13.02.2019 A: Sozialrecht Tietz/Falk: Beitrag A4-2019

Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts bei akzessorischer Nebenleistung – Anmerkung zu LSG Berlin-Brandenburg vom 16.08.2018 – L 23 SO 358/15

Alexander Tietz und Angelice Falk beschäftigen sich mit einer Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg vom 16.08.2018. Die 23. Kammer hatte sich mit einer Klage zur Erstattung von Fahrtkosten im Rahmen eines Werkstattbesuchs auseinanderzusetzen und bejahte den Anspruch der Klägerin aus § 18 Abs. 6 S. 1 Alt. 1 SGB IX. Dabei werden vor allem grundlegende Fragen zur Ausgestaltung des Wunsch- und Wahlrechts angegangen, welches dem Gericht zufolge auch bei akzessorischen Nebenleistungen Beachtung finden muss. Die Entscheidung sorgt bei dem Autor und der Autorin für Zustimmung. Im Zusammenhang mit der Reform durch das Bundesteilhabegesetz wird anschließend an die Rezeption des Urteils noch ein kurzer Ausblick zur Veränderung im Bereich des Wunsch- und Wahlrechts der Eingliederungshilfe gegeben.

(Zitiervorschlag: Tietz/Falk: Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts bei akzessorischer Nebenleistung, Anmerkung zu LSG Berlin-Brandenburg vom 16.08.2018 – L 23 SO 358/15; Beitrag A4-2019 unter www.reha-recht.de; 13.02.2019)

I. Thesen der Autoren

  1. Leistungsberechtigte haben nach den Grundsätzen des Reha- und Teilhaberechts grundsätzlich Anspruch auf die für sie am besten geeignete Leistung (§ 36 Abs. 2 S. 1 SGB IX bzw. § 19 Abs. 4 S. 1 SGB IX a. F.).[1]
  2. Das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten ist bei einer personenzentrierten Leistungserbringung nicht nur in Bezug auf die Hauptleistung zu berücksichtigen, sondern auch für akzessorische (ihnen folgende) Nebenleistungen maßgeblich.
  3. Die Angemessenheit von Wünschen beschränkt die Leistungsberechtigten nicht allein auf das Angebot des billigsten Anbieters.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Zwar gelten nach § 53 Abs. 4 S. 1 SGB XII für die Leistungen zur Teilhabe die Vorschriften des SGB IX, soweit sich aufgrund des SGB XII und der hiernach erlassenen Rechtsverordnungen nichts anderes ergibt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diejenigen Regelungen des SGB IX, die die einzelnen Leistungsgruppen im Neunten Buch konkretisieren und zu Leistungsansprüchen ausformen, nicht über § 53 Abs. 4 S. 1 SGB XII generell, sondern lediglich kraft ausdrücklicher Anordnung im Einzelfall gelten sollen.[2]
  2. Aus der Akzessorietät der Fahrtkosten zur Hauptleistung des Werkstattbesuchs folgt nicht, dass für jene das Wahlrecht des Hilfesuchenden nicht zu berücksichtigen wäre. Wenn der Hilfesuchende ohne den Transport in die Werkstatt diese nicht besuchen könnte, die vermeintlich akzessorische Leistung die Hauptleistung also erst ermöglicht, ist das Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 Abs. 2 SGB XII) zu berücksichtigen.[3]

