn er die Anforderungen an einen freien Arbeitsplatz ohne sachlichen Grund so erhöht, dass der behinderte Bewerber sie nicht erfüllen kann oder aber er dem behinderten Bewerber die erforderliche Qualifikation für die Stelle verweigert (Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB).

  4. Übt der Arbeitgeber sein Direktionsrecht entgegen § 106 S. 3 Gewerbeordnung (GewO) ohne Berücksichtigung der Interessen des behinderten Arbeitnehmers aus, indem er an der Zuweisung eines ungeeigneten Arbeitsplatzes festhält, obwohl die Zuweisung eines geeigneten Arbeitsplatzes möglich ist, macht er sich schadensersatzpflichtig.

III. Der Sachverhalt

Die Klägerin macht einen Beschäftigungsanspruch als Schwerbehinderte geltend und verlangt die Zahlung von Vergütung für Zeiten der Nichtbeschäftigung. Die 1963 geborene Klägerin ist seit 1990 als Busfahrerin bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt im Umfang von rund 23 Wochenstunden. Die Beklagte ist berechtigt, der Klägerin auch andere, ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechende Aufgaben zu übertragen. Die Klägerin leidet seit 1986 unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD‑10 F20.05). Die Klägerin ist schwerbehindert. Seit Juli 2008 war sie fortlaufend arbeitsunfähig. Wegen ihrer Erkrankung darf die Klägerin nicht mehr im Fahrdienst eingesetzt werden. Die Beklagte schrieb im September 2009 eine innerbetriebliche Qualifizierung zum Prüfen von Fahrausweisen aus. In den Anforderungen an die Bewerber heißt es unter anderem, es werde eine gültige Fahrerlaubnis Klasse D und die uneingeschränkte Tauglichkeit zum Fahren vorausgesetzt. Die Klägerin bewarb sich auf diese Ausschreibung. Die Bewerbung war nicht erfolgreich. Im Oktober 2009 bot die Klägerin ihre Arbeitskraft an. Sie könne zwar nicht im Fahrdienst, wohl aber als Fahrkartenkontrolleurin oder Fahrerbeobachterin eingesetzt werden.

Die Beklagte lehnte die Beschäftigung ab, weil es bei ihr keine betrieblichen Stellen ohne regelmäßigen Fahrdienst gebe. Später machte die Klägerin noch geltend, auch in zahlreichen Bereichen der Verwaltung beschäftigt werden zu können. Die Beklagte lehnte ebenso eine Beschäftigung in den genannten Bereichen ab. Insbesondere gebe es bei ihr keinen Arbeitsplatz als Fahrscheinprüfer, sondern lediglich „Mischarbeitsplätze“, auf denen die Mitarbeiter je zur Hälfte als Fahrscheinprüfer und zur anderen Hälfte der Arbeitszeit als Fahrer eingesetzt würden.

Das Arbeitsgericht Elmshorn gab dem Beschäftigungsanspruch mit Teilurteil vom 12. April 2011 hinsichtlich der Beschäftigung als Fahrscheinprüferin statt. Im Übrigen sei der Beschäftigungsantrag unbegründet. Mit Schlussurteil vom 18. Januar 2012 gab das Arbeitsgericht dem Zahlungsanspruch weitestgehend statt und begründete dies mit Annahmeverzug gemäß § 615 BGB. Die Beklagte legte Berufung, die Klägerin Anschlussberufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein ein.

IV. Die Entscheidung

Die zulässigen Berufungen beider Parteien hatten keinen Erfolg.

Die Berufung der Klägerin wurde zurückgewiesen, da über den ausgeurteilten Anspruch auf Beschäftigung als Fahrscheinprüferin kein Beschäftigungsanspruch als Fahrerbeobachterin oder in der Verwaltung bestehe. Die Begründung hierfür ist einfach und plausibel: Nach den Erörterungen im Berufungstermin stand fest, dass es einen Arbeitsplatz als Fahrerbeobachterin bei der Beklagten nicht gibt. Auch eine Tätigkeit in der Verwaltung war nicht (mehr) möglich, da die Verwaltung insgesamt ausgegliedert wurde und § 81 Abs. 4 SGB IX keinen Anspruch auf Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber gewährt.

Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen, da das Arbeitsgericht zu Recht einen Beschäftigungsanspruch gemäß § 611 BGB i. V. m. § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX als Fahrscheinprüferin zuerkannt hat. Die dagegen erhobenen Einwände, nämlich dass die Umorganisation im Sinne einer Auflösung der „Mischarbeitsplätze“ nicht zumutbar sei bzw. ein Arbeitsplatz als Fahrscheinprüferin an der gesundheitlichen Eignung der Klägerin scheitere, wurden zurückgewiesen.

Auch der Zahlungsanspruch der Klägerin bestehe im Umfang der Entscheidung der ersten Instanz. Abweichend von der ersten Instanz nahm das LAG einen Schadensersatzanspruch (§ 280 Abs. 1 BGB), keinen Verzugslohnanspruch (§ 615 BGB) an.

V. Würdigung/Kritik

Der Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein ist zuzustimmen.

1. Behinderungsgerechte Beschäftigung gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX

Das Gericht hat zu Recht entschieden, dass der Beschäftigungsantrag der Klägerin hinsichtlich der Beschäftigung als Fahrscheinprüferin begründet ist. Anspruchsgrundlage ist § 611 Abs. 1 BGB i. V. m. § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX.

Das Gericht bezieht sich zunächst auf die ständige Rechtsprechung zu § 81 SGB IX, wonach der Arbeitgeber zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet ist, wenn nur dadurch eine behinderungsgerechte Beschäftigung ermöglicht werden kann. Dazu führt das Gericht aus, dass die Beklagte keine sachlichen Gründe dafür vorgetragen habe, weshalb die bei ihr beschäftigten zwölf Fahrscheinprüfer zugleich auch die Fähigkeit haben müssten, als Fahrer im Personennahverkehr eingesetzt zu werden. Das Gericht legt dar, dass eine Verzahnung beider Tätigkeiten bei der Beklagten nicht erkennbar sei und es daher rechtsmissbräuchlich erscheine, die Tauglichkeit für den Fahrdienst an die Beschäftigung als Fahrscheinprüfer zu knüpfen.

Darüber hinaus habe es sich zwar als zutreffend herausgestellt, dass bei der Beklagten sämtliche Fahrscheinprüfer auch die Befähigung für den Fahrdienst mitbringen. Es sei der Beklagten aber durchaus zuzumuten, den Betrieb so umzuorganisieren, dass auch Fahrscheinprüfer beschäftigt werden können, die nicht zum Busfahren geeignet sind. Diese Umorganisation ist keine unzumutbare Aufwendung im Sinne des § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX. Zutreffend weist das Gericht darauf hin, dass die Klägerin ohnehin nur im Umfang von 22,8 Wochenstunden beschäftigt wird, also annähernd in dem gleichen Umfang, in dem auch zum Fahrdienst geeignete Fahrscheinprüfer tatsächlich mit der Fahrscheinprüfung beschäftigt werden. Unter diesem Gesichtspunkt sei nicht erkennbar (und wurde von der Beklagten auch nicht dargelegt), weshalb die Klägerin nicht für die Fahrscheinprüfung eingesetzt werden könne. Die Beklagte sei daher verpflichtet – und entsprechend ihrem Versetzungsrecht aus § 2 des Arbeitsvertrages auch berechtigt –, die Klägerin auf einem Arbeitsplatz als Fahrscheinprüfer einzusetzen.

Der Versetzung der Klägerin standen auch keine gesundheitlichen Gründe entgegen, denn ein vom Gericht eingeholtes Sachverständigengutachten bestätigt die Tauglichkeit der Klägerin. Die gesundheitliche Eignung wurde zwar wiederholt von der Beklagten angezweifelt, dies jedoch unsubstantiiert und ausweislich des Sachverständigengutachtens auch unzutreffend.

Unter Heranziehung der Grundsätze von Treu und Glauben verwehrte das LAG der Beklagten schließlich auch, sich darauf zurückzuziehen, es fehle der Klägerin an der nötigen Qualifikation und es seien keine freien Arbeitsplätze vorhanden. Es trifft zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu, dass der Arbeitgeber zur behinderungsgerechten Beschäftigung eines Arbeitnehmers keine neuen Arbeitsplätze schaffen muss.[1] Hier lag es allerdings so, dass im Laufe des Rechtsstreits Arbeitsplätze als Fahrscheinprüfer frei wurden und die entsprechende Bewerbung der Klägerin nicht berücksichtigt wurde. Gleiches gilt für das Argument fehlender Qualifikation. Die Klägerin hatte sich erfolglos für die betriebsinterne Qualifizierungsmaßnahme beworben.

