05.04.2024 E: Recht der Dienste und Einrichtungen Boysen, Carstens: Beitrag E6-2024

Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil VI: Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen sowie Resümee

Die Autoren widmen sich in dieser Beitragsreihe der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung und setzen sich in sechs Teilen mit der Bedeutung digitaler Teilhabe, mit den rechtlichen Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen sowie den digitalen Barrierefreiheitsanforderungen außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen auseinander.

In diesem abschließenden Teil der Beitragsreihe befassen sich die Autoren mit den rechtlichen Verpflichtungen und den Standards zur Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen. Im Resümee folgt ein Blick auf den vorhandenen Reformbedarf und die Notwendigkeit, die vorhandenen Regelungen besser umzusetzen.

(Zitiervorschlag: Boysen, Carstens: Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil VI: Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen sowie Resümee; Beitrag E6-2024 unter www.reha-recht.de; 05.04.2024)

I. Einleitung

Diese Beitragsreihe widmet sich der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und den hierzu geltenden rechtlichen Anforderungen. Nachdem in Beitragsteil I aufgezeigt wurde, was digitale Barrierefreiheit bedeutet, folgte eine Übersicht zu den Barrierefreiheitsanforderungen für Websites und mobile Anwendungen (Beitragsteil II) und den Maßnahmen zur Sicherstellung dieser Vorgaben (Beitragsteil III).

Auf die Befassung mit den Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen (Beitragsteil IV) folgte eine Übersicht zu den rechtlichen Verpflichtungen und den Standards zur Barrierefreiheit von elektronischen Akten und Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung (Beitragsteil V).

In diesem abschließenden sechsten Beitragsteil wird die Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen in den Blick genommen und schließlich ein Ausblick auf die verbleibenden Herausforderungen der digitalen Barrierefreiheit gegeben.

II. Rechtliche Verpflichtungen zur Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen

Elektronische Dokumente und elektronische Formulare – zumal im Format PDF - sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Umso wichtiger ist es, sie generell und von vornherein barrierefrei zu gestalten. Dies gebietet auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).[1] Eine rechtliche Verpflichtung hierzu ergibt sich aus ganz unterschiedlichen Rechtsvorschriften.[2]

1. Websites und barrierefreie Dokumente

Für die öffentlichen Stellen von Bund, Ländern und Kommunen ergibt sich aus § 12a Abs. 1 Satz 1 BGG (und den Parallelvorschriften im Landesrecht)[3] die Verpflichtung ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten.[4] Hierzu gehört auch die Verpflichtung zur Barrierefreiheit der elektronischen Dokumente und Formulare, die als Teil der Website oder mobilen Anwendung eingebunden sind oder zum Download angeboten werden (so ausdrücklich § 2a Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 3 BITV 2.0). Soweit im Landesrecht einige Bundesländer Ausnahmen von der generellen Verpflichtung zur Barrierefreiheit aus Art. 1 Abs. 4 der RL (EU) 2016/2102 übernommen haben,[5] ist zu beachten, dass die Ausnahmen durch die Richtlinie ihrerseits begrenzt werden. Nach Art. 1 Abs. 4 Buchstabe a) RL (EU) 2016/2102 müssen elektronische Dokumente, die nach dem 22. Juni 2021 veröffentlicht wurden,[6] stets barrierefrei sein. Das Gleiche gilt für elektronische Dokumente, die für aktive Verwaltungsverfahren der von der öffentlichen Stelle zu erledigenden Aufgaben erforderlich sind. Der Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1524 vom 11. Oktober 2018[7] belegt die Wichtigkeit dieser Verpflichtung. Darin ist festgehalten, dass bei allen eingehenden Überprüfungen durch die Überwachungsstellen von Bund und Ländern von Websites und mobilen Anwendungen für jede Art von dort bereit gestelltem Dienst, soweit vorhanden, mindestens ein elektronisches Dokument auf Barrierefreiheit zu prüfen ist.[8]

