02.09.2016 D: Konzepte und Politik Sprenger: Beitrag D34-2016

Absage wegen Behinderung? – Ein Feldexperiment zum Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen im Bewerbungsprozess

Die Autorin Linda Sprenger stellt ein Feldexperiment zum Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen im Bewerbungsprozess vor. Ziel des Experiments war die Untersuchung möglicher Diskriminierung in Bewerbungsprozessen in Deutschland. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit sich der Hinweis auf das Vorliegen einer Behinderung nachteilig im Auswahlverfahren auswirkt.

Der Untersuchung liegen gegenüberstellend je zwei Bewerbungen von Studentinnen mit vergleichbaren Qualifikationen sowie vergleichbarem Anschreiben und Foto an 76 Unternehmen zugrunde, wobei eine der beiden Bewerberinnen ihre Sehbehinderung im Anschreiben erwähnt und eine nicht.

(Zitiervorschlag: Sprenger: Absage wegen Behinderung? – Ein Feldexperiment zum Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen im Bewerbungsprozess; Beitrag D34-2016 unter www.reha-recht.de; 02.09.2016)

 


I. Hintergrund und Zielsetzung

Menschen mit Behinderungen sind rund doppelt so häufig und wesentlich länger erwerbslos als Menschen ohne Behinderungen (Bundesagentur für Arbeit, 2015). Mangelnde Teilhabe an der Arbeitswelt kann die Beeinträchtigung sozialer Teilhabe zur Folge haben (Paul & Batinic, 2010). Der Zugang und der Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit sind daher maßgebliche Ziele, sowohl der medizinischen als auch der beruflichen Rehabilitation. Eine von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden häufig gestellte Frage ist, ob und in welcher Form sie im Bewerbungsprozess auf ihre Behinderung hinweisen sollten.

Die Diskriminierung von Bewerber*innen mit Behinderungen wurde bereits in Großbritannien (Fry et al., 1986; Graham et al., 1990), Frankreich (Ravaud et al., 1992), den Niederlanden (Gras et al., 1996) und China (Pearson et al., 2003) getestet.

Ziel des durchgeführten Feldexperiments ist die Untersuchung möglicher Diskriminierung im Bewerbungsprozess in Deutschland. Die Ergebnisse können Anregungen für Forschungs- und Handlungsbedarf in einem wenig untersuchten Feld der Rehabilitationswissenschaften geben.

II. Methode

Um mögliche Diskriminierung im Bewerbungsprozess zu untersuchen, wurde die Methode des correspondence testing gewählt. Das Grundkonzept des correspondence testing besteht darin, einem Unternehmen jeweils eine Bewerbung von zwei fiktiven Personen zu senden, deren Qualifikationen identisch sind. Der einzige Unterschied der Bewerber*innen besteht darin, dass eine/einer der beiden einer vermeintlich benachteiligten Personengruppe angehört.

In diesem Rahmen wurden im Sommer 2010 Praktikumsbewerbungen von jeweils zwei Studentinnen mit vergleichbaren Qualifikationen, vergleichbarem Bewerbungsanschreiben und vergleichbarem Foto an 76 Unternehmen der Personalberatung geschickt. Sie unterschieden sich lediglich darin, dass eine der beiden Bewerberinnen ihre Sehbehinderung im Anschreiben erwähnt.[1] Sie verdeutlicht darin jedoch auch, dass sie ihre Hilfsmittel, mit denen sie Texte und ähnliches lesen kann, zum Praktikum mitbringen würde und ihre Beschäftigung daher keinen organisatorischen Mehraufwand für das Unternehmen bedeuten würde.

Das Verhalten gegenüber der behinderten im Vergleich zu der nicht-behinderten Bewerberin wird auf Personenebene und auf Unternehmensebene betrachtet, woraus sich die folgenden Hypothesen ergeben:

H1 (Personenebene):

Die behinderte Bewerberin erhält weniger positive Reaktionen als die nicht-behinderte Bewerberin.

H0 (Personenebene):

Die beiden Bewerberinnen erhalten gleich viele positive Reaktionen oder die behinderte Bewerberin erhält mehr positive Reaktionen.

H1 (Unternehmensebene):

Die behinderte Bewerberin wird gegenüber der nicht-behinderten Bewerberin benachteiligt.

H0 (Unternehmensebene):

Die beiden Bewerberinnen werden von den Unternehmen gleichbehandelt oder die behinderte Bewerberin wird bevorzugt.

Die Rückmeldungen auf die Bewerbungen werden in positive und negative Reaktionen unterteilt. Als positive Reaktion zählt jedes Verhalten eines Unternehmens, welches Interesse bekundet, mehr über die Person zu erfahren. So zählt neben der direkten Einladung zu einem Vorstellungsgespräch auch die Frage nach Zeugnissen oder Zeitraumveränderungen und die Bitte um einen Rückruf dazu (Goldberg et al., 1995). Neben direkten Absagen wird auch das Nicht-Reagieren auf eine der beiden Bewerbungen als negative Reaktion gezählt. Es verdeutlicht, ähnlich wie eine Absage, dass die Bewerberin für das Unternehmen nicht interessant ist und es nicht zu einem weitergehenden Bewerbungsprozess kommt.