Es war hier also die Beklagte selbst, die dafür sorgte, dass es der Klägerin an der nötigen Qualifikation und an einem freien Arbeitsplatz fehlte. Nach zutreffender Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist hier der Grundgedanke des § 162 Abs. 1 BGB[2] heranzuziehen, wonach – vereinfacht und verallgemeinert ausgedrückt – eine Vertragspartei keinen Vorteil daraus ziehen darf, dass sie den Eintritt günstiger Umstände für die andere Partei treuwidrig verhindert.

2. Zahlungsanspruch

Den Zahlungsanspruch der Klägerin stützte das LAG auf § 280 Abs. 1 BGB. Die Beklagte habe eine schuldhafte Pflichtverletzung des Arbeitsvertrages zu verantworten und schulde Schadensersatz in Höhe des entgangenen Gehalts.

Das Gericht setzt sich mit der Rechtsauffassung des 9. Senats des BAG auseinander, wonach in vergleichbaren Fällen ein Vergütungsanspruch aus Annahmeverzug bestehe[3], lehnt diese Auffassung aber ab und schließt sich dem 5. Senat des BAG an, der diese Fallgestaltungen schadensersatzrechtlich löst.[4]

Der 9. Senat argumentiert damit, es liege keine Unmöglichkeit im Sinne des § 297 BGB vor, da der Arbeitgeber von seinem Direktionsrecht gemäß § 106 Satz 3 GewO in der Weise Gebrauch machen müsse, dass er auf die Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht nehme. Biete der Arbeitnehmer nun eine behinderungsgerechte Beschäftigung an und übe der Arbeitgeber sein Direktionsrecht nicht entsprechend aus, befinde er sich im Annahmeverzug.

Dem gegenüber geht der 5. Senat in solchen Fällen davon aus, dass das Angebot des Arbeitnehmers einer „leidensgerechten Arbeit“ ins Leere gehe, solange der Arbeitgeber nicht von seinem Direktionsrecht Gebrauch mache und den Inhalt der Arbeitsverpflichtung ändere. Die Konkretisierung der Arbeitspflicht sei gemäß § 106 Satz 1 GewO allein Sache des Arbeitgebers.

Das LAG folgt dem 5. Senat mit dem gut vertretbaren Argument, dass es allein dem Arbeitgeber obliege, sein Direktionsrecht auszuüben. Tut er dies nicht und kann der Arbeitnehmer die ursprünglich zugewiesene Tätigkeit nicht mehr (vollständig) ausüben, liegt kein Annahmeverzug vor, nur weil der Arbeitnehmer eine andere, aus seiner Sicht passende Tätigkeit anbietet, die aber nicht Gegenstand des konkretisierten Arbeitsvertrages ist. Vielmehr muss die Arbeitgeberin sich dann als Vertragspflichtverletzung vorwerfen lassen, dass sie ihr Direktionsrecht nicht neu ausgeübt hat.

So lag es auch hier. Die Beklagte hätte die Fortbildung der Klägerin genehmigen und die frei gewordene Stelle als Fahrscheinprüferin mit ihr besetzen müssen. Die Beklagte ist dem entsprechend zur Zahlung verurteilt worden.

Beitrag von Dr. Björn Winkler, Rechtsanwalt

Fußnoten:

[1] BAG, Urteil vom 14.03.2006, 9 AZR 411/05 = NZA 2006, 1214; NJW 2006, 3740; Urteil vom 04.10.2005, 9 AZR 632/04 = NZA 2006, 442; NJW 2006, 1691; vgl. auch Düwell in LPK SGB IX, 4. Aufl., § 81 Rn. 182.

[2] § 162 Abs. 1 BGB: „Wird der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Nachteil er gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert, so gilt die Bedingung als eingetreten.“

[3] BAG, Urteil vom 04.10.2005, 9 AZR 632/04 = NZA 2006, 442; NJW 2006, 1691.

[4] BAG, Urteil vom 19.05.2010, 5 AZR 162/09 = NZA 2010, 1119; NJW 2010, 3112.


Stichwörter:

Behinderungsgerechte Beschäftigung, Beschäftigungsanspruch, Stellenausschreibung, Schwerbehinderte Arbeitnehmer, Schadensersatz, Qualifizierung, Umorganisation, Bewerbungsverfahren


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.