04.05.2017 D: Konzepte und Politik Leonhard: Beitrag D16-2017

Studie zum Wahlrecht von Menschen mit Behinderung und Stand des Wahlprüfungsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht

Bettina Leonhard stellt in diesem Beitrag wesentliche Ergebnisse der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Auftrag gegebenen Studie zum Wahlrecht von Menschen mit Behinderung vor. Anlass für die Studie war die Kritik am Wahlrechtsausschluss für Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet ist (§ 13 Bundeswahlgesetz).

Zunächst gebe es große regionale Unterschiede bei der Anzahl von Wahlrechtsausschlüssen. Des Weiteren setze der Einsatz von Wahlassistenz ein Mindestmaß politischer Entscheidungsfähigkeit voraus. Die verfassungsrechtliche Prüfung der Wahlrechtsausschlüsse habe zwar deren Zulässigkeit ergeben, aus völkerrechtlicher Sicht werde jedoch die Erforderlichkeit einer Einzelfallprüfung im Betreuungsverfahren aufgezeigt. Die Studie spreche sich für ein Assistenzgesetz, aber keine vollständige Streichung der Ausschlüsse aus.

Abschließend nimmt die Autorin eine kritische Würdigung der Studie vor und verweist auf die am Bundesverfassungsgericht anhängige Wahlprüfungsbeschwerde.

(Zitiervorschlag: Leonhard: Studie zum Wahlrecht von Menschen mit Behinderung und Stand des Wahlprüfungsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht; Beitrag D16-2017 unter www.reha-recht.de; 04.05.2017.)


I. Streichung der Wahlrechtsausschlüsse auf Landesebene – Studie zu den Wahlrechtsausschlüssen auf Bundesebene

Mit der Verabschiedung des ersten allgemeinen Gesetzes zur Stärkung der Sozialen Inklusion in Nordrhein-Westfalen (Inklusionsstärkungsgesetz) am 08.06.2016 wurde der Wahlrechtsausschluss für Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet ist, aus dem Landes- wie dem Kommunalwahlgesetz gestrichen.[1] Kurz darauf wurden die entsprechenden Wahlrechtsausschlüsse auch im Landes- und Kommunalwahlgesetz Schleswig-Holsteins entfernt[2].

Auf Bundesebene dagegen gelten die Wahlrechtsausschlüsse des § 13 Nr. 2 bzw. 3 Bundeswahlgesetz (BWG), die regelhaft auf die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten bzw. der richterlichen Anordnung nach § 63 i. V. m. § 20 Strafgesetzbuch (StGB) folgen, weiterhin fort. Trotz der Kritik des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen,[3] der Verbände der Behindertenhilfe und vieler anderer Akteure[4] hat sich im Bundestag bis heute keine Mehrheit für eine Streichung der Wahlrechtsausschlüsse gefunden.

Auf die Kritik am Wahlrecht hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales jedoch eine Studie zum Wahlrecht beauftragt,[5] deren Ergebnisse nun vorliegen.[6]

Mit der Untersuchung der Wahlrechtsausschlüsse waren aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Prof. Dr. Gerd Strohmeiner (TU Chemnitz), aus klinisch-psychologischer Perspektive Prof. Dr. Stephan Mühlig (TU Chemnitz), aus völkerrechtlicher Perspektive Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach und aus verfassungsrechtlicher Perspektive Prof. Dr. Heinrich Lang beauftragt worden.

Ziel der Studie sollte es sein, die tatsächliche Situation von Menschen mit Behinderung bei der Ausübung des Wahlrechts zu untersuchen und aus diesen Erkenntnissen Handlungsempfehlungen für die verbesserte Partizipation für Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Dabei war zu klären, inwieweit die Anknüpfung von Wahlrechtsausschlüssen an die dauerhafte Anordnung der Betreuung in allen Angelegenheiten bzw. an die richterliche Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in praktischer und rechtlicher Hinsicht erforderlich und gerechtfertigt ist und insbesondere vor dem Hintergrund der UN-BRK gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Diesem Auftrag entsprechend ist die Studie in vier Abschnitte unterteilt, wobei im Folgenden vor allem die Untersuchungen zu den Wahlrechtsauschlüssen aufgrund einer Betreuung in allen Angelegenheiten interessieren.