2. Elektronische Akten und barrierefreie Dokumente

Die öffentlichen Stellen des Bundes werden durch § 12a Abs. 1 Satz 2 BGG verpflichtet, elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe einschließlich der Verfahren zur elektronischen Aktenführung und zur elektronischen Vorgangsbearbeitung barrierefrei zu gestalten.[9] Hierzu gehört auch die Verpflichtung, elektronische Dokumente, die in diesem Rahmen erstellt oder verwendet werden, barrierefrei zu gestalten (siehe § 2a Abs. 3 Satz 3 sowie Abs. 4 und Abs. 5 BITV 2.0). Inhaltsgleiche Verpflichtungen ergeben sich für die öffentlichen Stellen der Länder und Kommunen beispielsweise aus § 9a Abs. 1 Satz 2 Niedersächsisches Behindertengleichstellungsgesetz (NBGG) für Niedersachsen, § 4 Abs. 1 Satz 2 BIKTG Bln für Berlin, § 13 Abs. 1 Satz 5 BremBGG für Bremen und § 12a Abs. 1 Satz 2 SaarlBGG für das Saarland. Der europäische Standard EN 301 549 (V3.2.1) vom März 2021 formuliert in seinem Abschnitt 11.8 zur barrierefreien Gestaltung von Software daher ausdrücklich auch Anforderungen, die die Barrierefreiheit der erstellten Dokumente sicherstellen sollen.[10]

Inhaltsgleiche Verpflichtungen ergeben sich für die Justiz aus dem Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs[11] vom 5. Juli 2017, wonach die Anforderungen zur Barrierefreiheit durch Rechtsverordnungen des Bundes und der Länder festgelegt werden.[12] Dementsprechend sehen beispielsweise § 4 der Bundesstrafaktenführungsverordnung (BStrafAktFV) und wortgleich § 5 der Bundesgerichte-Aktenführungsverordnung (BGAktFV) vor, dass elektronische Akten und Verfahren zur elektronischen Aktenführung und -bearbeitung technisch so gestaltet werden, dass sie, soweit technisch möglich, barrierefrei zugänglich und nutzbar sind. Hierbei sollen die Anforderungen aus der BITV 2.0 beachtet werden. Auch § 5 der Niedersächsischen Verordnung zur elektronischen Aktenführung bei den Gerichten (Nds. AktGerVO) und § 8 der Verordnung zur elektronischen Aktenführung bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften (eAktVO) in Baden-Württemberg sehen vor, dass Verfahren zur elektronischen Aktenführung und -bearbeitung barrierefrei gestaltet werden sollen. Und nach § 7 Abs. 3 Satz 1 der Thüringer eAkten-Verordnung Justiz ist die uneingeschränkte Nutzbarkeit der elektronischen Akte für Menschen mit Behinderungen durch das elektronische Dokumenten-Management- und Vorgangsbearbeitungssystem zu gewährleisten. Hier wird gleichfalls auf die Standards der BITV 2.0 Bezug genommen.[13] Auch insoweit besteht die Verpflichtung, elektronische Dokumente als Teil der elektronischen Akten so zu gestalten, dass sie barrierefrei zugänglich und nutzbar sind.