Die Unternehmen, die auf beide Bewerbungen nicht reagieren, gelten als ungültig und fließen in keine der Berechnungen ein. Da sie keinerlei Reaktion gezeigt haben, scheint es nicht plausibel, dieses Verhalten als Gleichbehandlung zu bewerten. Der Methode der International Labour Organisation (ILO) folgend (Bovenkerk, 1992), werden auch die Unternehmen, die gegenüber beiden Bewerberinnen eine negative Reaktion gezeigt haben, als ungültige Fälle behandelt und fließen nicht in die Untersuchung mit ein. Da in dem durchgeführten Feldexperiment mit Initiativbewerbungen gearbeitet wurde, ist es wahrscheinlich, dass ein Unternehmen kein Interesse an dem Profil der Bewerberinnen hat und daher keine der beiden kontaktiert. Ebenso werden die Unternehmen, die gegenüber einer Bewerberin eine negative und gegenüber der anderen keine Reaktion gezeigt haben, in der Nettostichprobe nicht berücksichtigt.[2]

Die vier möglichen Ausgänge jedes Paars von Bewerbungen sind folgende:

  • Beide erhalten eine positive Reaktion.
  • Nur die nicht-behinderte Bewerberin erhält eine positive Reaktion und die behinderte Bewerberin erhält eine negative oder gar keine Reaktion.
  • Nur die behinderte Bewerberin erhält eine positive Reaktion und die nicht-behinderte Bewerberin erhält eine negative oder gar keine Reaktion.
  • Beide erhalten eine negative oder gar keine Reaktion oder jeweils eine erhält eine negative und die andere gar keine Reaktion. (ungültige Fälle)

Diskriminierung gegenüber der behinderten Bewerberin auf Personenebene existiert, wenn die nicht-behinderte Bewerberin mehr positive Reaktionen erhält als die behinderte Bewerberin.

Diskriminierung auf Unternehmensebene liegt vor, wenn ein Unternehmen die beiden Bewerberinnen unterschiedlich behandelt, wenn also eine der beiden Bewerberinnen eine positive Reaktion, die andere jedoch eine Absage oder gar keine Reaktion erhält.

III. Ergebnisse

Von den 76 angeschriebenen Unternehmen haben 32 auf mindestens eine der beiden Bewerberinnen positiv reagiert und bilden damit die Nettostichprobe.

Auf Personenebene betrachtet, hat die nicht-behinderte Bewerberin 30 positive Reaktionen und lediglich zwei negative Reaktionen erhalten. Die behinderte Bewerberin hingegen hat 13 positive und 19 negative Reaktionen erhalten.

(Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle veranschaulicht im Fachbeitrag ein Säulendiagramm die Reaktionen auf Personenebene, vgl. zugehörige PDF-Datei)

Unter den beiden Bewerberinnen ergibt sich daraus das Chancenverhältnis (odds ratio) von 22,1. Dies bedeutet, dass die Chance der nicht-behinderten Bewerberin, eine positive Reaktion zu erhalten, 22,1 Mal höher ist als die Chance der behinderten Bewerberin. Anders ausgedrückt verringerte das Erwähnen der Behinderung in der untersuchten Stichprobe die Chance, eine positive Reaktion zu erhalten um mehr als 95%. Der Chi-Quadrat-Test ist bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% signifikant (p=0.00; X²=20,1).

Von den 32 Unternehmen der Nettostichprobe haben 11 Unternehmen (34,4%) sowohl auf die behinderte als auch die nicht-behinderte Bewerberin positiv reagiert. 19 Unternehmen (59,4%) haben ausschließlich die nicht-behinderte Bewerberin mit einer positiven Rückmeldung kontaktiert und zwei Unternehmen (6,2%) ausschließlich die behinderte Bewerberin.

(Anmerkung der Redaktion: Im Fachbeitrag veranschaulicht ein Kreisdiagramm dieses Ergebnis, vgl. zugehörige PDF-Datei)                     

Daraus ergibt sich nach der Methode der ILO (Bovenkerk, 1992) eine net discrimination rate[3] von 53,1%. Unter Berücksichtigung des dabei zu Grunde zu legenden minimum index of discrimination ist die Benachteiligung gegenüber der behinderten Bewerberin innerhalb der untersuchten Stichprobe auf Unternehmensebene signifikant (Angel de Prada et al., 1996).

IV. Diskussion

In dem vorliegenden Feldexperiment wurde sowohl auf Personen- als auch auf Unternehmensebene Diskriminierung gegenüber der behinderten Bewerberin festgestellt. Beide Hypothesen haben sich empirisch bewährt.

H1 (Personenebene):Die Chance auf eine positive Reaktion der behinderten Bewerberin ist geringer als die der Bewerberin ohne Behinderung.

H1 (Unternehmensebene): Rund 60% der Unternehmen zeigen nur gegenüber der nicht-behinderten Bewerberin eine positive Reaktion.