II. Ergebnisse der Wahlrechtsstudie

1. Empirische Erhebungen zeigen große regionale Unterschiede bei den Wahlrechtsausschlüssen

Die von Gerd Strohmeier koordinierten statistischen Auswertungen und Erhebungen kommen zu dem Ergebnis, dass insgesamt 84.550 Menschen in Deutschland von den Wahlrechtsausschlüssen betroffen sind, wovon 81.220 auf den Wahlrechtsausschluss nach § 13 Nr. 2 BWG wegen einer Betreuung in allen Angelegenheiten entfallen. Trotz der erschreckend hohen absoluten Zahl der Wahlrechtsausschlüsse sind die Auswirkungen auf die Wahlbevölkerung gering: nur 0.14 % aller Wahlberechtigten in Deutschland dürfen demnach nicht wählen. Die Wahlrechtsauschlüsse nach § 13 Nr. 2 BWG verteilen sich allerdings nicht proportional auf alle Bundesländer: So sind – bezogen auf jeweils 100 000 Einwohner – in Bayern 203,8 und in Bremen 7,8 Wahlrechtsausschlüsse zu verzeichnen. Damit liegt die Zahl der Wahlrechtsausschlüsse aufgrund einer Betreuung in allen Angelegenheiten in Bayern 26mal so hoch wie in Bremen. Der Schwerpunkt der Wahlrechtsausschlüsse aufgrund einer Betreuung in allen Angelegenheiten liegt bei der Altersgruppe der über 70jährigen; 25 % aller Wahlrechtsausschlüsse finden sich in dieser Alterskohorte.

2. Studie setzt Entscheidungsfähigkeit für Assistenzgewährung voraus

In einem klinisch-psychologischen Abschnitt untersucht Stephan Mühlig neben einer Auflistung weltweit diskutierter bzw. implantierter Assistenzsysteme (v. a. für Menschen mit körperlichen und sensorischen Behinderungen) die Voraussetzungen und Grenzen von Wahlassistenz. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Wahlassistenz eine ausreichende Entscheidungsfähigkeit einer Person voraussetzt. Assistenz könne nur die praktische Unterstützung bei einer bereits selbständig getroffenen Wahlentscheidung sein. Werde die Wahlentscheidung dagegen durch eine andere Person getroffen, handele es sich nicht mehr um eine Wahlassistenz, sondern um eine „rechtswidrige Stellvertreterwahl“[7]. Eine grundlegende politische Entscheidungsfähigkeit sei damit Voraussetzung für die Wahlassistenzfähigkeit. Fehle sie, sei auch eine Wahlentscheidung und damit die Teilnahme an der Wahl nicht möglich. Die Entscheidungskompetenz könne aber nur individuell und kontextbezogen festgestellt werden. Für die Fallgruppe des § 12 Abs. 2 BWG (Wahlrechtsausschluss wegen Betreuung in allen Angelegenheiten) konstatiert Mühlig einen erheblichen Assistenzbedarf. Gleichzeitig wird damit aber auch festgestellt, dass trotz einer Betreuung in allen Angelegenheiten eine nicht ganz geringe Zahl dieser Menschen eine eigene Wahlentscheidung treffen könne, also entscheidungsfähig sei. Mühlig merkt an, dass ein Missbrauch von Assistenz, insbesondere potentielle Wahlmanipulationen, nicht vollständig auszuschließen sei.

3. Völkerrechtliche Überprüfung der Wahlrechtsausschlüsse: Einzelfallprüfung erforderlich

Kirsten Schmalenbach nimmt im völkerrechtlichen Teil der Studie Art. 29 UN-BRK in den Blick. Art. 29 schütze den freien Wählerwillen, setze aber damit auch das Vorhandensein von kognitiven Fähigkeiten voraus, die notwendig seien, um eine freie Wahlentscheidung – ggf. unter Zuhilfenahme von Assistenz – zu treffen. Wem danach die kognitive Fähigkeit fehle, sich für oder gegen Assistenz zu entscheiden, dem dürfe Assistenz nicht verordnet werden. Der Staat müsse nach Art. 29 lit. a sogar Vorkehrungen treffen, um eine Pseudoassistenz – die eine verkappte Stellvertretung sei – auszuschließen.