3. Weitere Rechtsvorschriften

Für elektronische Dokumente, die von einer Behörde in einem Verwaltungsverfahren an die Verfahrensbeteiligten übermittelt werden, ergibt sich eine Verpflichtung zu deren Barrierefreiheit aus § 16 EGovG des Bundes und den Parallelvorschriften in den E-Government-Gesetzen der Länder.[14] Die Regelung in § 16 EGovG in der seit dem Jahr 2018 geltenden Fassung enthält schon bisher eine Aufforderung an die Behörden des Bundes, die elektronischen Dokumente in einem Verwaltungsverfahren barrierefrei zu gestalten. In einem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Mai 2023, durch den u. a. das E-Government-Gesetz des Bundes novelliert werden soll,[15] heißt es in § 16 EGovG zukünftig klar und unmissverständlich: „Die Behörden des Bundes gestalten die … … elektronischen Dokumente nutzerfreundlich und barrierefrei. Für die barrierefreie Gestaltung gilt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung entsprechend.“ Inhaltlich vergleichbare Rechtsvorschriften gibt es auch in den Bundesländern (siehe z.B. § 14 Abs. 1 EGovG Bremen und § 9 EGovG M-V). Hierzu heißt es beispielsweise in § 52h LVwVfG Schleswig-Holstein: „Die Behörden sollen (…) elektronische Dokumente durch angemessene Vorkehrungen nach dem Stand der Technik so ausgestalten, dass sie auch von Menschen mit Behinderung uneingeschränkt und barrierefrei genutzt werden können.“ Ergänzend stellt § 12 Abs. 3 des Berliner EGovG klar, dass auch elektronische Formulare barrierefrei zu gestalten sind. Und § 6 SächsEGovG sieht vor, dass die staatlichen Behörden und die Träger der Selbstverwaltung elektronische Dokumente schrittweise so gestalten, dass sie auch von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich uneingeschränkt und barrierefrei genutzt werden können. Im Saarland heißt es in § 4 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung: „Die Behörden sollen bei der Einführung der elektronischen Verwaltung ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens Barrierefreiheit gewährleisten.“

Eine inhaltsgleiche Verpflichtung ergibt sich für die Justiz aus § 191a Abs. 3 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), wonach elektronische Dokumente, die Text in Schriftform enthalten, generell und von vornherein barrierefrei zu gestalten sind.[16] Die Vorschrift gilt für alle Gerichtsbarkeiten und alle gerichtlichen Verfahren. Ergänzt wird § 191a Abs. 3 Satz 1 GVG durch verschiedene Rechtsverordnungen. So heißt es beispielsweise in § 2 Abs. 4 der Dokumentenerstellungs- und Übermittlungsverordnung für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte (DokErstÜbV), dass bei der Erstellung elektronischer Dokumente die Anforderungen an die Barrierefreiheit aus der BITV 2.0 beachtet werden sollen. Zudem sieht § 191a Abs. 3 Satz 3 GVG vor, dass auch elektronische Formulare barrierefrei zu gestalten sind.

III. Einzuhaltende Standards zur Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen

1. EN 301 549 (Standard für alle Datei-Formate)

Zur barrierefreien Gestaltung von elektronischen Dokumenten und Formularen ist es erforderlich, die Anforderungen zur Barrierefreiheit bereits bei deren Erstellung zu beachten. Auch hierzu gilt der europäische Standard EN 301 549 „Accessibility requirements for ICT products and services“ in seiner aktuellen Version 3.2.1 vom März 2021.[17] Er formuliert in seinem Abschnitt zehn Anforderungen an die Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen, die weitgehend den Erfolgskriterien der WCAG 2.1 mit der Konformitätsstufe A und AA entsprechen.[18] Die Anforderungen sind technikneu-tral formuliert und daher unabhängig von dem verwendeten Datei-Format einzuhalten.[19]

2. DIN ISO 14289‑1 (PDF/UA-Standard)

Für Dokumente und Formulare im Portable Document Format (PDF) sind zusätzlich die Anforderungen aus dem PDF/UA-Standard DIN ISO 14289‑1 zu beachten.[20] Dieser Standard enthält in seinem Abschnitt 7 formatspezifische Anforderungen, die aufzeigen, wie ein barrierefreies PDF technisch beschaffen sein muss. Von wesentlicher Bedeutung hierbei ist ein korrektes Tagging. Tags versehen PDF-Dokumente mit wichtigen Strukturinformationen, die beispielsweise von einem Screenreader genutzt werden können und zugleich das Navigieren erleichtern. Für ein barrierefreies PDF ist es deshalb zwingend, Absätze, Überschriften, Tabellen, Grafiken und Bilder jeweils mit korrekten Tags auszuzeichnen.[21] Viele dieser Anforderungen lassen sich auf einfache Weise einhalten, wenn bereits bei der Erstellung eines Dokuments in einer Textverarbeitung – beispielsweise für Absätze, Überschriften und Tabellen – die korrekten Format-Vorlagen verwendet werden und sichergestellt ist, dass beim anschließenden Speichern als PDF die (Struktur)-)Informationen zur Barrierefreiheit erhalten bleiben. Für den Einstieg gibt es neben den Praxishilfen der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit[22] zahlreiche Leitfäden.[23] Zur Prüfung auf Barrierefreiheit eignet sich der PDF Accessibility Checker (PAC).[24] Hilfreich ist auch die Barrierefreiheitsprüfung, die Microsoft seit Office 2010 in allen Office-Anwendungen zur Verfügung stellt. Sie ist in aktuellen Office-Versionen im Menüband über die Registerkarte „Überprüfen“ und die Schaltfläche „Barrierefreiheit überprüfen“ erreichbar. Für die öffentlichen Stellen des Bundes werden dazu Schulungen, beispielsweise von der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, angeboten.[25]