Inwieweit diese Ergebnisse auf andere Bewerbungssituationen übertragbar sind, sollte in weiteren Untersuchungen überprüft werden. Dies würde es zudem ermöglichen, nach Branchen, Unternehmensstrukturen, Regionen, verschiedenen Arten der Behinderung und weiterer potentieller Einflussfaktoren zu differenzieren. Die Situation der Bewerbung um eine Festanstellung ist dabei gesondert zu betrachten, da hinsichtlich der Beschäftigungspflicht und (monetärer) Anreize für ArbeitgeberInnen andere Ergebnisse zu erwarten sein könnten. In diesem Zusammenhang sollten zudem die Hintergründe und Gründe des Verhaltens von Arbeitgeber*innen und Entscheidungsträger*innen in Unternehmen dezidiert untersucht werden. Daraus könnten Handlungsstrategien entwickelt und langfristig zur Verringerung der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen im Bewerbungsprozess beigetragen werden.

Literatur

Angel de Prada, M.; Actis, W.; Pereda, C.; Pérez Molina, R. (1996): Labour market discrimination against migrant workers in Spain. International Migration Papers 9. International Labour Office: Geneva.

Bovenkerk, F. (1992): Testing discrimination in natural experiments: A manual for international comparative research on discrimination on the grounds of “race” and ethnic origin. International Labour Office: Geneva.

Bovenkerk, F.; Gras, M.; Groter, K.; Kruiswijk, P.; Ramsoedh, D. (1996): En schijn van kans. Twee empirische onderzoekingen naar discriminatie op grond van handicap en etnische afkomst. Gouda Quint: Deventer.

Bundesagentur für Arbeit (2015): Der Arbeitsmarkt in Deutschland - Die Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Menschen.

Fry, E. (1986): An equal chance for disabled people? The Spastics Society: London.

Goldberg, A.; Mourinho, D.; Kulke, U. (1995): Arbeitsmarkt-Diskriminierung gegenüber ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland. International Migration Papers 7. International Labour Office: Geneva.

Graham, P; Jordan, A.; Lamp, B. (1990): An equal chance? A study of discrimination against disabled people in the labour market. The Spastics Society: London.

Paul, K. I.; Batinic, B. (2010): The need for work: Jahoda‘s manifest and latent functions of employment in a representative sample of the German population. Journal of Organizational Behavior, 31, 45–64.

Pearson, V.; Ip, F.; Hui, H; Yip, N.; Ho, K. K.; Lo, E. (2003): To tell or not to tell? Disability Disclosure and Job Application Outcomes. The Journal of Rehabilitation, 69 (4), 35–38.

Ravaud, J.-F.; Madiot, B.; Ville, I. (1992): Discrimination towards disabled people seeking employment. Social Science & Medicine, 35, 951–958.

Sprenger, L. (2011): Behindertenabwertung und Diskriminierung oder Akzeptanz und Gleichbehandlung? Eine empirische Untersuchung zu Einstellungen und Verhalten gegenüber Behinderten. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Philipps-Universität Marburg im Fach Soziologie.

Beitrag von Linda Sprenger, Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln

Fußnoten:

[1] Um Effekte des Anschreibens und des Fotos auf die Reaktionen auszuschließen, wurden insgesamt vier Bewerbungsversionen erstellt und unter den Bewerberinnen variiert. Durch validity checks (Goldberg et al., 1995) wurde die Unabhängigkeit der Reaktionen von den Designs nachgewiesen.

[2] Da das Nicht-Reagieren auf eine der beiden Bewerberinnen als negative Reaktion gewertet wird, sind diese Fälle als zwei negative Reaktionen zu behandeln und stellen damit ungültige Fälle dar.

[3] Die net discrimination rate ist ein Maß, um die Diskriminierung innerhalb eines correspondence tests objektiv und vergleichbar erfassen zu können. Sie ist abhängig von der Stichprobengröße und berücksichtigt in der Berechnung zudem die Möglichkeit, dass Entscheidungen auch durch andere, nicht zu kontrollierende Faktoren, beeinflusst sein können.


Stichwörter:

Auswahlverfahren, Benachteiligung wegen Behinderung, Bewerbung, Diskriminierung bei Einstellung, diskriminierungsfreies Auswahlverfahren, Kenntnis Arbeitgeber Schwerbehinderung, Mitteilung der Schwerbehinderung, Schwerbehinderte Bewerber, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Berufliche Rehabilitation, Berufliche Teilhabe


Kommentare (1)

  1. Jürgen Wintjen
    Jürgen Wintjen 16.09.2016
    Vorab kurz zu meiner Person - ich bin Vertrauensperson für schwerbeh. Menschen in der Bundesagentur für Arbeit auf örtlicher, Landes- und Bundesebene.
    Interessant dürfte die Entwicklung im öffentlichen Dienst sein, kann man doch davon ausgehen, dass in den nächsten 4 bis 8 Jahren 40% der gleichgestellten und schwerbehinderten Menschen altersbedingt ausscheiden.

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