Anders als der UN-Fachausschuss zur Behindertenrechtskonvention (BRK) kommt Kirsten Schmalenbach zu dem Schluss, dass Wahlrechtsausschlüsse unter bestimmten Umständen zulässig seien. Sie stützt sich dabei auf die Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR).[8]

Allerdings seien schablonenhafte Kategorisierungen und Automatismen, die der Diversität von Menschen mit Behinderungen und deren Entwicklungspotential bei entsprechender Unterstützung und Assistenz keinen Raum einräumten, unzulässig. Daher sei die gesetzliche Vermutung des § 13 Nr. 2 BWG, wonach Personen mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten nicht wahlfähig seien, nicht haltbar. Erforderlich sei eine einzelfallbezogene richterliche Entscheidung im Betreuungsverfahren, dass der oder die Betroffene aufgrund Art und Schwere der Behinderung nicht assistenzfähig sei, weil er oder sie auch mit allen verfügbaren menschlichen, technischen und medizinischen Hilfsmitteln keinen eigenen Willen kommunizieren könne. Ein derartiges Verfahren sei mit Art. 29a BRK vereinbar. Bei einer solchen Einzelfallprüfung handele es sich auch nicht um eine diskriminierende Wahlfähigkeitsprüfung („Wahl-TÜV“), da nur die Grenze der Assistenzfähigkeit bei der Wahlteilnahme beurteilt werde.

Abschließend räumt die Verfasserin ein, dass die Tendenz in der internationalen Entwicklung hin zu einem Verbot der Wahlrechtsausschlüsse gehe: so hätten sich sowohl der UN-Menschenrechtsrat[9] als auch der Ministerrat des Europarats[10] in den letzten Jahren gegen jegliche Einschränkung des Wahlrechts ausgesprochen.

4. Wahlrechtsausschlüsse werden verfassungsrechtlich für zulässig erklärt

Der Autor des verfassungsrechtlichen Teils der Studie, Heinrich Lang, sieht die Wahlrechtsausschlüsse als verfassungsgemäß an.

Zwar zitiert er zunächst das Bundesverfassungsgericht mit seiner Aussage, das Wahlrecht sei das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat,[11] kommt dann aber ausgehend von der Sicherungsfunktion der Wahlrechtsgrundsätze zu dem Schluss, die Kommunikationsfunktion der Wahl setze eine Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen voraus. Die Teilnahme an der Wahl sei bei Entscheidungsunfähigkeit ausgeschlossen, weil die Wahlentscheidung in solchen Fällen nicht – wie vom demokratischen Prinzip und dem Sinn der Wahl vorausgesetzt – als Akt demokratischer Selbstbestimmung gesehen werden könne.

Der Wahlausschluss verstoße auch nicht gegen das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG). Die Regelung des § 13 Nr. 2 BWG beruhe auf der Vermutung, dass Fähigkeiten fehlten, sie bezwecke die Funktionsfähigkeit der Wahl, aber bewirke keine mittelbare und verfassungswidrige Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Die Garantie des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verhindere nicht jede Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen, auch wenn dabei ein strenger Maßstab anzulegen sei.

5. Feststellung der Entscheidungsunfähigkeit im Betreuungsrecht?

Im Anwendungsbereich des § 1896 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) werde die Entscheidungsunfähigkeit umfassend festgestellt. Im Betreuungsrecht setze die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten voraus, dass der Betroffene keine seiner eigenen Angelegenheiten selbst regeln könne. Hieraus könne auch auf die Entscheidungsunfähigkeit in Wahlangelegenheiten geschlossen werden. Die Entscheidungsunfähigkeit sei damit ein zwingender Grund, der eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung und damit einen Wahlrechtsausschluss rechtfertige.