III. Resümee

1. Koalitionsvertrag und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Wie die vorhergehenden Abschnitte und Beitragsteile gezeigt haben, ist im Hinblick auf die Rechtsnormen – bei aller Kritik an bisher unzureichenden Regelungen – in den letzten zehn Jahren viel erreicht worden. Gleichwohl bleibt noch einiges zu tun. So sollen laut dem Koalitionsvertrag zwischen SPD, den Grünen und FDP von 2021 das AGG, das BFSG und das BGG noch in dieser Legislaturperiode novelliert werden.[26] Hier erwarten wir auch für die digitale Barrierefreiheit weitere Verbesserungen. Das gilt insbesondere für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vom 16. Juli 2021.[27] Es geht nicht auf eine deutsche Initiative zurück, sondern auf die EU-Richtlinie 2019/882 vom 17. April 2019 [28] (= European Accessibility Act)[29], tritt erst am 28. Juni 2025 in Kraft und hilft dem Mangel, dass private Anbieter von bestimmten Produkten und Dienstleistungen bislang nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet sind, nur teilweise ab (vgl. die enumerative Aufzählung in § 1 Abs. 2 und 3 BFSG).[30] Überdies gibt es eine ganze Reihe von noch erheblich längeren und nicht vertretbaren Übergangsfristen. Besonders problematisch ist die vorgesehene Marktaufsicht durch die Bundesländer (§§ 21, 28 BFSG). Unklar ist, wie sichergestellt werden soll, dass die Marktüberwachungsbehörden über das erforderliche Fachwissen zur Barrierefreiheit verfügen. Wie schnell und wie nachhaltig sich Barrierefreiheit auch für den privaten Sektor durchsetzen wird, ist damit derzeit ziemlich offen.

2. Barrierefreie IT-Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft

Insgesamt bleibt der Gesetzgeber in Bund und Ländern aufgefordert, bestehende Gesetzeslücken zu schließen und durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die gesetzlichen Verpflichtungen zur digitalen Barrierefreiheit umgesetzt und eingehalten werden.[31] Notwendig ist beispielsweise eine Regelung zur Barrierefreiheit der IT an den Arbeitsplätzen der Beschäftigten auch in der privaten Wirtschaft. Hierzu sollten (öffentliche und) private Arbeitgeber in § 178 Abs. 2 SGB IX verpflichtet werden, der Schwerbehindertenvertretung vor einer geplanten Einführung und Aktualisierung von IT-Anwendungen an den Arbeitsplätzen der Beschäftigten ein Konzept vorzulegen, aus dem sich ergibt, wie die Umsetzung der Barrierefreiheit sichergestellt wird.

3. Reformbedarf beim Behindertengleichstellungsgesetz im Bund

Des Weiteren sind die Regelungen zur Verbandsklage zu stärken, indem die Aufzählung in § 15 Abs. 1 Nr. 1 BGG um § 12b und § 12c Abs. 1 BGG[32] und in § 15 Abs. 1 Nr. 2 BGG um § 16 EGovG und den geplanten § 7 OZG ergänzt und neben der Feststellungs- auch eine Leistungsklage ermöglicht wird. Daneben sollte das Gesetz um eine Verpflichtung ergänzt werden, sowohl die nach § 12c Abs. 1 BGG zu erstellenden Maßnahmen- und Zeitpläne als auch die von der Überwachungsstelle des Bundes gemäß § 13 Abs. 3 Nr. 1 BGG geprüften Websites und mobilen Anwendungen mit den jeweiligen Prüfergebnissen in ihrem Web-Auftritt zu veröffentlichen.