III. Der Sachverhalt

Die Klägerin ist aufgrund körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen schwerbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie besucht den Förderbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und muss täglich von ihrer Wohneinrichtung zur Werk-statt befördert werden. Die Beförderung wird dabei von einem externen Fahrdienstleister ausgeführt und durch die Beklagte als Eingliederungshilfe übernommen. Bis Oktober 2012 beliefen sich die Kosten dabei auf täglich 37,66 Euro. Am 20.12.2011 beantragte die (ehemalige) Betreuerin der Klägerin eine Übernahme der Kosten für Fahrdienste der C-GmbH i. H. v. 46,97 Euro am Tag. Mit Wirkung vom 05.12.2011 und unter Abänderung eines vorherigen Bescheids bewilligte die Beklagte diese. Am 11.09.2012 beantragte die Klägerin eine Übernahme der Kosten über den 31.10.2012 hinaus. Angefügt waren Kostenvoranschläge von zwei verschiedenen Fahrdienstleistern. Bewilligt wurde durch die Beklagte mit Bescheid vom 18.09.2012 das Angebot der Firma p vom 15.06.2012 i. H. v. 45,00 Euro pro Tag. Daran anschließend wandte sich der Betreuer der Klägerin am 20.09.2012 an die Beklagte und bat darum, ab dem 01.11.2012 auch weiterhin die Fahrdienste der C-GmbH in Anspruch nehmen zu können. Die täglichen Kosten dafür würden sich nun auf 48,90 Euro belaufen. Maßgebend für diesen Wunsch sei das bereits aufgebaute Vertrauen der Klägerin zu dem Fahrer der C-GmbH. Außerdem verfüge die C-GmbH über eine Hubvorrichtung, sodass die Klägerin nicht über eine Rampe in das Fahrzeug geschoben werden müsse. Bei einem Gewicht von Klägerin und Rollstuhl von insgesamt 160 kg bestehe dabei ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Der Wunsch der Klägerin wurde mit Schreiben vom 24.09.2012 versagt, da eine Entscheidung in der Sache bereits gefallen war.

Daraufhin legte der Betreuer der Klägerin am 01.10.2012 Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.09.2012 ein. Er machte geltend, dass das bewilligte Angebot der Firma p qualitativ unzureichend sei. Das Angebot der C-GmbH demgegenüber sei nicht zuletzt wegen der langjährigen Erfahrung des Fahrers mit der Klägerin deutlich höherwertig. Der geringe Mehrpreis von 3,90 Euro pro Tag dürfe nicht ins Gewicht fallen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin daraufhin eine freie Wahl des Transportunternehmens, setzte die Höhe der maximalen Kosten  jedoch weiterhin bei 45,00 Euro am Tag fest. Zur Begründung gab sie an, dass es sich bei den Fahrtkosten um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben handle und diese daher notwendig, ausreichend und zweckmäßig sein müsse. Dies sei hier der Fall.

Gegen den Bescheid erhob die Klägerin am 08.12.2012 Klage beim Sozialgericht (SG) Berlin. Sie trug vor, der Kostenentscheidung der Beklagten lagen lediglich unzureichende Angebote vor, da die Fahrdienste nicht über die (benötigte) Zusatztechnik verfügen. Ebenso hätte die Beklagte im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens aktuelle Kostenangebote einholen müssen.

Das SG wies die Klage mit Urteil vom 29.10.2015 ab. Die eingeholten Kostenvoranschläge hätten für eine Beurteilung ausgereicht. Die Firma p verfüge außerdem ebenfalls über eine geeignete Vorrichtung. Die darüber hinausgehende Betreuungsleistung sei nicht streitgegenständlich.

Dagegen ging die Klägerin am 28.12.2015 vor dem Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg in Berufung.

IV. Die Entscheidung

Der 23. Senat des LSG Berlin-Brandenburg entschied, dass die Klägerin aus §§ 53, 54 SGB XII (gilt bis 31.12.2019, ab 01.01.2020: §§ 90, 99, 102, 113, 83 SGB IX[4]) Anspruch auf weitere Beförderungskosten i. H. v. 3,90 Euro werktäglich hat; vorliegend im Wege der Kostenerstattung gem. § 18 Abs. 6 S. 1 Alt. 1 SGB IX (§ 15 Abs. 1 S. 4 SGB IX a. F.), da der Rehabilitationsträger die Leistung zuvor unrechtmäßig abgelehnt hatte.[5]

Dabei stellt der Senat klar, dass es sich bei den Kosten für den Transport zur WfbM zwar um eine akzessorische Nebenleistung zur Hauptleistung (Teilhabe am Arbeitsleben) handelt, für diese aber ebenso das Wahlrecht (§ 9 Abs. 2 SGB XII) der hilfesuchenden Klägerin berücksichtigt werden muss wie für die Hauptleistung selbst.[6]

In seiner Entscheidung verdeutlicht das LSG die Rechtsgrundlagen der Leistungserbringung: Nach § 53 SGB XII besteht ein Rechtsanspruch auf das „Ob“ der Eingliederungshilfeleistung (hier Transportkosten), das „Wie“ (Art und Maß der Leistung) sei nach § 17 Abs. 2 SGB XII nach Ermessen der Behörde zu entscheiden.[7] Diese hat bei der Ausübung ihres Ermessens auch das Wunsch- und Wahlrecht zu berücksichtigen (§ 9  Abs. 2 S. 1 SGB XII),[8] wonach Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, entsprochen werden soll, soweit sie angemessen sind. Nicht entsprechen soll der Träger der Sozialhilfe nach § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII in der Regel hingegen Wünschen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre.