Diese Benachteiligung sei durch die BRK nicht ausgeschlossen. Zwar seien völkerrechtliche Regelungen bei der Auslegung des deutschen Rechts und auch des Verfassungsrechts zu beachten. Der Gesetzgeber sei aber nicht verpflichtet, Regelungen zu treffen, die mit dem demokratischen System des GG unvereinbar seien. Dies aber wäre bei einer Teilnahme von Entscheidungsunfähigen der Fall. Ihnen fehlten Fähigkeiten, die für die Wahrnehmung des Wahlrechts unerlässlich seien. Der Gesetzgeber habe das Recht, typisierend Personen auszuschließen, bei denen die fehlende Einsicht sicher feststehe. Auch eine Assistenz sei bei Wahlunfähigkeit ausgeschlossen.

Dabei sei es unerheblich, dass gleich beeinträchtigte Personen, für die wegen einer bestehenden Vorsorgevollmacht keine Betreuung in allen Angelegenheiten bestellt sei, nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen seien. Bei ihnen sei eben nicht durch gerichtliche Einzelfallentscheidung festgestellt, dass eine Entscheidungsunfähigkeit vorliege. Gleiches gelte für Personen, für die trotz starker Beeinträchtigung keine Betreuung in allen Angelegenheiten bestellt werde, weil sie etwa Unterstützung durch andere Hilfen außerhalb des Betreuungsrechts bekämen. Auch diese Differenzierung sei nicht willkürlich, weil sie der betreuungsrechtlichen Erforderlichkeitslogik unterliege und sich innerhalb der gesetzgeberischen Typisierungsbefugnis bewege. Auch werde damit die Zahl der Wahlausschlüsse gering gehalten und niemand von der Wahl ausgeschlossen, bei dem die fehlende Einsicht nicht sicher feststehe.

6. Studie spricht sich für Assistenzgesetz aus

In einem eigenen Abschnitt beschäftigt sich die Studie mit der Notwendigkeit von Assistenz. Nur wenn die Beeinträchtigung nicht durch Unterstützung (Assistenz) ausgeglichen werden könne, käme ein Rechteentzug in Betracht. Assistenz diene der Selbstbestimmung, die sie wahren und ermöglichen solle. Daher sei zu erwägen, in einem eigenen Assistenzgesetz die Voraussetzungen und Grenzen (Strafbarkeit von Wahlmanipulationen) von Unterstützungshandlungen bei der Wahl zu regeln. Dabei müssten auch zulässige Unterstützungsmaßnahmen von unzulässiger Fremdbestimmung abgegrenzt werden. Bei einer festgestellten Entscheidungsunfähigkeit sei Assistenz ausgeschlossen.

7. Empfehlungen an den Gesetzgeber: keine vollständige Streichung der Wahlrechtsausschlüsse

Eine vollständige Streichung des Wahlrechtsausschlusses nach § 13 Nr. 2 BWG empfiehlt die Studie nicht. Sollte sich der Gesetzgeber dazu entschließen, sollte zumindest kompensatorisch ein Assistenzgesetz geschaffen werden, das die Grenzen der Assistenz – keine Assistenz bei Entscheidungsunfähigkeit, Strafbarkeit von Missbrauch – aufzeige.

Von einer eigenständigen Prüfung der Wahlfähigkeit raten die Autoren der Studie ab. Der Inhalt einer solchen Prüfung sei unklar, demokratietheoretisch sei sie bedenklich und zudem als Wahl-TÜV auch besonders diskriminierend.

Möglich wäre aber eine richterliche Feststellung im Rahmen des Betreuungsverfahrens, dass ein in allen Angelegenheiten Betreuter nicht assistenzfähig sei. Damit wäre die Feststellung verbunden, dass der Betroffene entscheidungsunfähig und ohne Wahlrechtsentzug eine Assistenz zu einer bloßen Stellvertretung führen würde.

Außerdem wäre es de lege ferenda möglich, die jetzige Verpflichtung, im Falle einer Betreuerbestellung in allen Angelegenheiten das zuständige Wahlamt davon in Kenntnis zu setzen, in das Ermessen des Betreuungsgerichts zu legen und ihm damit die Option zu geben, auf das Auslösen des Wahlrechtsentzugs zu verzichten.