4. Vorgaben zur Barrierefreiheit in Ausschreibungs- und Vergabeverfahren

Eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung digitaler Barrierefreiheit kommt außerdem den Ausschreibungs- und Vergabeverfahren zu.[33] Dieser Bereich bleibt einem gesonderten Beitrag vorbehalten.

5. Umsetzung der vorhandenen Pflichten und Standards zur digitalen Barrierefreiheit

Rechtsnormen zur digitalen Barrierefreiheit sind aber nur die eine Seite der Medaille. Wie von Betroffenen immer wieder berichtet wird und wie es sich auch aus dem ersten deutschen Bericht zur Umsetzung der RL (EU) 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen aus dem Jahr 2021 ergibt, bestehen gravierende Vollzugsdefizite bei deren Umsetzung.[34] In zwei Dritteln der geprüften Websites entspricht nicht einmal die vorgeschriebene Erklärung zur Barrierefreiheit trotz vorhandener Muster den gesetzlichen Vorgaben. Hier gilt es, noch mehr Bewusstsein für die notwendige Einhaltung der in den Gesetzen und Verordnungen statuierten Vorschriften zu schaffen, aber auch über angemessene und wirksame Sanktionsmöglichkeiten bei Nichteinhaltung der Vorgaben nachzudenken.

Gestärkt werden muss in dieser Richtung aber auch die Durchsetzungskraft der Betroffenen. Soll digitale Barrierefreiheit als Standard allgemeingültig werden, muss sie beharrlich auf allen Ebenen eingefordert werden. Hierzu sind Schulungen für Menschen mit Beeinträchtigungen ein unverzichtbarer Baustein, um sie zu ermutigen, die ihnen zur Verfügung stehenden Rechte auch durchzusetzen, eine Aufgabe, der sich die Behindertenselbsthilfe bereits jetzt in verschiedenen Projekten annimmt, dazu indes auch staatlicher Unterstützung bedarf.

Nur mit diesem Dreiklang aus verbesserten rechtlichen Normen, einem vertieften Bewusstsein über die Bedeutung der digitalen Barrierefreiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen und wachsendem Engagement der Betroffenen werden sich die Vorgaben aus Art. 4, 9 und 21 der UN-BRK zur digitalen Barrierefreiheit umsetzen lassen.

Beitrag von Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler und Andreas Carstens, Richter am Finanzgericht Niedersachsen,
Vertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter

Fußnoten

[1] Art. 4 Abs. 1 lit. a) i. V. m. Art. 9 Abs. 1 und Art. 21 UN-BRK.

[2] Ausführlich dazu Carstens, Die rechtliche Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit, in: Peter/Lühr (Hg.), Handbuch Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit, 2021, S. 37–79 und Carstens, Barrierefreie Dokumente, in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann (Hg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022.

[3] Vgl. z. B. § 9a Abs. 1 Satz 2 NBGG, § 4 Abs. 1 Satz 2 BIKTG Bln, § 13 Abs. 1 Satz 5 BremBGG und § 12a Abs. 1 Satz 2 SaarlBGG.

[4] Siehe hierzu die Beitragsteile II und III.

[5] Vgl. z. B. § 1 Abs. 2 Satz 1 BfWebG Sachsen und § 1 Abs. 2 ThürBarrWebG.

[6] Siehe dazu auch die Umsetzungsfristen in Art. 12 Abs. 3 RL (EU) 2016/2102.

[7] ABl. EU L 256 vom 12.10.2018, S. 108.

[8] Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1524, Anhang I Ziff. 3.2 Buchstabe e).

[9] Siehe dazu Beitragsteil V.

[10] Download: https://www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/03.02.01_60/en_301549v030201p.pdf

[11] BGBl. I 2017, S. 2208.