1. Angemessenheit der Wünsche im Sinne des § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII

Vorliegend bewertete das LSG den Wunsch der Klägerin zur Beförderung mit dem speziellen Fahrdienst als angemessen i. S. d. § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII, da sie im Hinblick auf ihre behinderungsbedingte Situation erforderlich ist.[9]

2. Kein entgegenstehender Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII

Im Fall der Klägerin sind durch ihren Wunsch auch keine unverhältnismäßigen Mehrkosten i. S. d. § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII entstanden. Zur Beurteilung, ob Mehrkosten verhältnismäßig sind, sei stets ein Kostenvergleich zwischen der von den Leistungsberechtigten gewünschten und der für sie günstigeren Maßnahme[10] vorzunehmen. Nicht mit dem Wahlrecht vereinbar sei es, den „angemessenen“ Wunsch lediglich am preiswertesten Anbieter zu messen.[11] Der Begriff der „Mehrkosten“ in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII impliziert vielmehr, dass die durchschnittlichen Kosten in gewissem Maße überschritten werden können.[12] Uneinigkeit herrscht dabei in der Rechtsprechung, in welchem Umfang die durchschnittlichen Kosten überschritten werden dürfen, bevor sie als unverhältnismäßig zu bezeichnen seien. Dabei wurde die Grenze teilweise erst bei 50 Prozent[13] gezogen, in manchen Fällen aber auch schon bei 30 Prozent[14] oder sogar 21,24 Prozent[15].

Im Fall der Klägerin waren weitere geeignete Kostenvoranschläge für Fahrdienste eingeholt worden (i. H. v. 51,85 Euro und 84,00 Euro). Die nach dem Wunsch der Klägerin begehrten Transportkosten i. H. v. insgesamt 48,90 Euro (davon bereits 45,00 Euro bewilligt) bzw. 3,90 Euro Mehrkosten waren daher eher noch im unteren Bereich der Fahrkosten einzuordnen und somit als verhältnismäßig anzusehen.

Das LSG betont darüber hinaus, dass Wünsche der Betroffenen auch dann nicht dem Mehrkostenvorbehalt in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII entgegenstehen müssen, wenn sie den üblichen Kostenrahmen übersteigen.[16] Vorausgesetzt sei zunächst, dass gleich geeignete Möglichkeiten der Bedarfsdeckung existierten.[17]

a. Feststellung des konkreten Hilfebedarfs

Dazu ist zunächst der konkrete Hilfebedarf festzustellen (hier die erforderliche Art der Beförderung). Hierbei müssen die persönlichen Gründe bzw. Stellungnahmen der Betroffenen berücksichtigt werden.[18] Für die Klägerin ergebe sich daraus, dass sie nur mit wenigen Personen außerhalb ihres familiären Umfeldes kommunizieren kann. Dazu zählt der Fahrer des gewünschten Fahrdienstes, zu dem sie ein mühsam aufgebautes Vertrauensverhältnis pflegt. Ein Wechsel des Fahrdienstes würde dieses Verhältnis zerstören und die Klägerin traumatisieren. Der Prozess gelingender Inklusion würde dadurch nachhaltig geschädigt. Darüber hinaus bestehe für die Klägerin, die sich bei Angst unkontrolliert und heftig bewege, erhebliche Unfallgefahr durch unkundiges Personal.

b. Bestehen andere angemessene Hilfemöglichkeiten?

Weiter muss geprüft werden, ob den Leistungsberechtigten andere angemessene Hilfemöglichkeiten zur Deckung des Bedarfs angeboten werden können, die ihren besonderen Bedürfnissen gerecht werden.[19] Die Beweislast dafür hat der Sozialhilfeträger (ab 01.01.2020 = Eingliederungshilfeträger). Im hier entschiedenen Fall hat das LSG dies unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen an den gesamten Prozess des Transports der Klägerin (persönliche Bindung an den Fahrer, Kommunikationsmöglichkeit, Kontakt beim Einsteigen und erforderliche Begleitung bis zur Aufnahme in die Werkstatt) verneint und die entstandenen Mehrkosten folglich als verhältnismäßig angesehen.