III. Einschätzung der Studie

Die immerhin 322 Seiten starke Studie ist auf den ersten Blick enttäuschend, wenn man sich von ihr Argumente für eine Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse erhofft hatte: Zwar tritt sie durchaus dafür ein, Wahlrechtsausschlüsse nicht regelhaft auf die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten folgen zu lassen, doch spricht sie sich stattdessen v. a. für Einzelfallprüfungen im Rahmen der betreuungsrechtlichen Anhörung aus. Ein Mehr an Wahlassistenz wird zwar eingefordert, aber soll nur den Menschen zur Verfügung stehen, die entscheidungsfähig sind.

Die Studie liefert jedoch durchaus Anhaltspunkte für eine andere Bewertung der Wahlrechtsausschlüsse.

1. Wahlrecht darf nicht von Fähigkeiten abhängig gemacht werden

Die zentrale These der Studie, das Vorhandensein einer Entscheidungs- bzw. Wahlfähigkeit sei Voraussetzung für das Wahlrecht, ist nicht überzeugend. Das deutsche Recht kennt keine Wahlpflicht: wer nicht fähig ist, sein Wahlrecht auszuüben, der lässt es ruhen und gibt keine Wahlentscheidung ab. Gerade aufgrund der auch in der Studie betonten Bedeutung des Wahlrechts als vornehmstem Recht des Staatsbürgers darf es keine Ausschlüsse aufgrund vermeintlich fehlender Fähigkeiten geben. Kein anderes Grundrecht setzt das Vorhandensein von Fähigkeiten voraus. Auch Art. 29 BRK fordert deutlich, dass das Wahlrecht allen Menschen zustehen muss.

Weiter werden vor allem im verfassungsrechtlichen Teil der Studie Behauptungen aufgestellt, deren Nachweis nicht erbracht wird. Dies gilt für die Feststellung, die Kommunikationsfunktion der Wahl setze die Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen voraus ebenso wie für die Gleichsetzung von Betreuungsbedarf und Entscheidungsunfähigkeit.

2. Entzug des Wahlrechts ist Anachronismus im Betreuungsrecht

Bei der Ermittlung des Betreuungsbedarfs fragt § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB danach, inwiefern ein Volljähriger aufgrund einer Krankheit oder Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Es geht also nicht (nur) um eigenverantwortliche Entscheidungen. Ansonsten könnte im Übrigen bei einer körperlichen Behinderung keine Betreuung bestellt werden; hier sind die intellektuellen Fähigkeiten nicht eingeschränkt. Es geht also um ein Unvermögen, das verschiedene Ursachen haben kann. Außerdem muss das Unvermögen, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, unterschieden werden von der Geschäftsunfähigkeit, die nach § 104 Nr. 2 BGB nur dann vorliegt, wenn die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Geschäftsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit werden durch die Betreuung eben nicht tangiert. Dies bestätigt auch der empirische Teil der Studie, in dem festgestellt wird, viele Menschen mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten könnten mit Assistenz wählen. Der automatische Verlust des Wahlrechts bei möglicherweise weiterhin bestehender Geschäftsfähigkeit ist absurd und zeigt, dass die Wahlrechtsausschlüsse ein Relikt aus der Zeit des Vormundschaftsrechts sind.

3. Entzug des Wahlrechts ist stark von Zufälligkeiten bestimmt

Argumente für eine Streichung der Wahlrechtsausschlüsse liefert die Studie mit ihren empirischen Erhebungen: Die enormen regionalen Unterschiede in der Verteilung der Wahlrechtsausschlüsse verdeutlichen die sehr unterschiedliche Anwendung des Betreuungsrechts. Sie zeigen auch, dass eine dauerhafte Betreuung in allen Angelegenheiten nicht zwangsläufig assoziiert ist mit besonders hoher Beeinträchtigung und auch der Wahlrechtsausschluss nicht immer automatisch erfolgt: Trotz dauerhafter Betreuung in allen Angelegenheiten erhielt nämlich ein erheblicher Teil der Betreuten weiterhin die Wahlbenachrichtigungen. Weiterhin erhält das Instrument der Vorsorgevollmachten einem Teil der älteren Bürger das Wahlrecht, während der gleich betroffene Teil der Bürger mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten nicht wählen darf.