[12] § 298a Abs. 1a Satz 2 ZPO, § 46e Abs. 1a Satz 2 ArbGG, § 65b Abs. 1a Satz 2 SGG, § 55b Abs. 1a Satz 2 VwGO, § 52b Abs. 1a Satz 2 FGO und § 32 Abs. 2 Satz 1 StPO.

[13] § 7 Abs. 3 Satz 2 ThürEAktVOJ.

[14] Vgl. Denkhaus/Richter/Bostelmann, E-Government-Gesetz/Onlinezugangsgesetz, Kommentar, 1. Aufl. 2019 zu den E-Government-Gesetzen der Bundesländer.

[15] Bundestags-Drucksache 20/8093.

[16] Ausführlich dazu Sorge/Krüger, E-Akte, elektronischer Rechtsverkehr und Barrierefreiheit, NJW 2015, 2764–2767.

[17] Download: https://www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/03.02.01_60/en_301549v030201p.pdf

[18] Download: http://www.w3.org/TR/WCAG21/.

[19] Carstens Barrierefreie Dokumente, in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann (Hg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022.

[20] Bezug über www.beuth.de.

[21] Zu Einzelheiten Grießmann, Barrierefreiheit von PDF-Dokumenten sicherstellen, in: Kerkmann/Lewandowski (Hg.), Barrierefreie Informationssysteme, 2015, S. 140–176.

[22] Praxishilfen: https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Fachwissen/Informationstechnik/Barrierefreie-PDF/barrierefreie-pdf_node.html.

[23] Erstellung barrierefreier PDF aus Word-Dokumenten: https://elvis.inf.tu-dresden.de/dokumente/upload/737e1_anleitungword_2013.pdf?menuid=44 und aus PowerPoint-Dokumenten: https://elvis.inf.tu-dresden.de/dokumente/upload/01473_anleitungpowerpoint_2013.pdf?menuid=45.

[24] Download: https://pdfua.foundation/.

[25] BAköV: www.bakoev.bund.de.

[26] Koalitionsvertrag 2021, S. 78, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsvertrag-2021-1990800.

[27] BGBl. I 2021, S. 2970 mit BFSGÄndG als Art. 25 des 8. SGB IV Änderungsgesetzes vom 20.12.2022, BGBl. I 2022, S. 2759 (betreffend §§ 5, 5a 5b und 11 BFSG). 

[28] ABl. L 151 vom 07.06.2019, S. 70–115.

[29] Ausführlich zur RL (EU) 2019/882 Boysen/Steinbrück, Vom European Accessibility Act zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Teil I–IV, 2021, Beiträge E2-2021 bis E5-2021  unter www.reha-recht.de; siehe zudem Tabara, Barrierefreiheit für elektronische Produkte und Dienstleistungen – das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, NZS 2021, 497; Kalisz, Barrierefreiheit von Bankprodukten und -dienstleistungen, BKR 2023, 292; Lommatzsch/Albrecht, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – Produkte und Dienstleistungen spätestens in 2025 neu denken, GWR 2022, 355.

[30] Einzelheiten werden durch die Verordnung über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen nach dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) vom 15.06.2022 festgelegt, BGBl. I, S. 928.

[31] Ausführlich hierzu der Evaluationsbericht aus dem Jahr 2022; Download unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/044/2004440.pdf

[32] Gleichzeitig ist die Einschränkung in § 15 Abs. 1 Nr. 1 BGG zu streichen, wonach Verstöße gegen § 12a BGG nur gerügt werden können, soweit die Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, betroffen ist. Eine Verbandsklage muss insbesondere auch bei einer Verletzung von § 12a Abs. 1 Satz 2 BGG möglich sein.

[33] Carstens, Modernisierung des Vergaberechts – nicht ohne Barrierefreiheit, ZRP 2015, 141.

[34] Siehe hierzu im Bericht die Tabellen 20 ff. zu einzelnen Prüfkriterien; Download: https://www.bfit-bund.de/DE/Downloads/eu-bericht-pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=2.


Stichwörter:

Barrierefreiheit, Barrierefreiheit (digital), Zugänglichkeit, Digitalisierung, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)


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