V. Würdigung/Kritik

Die Entscheidung des LSG ist begrüßenswert, da sie das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten hervorhebt und stärkt. Zu beachten ist allerdings, dass sich durch das Bundesteilhabegesetz die Rechtslage im SGB IX und SGB XII geändert hat und die Entscheidung daher nicht unmittelbar auf die aktuelle und künftige Rechtslage übertragbar ist.

Die Entscheidung verdient volle Zustimmung. Besonders lesenswert ist die systematische Darstellung zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Wünschen der Betroffenen, §  9 Abs. 2 S. 1, 3 SGB XII.[20] Die Ausführungen des LSG unterstreichen die Bedeutung des Wunsch- und Wahlrechts für eine personenzentrierte Leistungserbringung im Sinne voller und gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Behinderung (§ 1 S. 1 SGB IX, UN-BRK Art. 3 a), c), d), Art. 19, Art. 26 Absatz 1); sie sind auch im Hinblick auf das neue Recht wegweisend.

Besteht ein Rechtsanspruch auf das „Ob“ einer Rehabilitationsleistung, hat der Reha-Träger nach seinem Ermessen über das „Wie“ (Art und Maß der Leistung) zu entscheiden (s.o.).[21] Dabei soll nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB IX (§ 19 Abs. 4 S. 1 SGB IX a. F.) die Auswahl des Leistungserbringers (Rehabilitationsdienst oder -einrichtung) danach erfolgen, wer die Leistung in der am besten geeigneten Form ausführt. Die „am besten geeignete Form“ ist hierbei an der Individualität der Leistungsberechtigten ausgerichtet. Maßgeblich sind daher Art und Maß der jeweiligen Beeinträchtigung des Menschen mit Behinderung sowie seine persönlichen Wünsche und Vorstellungen (§ 8 SGB IX, § 9 SGB XII, § 33 SGB I). Eine lediglich rechnerische Betrachtungsweise verbietet sich, vielmehr kommt es auf eine wertende Betrachtung aller Umstände an.[22] Hinzu kommt ebenfalls, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung die Grundsätze des § 10 SGB I verwirklichen muss, von diesen darf gemäß § 37 S. 2 SGB I nicht abgewichen werden. Soweit hieraus kein subjektives Recht für die Leistungsberechtigten erwächst, ist es dennoch als Maßstab bei der Entscheidung heranzuziehen.

Nach den weiteren Grundsätzen des Sozialrechts (insbesondere Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit) sind die Wünsche der Berechtigten durch den leistungsrechtlichen Rahmen begrenzt.[23] Es kommt folglich darauf an, ob ein Wunsch berechtigt (§ 8 Abs. 1 S. 1 SGB IX) bzw. angemessen (§ 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII, § 104 Abs. 2 SGB IX n. F.) ist. Wie das LSG klargestellt hat, darf die Beurteilung der Angemessenheit oder Berechtigung von Wünschen dabei nicht auf das billigste Leistungsangebot reduziert werden (dazu oben). Dies würde auch vor der Prämisse der am besten geeigneten Leistung (§ 36 Abs. 2 S. 1 SGB IX) die Möglichkeiten der Leistungserbringung zu sehr einschränken und stünde der Ermöglichung voller, selbstbestimmter und gleichberechtigter Teilhabe entgegenstehen. Der Stellenwert des Wunsch- und Wahlrechts wird daher sowohl durch die besprochene LSG-Entscheidung zum alten Recht, als auch durch die SGB IX-Reform zurecht herausgehoben und gestärkt. Im System des Sozialrechts sind Berechtigte auf die Leistungen angewiesen. Das Wunsch- und Wahlrecht kann dieses Machtgefälle eindämmen.[24]

Ähnlich wirkt auch § 8 Abs. 4 SGB IX, der über § 7 Abs.1 S. 1 SGB IX auch für die Eingliederungshilfe gilt. Insbesondere im System der Rehabilitation dürfen Leistungsberechtigte nicht den wirtschaftlichen Interessen einzelner Träger ausgesetzt sein. Eine Praxis der Leistungsgewährung nach diesem Vorbild würde den grundlegenden Bestimmungen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (dem Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen) entgegenstehen. Dies wiederum kann nicht in Einklang mit den Zielen gebracht werden, die in der UN-BRK vereinbart worden sind und deren Umsetzung erklärtes Ziel des BTHG ist.[25] Eine umfassende Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Leistunsgberechtigten ist demnach eine notwendige Maßnahme auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft.