Ob Menschen mit Behinderungen ihr Wahlrecht behalten oder nicht, ist also durchaus von Zufälligkeiten und äußeren Gegebenheiten abhängig. Dass diese Faktoren über den Entzug eines Grundrechts – des Wahlrechts – entscheiden, erscheint aber nicht vertretbar.

4. Entscheidung über anhängige Wahlprüfungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ist mit den Verbänden der Behindertenhilfe und vielen anderen Akteuren[12] der Meinung, dass die Wahlrechtsausschlüsse des § 13 Nr. 2 BWG verfassungs- und völkerrechtswidrig sind,[13] weil sie gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 GG verstoßen und Menschen mit Behinderung diskriminieren.

Daher unterstützt die Bundesvereinigung Lebenshilfe eine Gruppe von Menschen mit Behinderung, die bei der Bundestagswahl 2013 nicht wählen durften. Die Betroffenen haben eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, um den Ausschlusstatbestand für nichtig erklären zu lassen[14].

Nach Erscheinen der Wahlrechtsstudie forderte das Bundesverfassungsgericht u. a. den Bundestag, den Bundesrat, das Bundeskanzleramt, die im Bundestag vertretenen politischen Parteien und das Deutsche Institut für Menschenrechte auf, zum Inhalt der Studie Stellung zu nehmen. Nachdem die Frist für die Stellungnahmen abgelaufen ist, werden nun die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführer ihre Stellungnahmen abgeben. Mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist wegen des nahenden Endes der Legislaturperiode im Frühjahr oder Sommer 2017 zu rechnen.

Beitrag von Dr. Bettina Leonhard

 


Fußnoten:

[1] Neufassung § 2 Landeswahlgesetz sowie § 8 Kommunalwahlgesetz durch Art. 6 Nr. 1a des Ersten allgemeinen Gesetzes zur Stärkung der Sozialen Inklusion in Nordrhein-Westfalen vom 08.06.2016, NRW GVBl. 2016 Nr. 19, S. 442.

[2] Neufassung § 7 Landeswahlgesetz bzw. § 4 Kommunalwahlgesetz durch Art. 1 Nr. 3 bzw. Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 14.06.2016, SH GVBl. 2016 Nr. 9, S. 362.

[3] Anlässlich der Staatenprüfung, vgl. dazu auch RdLh 2/2015, S. 58 f.

[4] Vgl. stellvertretend für viele die Stellungnahme des Betreuungsgerichtstags vom 21.04.2015, zuvor schon die Initiative der Fachverbände „Wahlrecht für alle“ unter http://lebenshilfe.de sowie die Schrift des Instituts für Menschenrechte zum Wahlrecht unter http://institut-fuer-menschenrechte.de.

[5] Dazu auch schon RdLh 4/2015, S. 173 f.

[6] http://www.bmas.de hier: Forschungsbericht 470 Wahlrecht.

[7] Forschungsbericht 470 Wahlrecht, Abschnitt 2.7.1.1., S. 114.

[8] Menschenrechtsausschuss (IPBPR) Addendum General Comment No. 25 (57), UN-Doc CCPR/C21/Rev.1/Add.7 (1996) vom 27. August 1996, zu weiteren Hinweisen vgl. Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen, Abschnitt 3 3.1.4.4., S. 152.

[9] Resolution 9/11 vom 23.04.2012, UN-Doc A/HRC/RES/19/11.

[10] Empfehlung CM/REC (2011) 14 vom 16.11.2011.

[11] BVerfGE 1, 14, 33.

[12] Vgl. stellvertretend für viele jüngst die Stellungnahme des Betreuungsgerichtstags vom 21.04.2015, zuvor schon die Initiative der Fachverbände „Wahlrecht für alle“ unter http://lebenshilfe.de sowie die Schrift des Instituts für Menschenrechte zum Wahlrecht unter http://institut-fuer-menschenrechte.de.

[13] Vgl. dazu auch Hellmann, in: RdLh 1/2012, S. 4 ff.

[14] Az. 2 BvC 62/14.


Stichwörter:

Wahlrecht, Wahlrechtsausschluss, Wahlberechtigung, Ausschluss von einer Wahl, Betreuungsrecht, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)


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