VI. Ausblick

1. Änderung der Rechtslage durch BTHG

a. Eingliederungshilfe als künftiger 2. Teil des SGB IX

In seiner Entscheidung vom 16.08.2018 hatte sich das LSG mit einem Streit zu befassen, der die Jahre 2012 bis 2014 betrifft. Inzwischen ist durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) eine umfassende Reform des SGB IX und des Eingliederungshilferechts erfolgt, mit der stufenweise neue Regelungen in Kraft treten. Zum 01.01.2020 wird das bisherige Eingliederungshilferecht aus dem SGB XII in den künftigen 2. Teil des SGB IX überführt und geändert. §§ 53, 54 SGB XII werden aufgehoben[26] und können nicht mehr als Anspruchsgrundlage für die Übernahme von Beförderungskosten herangezogen werden.[27] Stattdessen werden ab 01.01.2020 die §§ 90, 99,102, 113, 114, 83 SGB IX die Grundlage für den Anspruch auf Beförderungskosten bilden. Die speziellen Regelungen zum neuen Eingliederungshilferecht in Teil 2 SGB IX sind dann entsprechend den Vorschriften des SGB IX anzuwenden. Für das Wunsch- und Wahlrecht der Eingliederungshilfeleistung gilt dann also nicht mehr § 9 Abs. 2 S. 1, 3 SGB XII, sondern § 104 SGB IX n. F. (gilt ab 01.01.2020) und für alle Leistungen des SGB IX ist seit 1.1.2018 § 8 SGB IX. maßgeblich. Für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gelten in der Zeit vom 01.01.2018 – 31.12.2019 die Bestimmungen des § 140 SGB XII.

b. Vergleich zwischen § 8 SGB IX und § 104 SGB IX

Das Wunsch- und Wahlrecht in § 8 SGB IX (entspricht § 9 SGB IX a. F.) und § 104 SGB IX (n. F. ab 01.01.2020) ist anders als in § 9 Abs. 2 SGB XII als unbedingte Pflicht der Leistungsträger formuliert. Statt nach § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII („Wünschen […] soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind“) „wird“ nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB IX „[…] berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen“ bzw. „ist“ ihnen nach § 104 SGB IX n. F. zu entsprechen. Konkretisiert wird die unbedingte Verbindlichkeit des Wunsch- und Wahlrechts zum einen durch § 8 Abs. 1 Satz 2, der im Übrigen auf § 33 SGB I verweist. Nach der allgemeineren Vorschrift des § 33 S. 2 SGB I wiederum „soll den Wünschen […] entsprochen werden, soweit sie angemessen sind.“, womit insoweit eine weniger verbindliche Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts ermöglicht und der Wirkunterschied zwischen § 8 SGB IX und § 9 SGB XII abgeschwächt werden könnte. Der Verweis in § 8 S. 2 SGB IX auf § 33 SGB I wurde daher schon vor dem BTHG als teilweise missverständlich kritisiert und dahingehend verstanden, dass § 33 SGB I gegenüber § 8 SGB IX (lex specialis) zurücktritt und sich der Verweis lediglich auf § 33 S. 1 SGB I bezieht, was auch der gesetzgeberischen Intention durch die Formulierung der Verbindlichkeit in § 8 SGB IX (§ 9 SGB IX a. F.) entspricht.[28] Dafür spricht auch § 8 Abs. 3 SGB IX, wonach die Selbstbestimmung der Leistungsberechtigten zu fördern ist.[29]

Für die Eingliederungshilfe gilt zudem ab 01.01.2020 vorrangig § 104 SGB IX n. F. („Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalles“), wonach Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen ist, soweit sie angemessen sind. Als nicht angemessen gelten Wünsche nach Satz 2, wenn und soweit die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern, mit denen eine Vereinbarung nach Teil 2 Kapitel 8 SGB IX besteht, unverhältnismäßig übersteigt (Nummer 1) und wenn der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann (Nummer 2). In Bezug auf die Ermittlung der Mehrkosten geht der Gesetzgeber von einem an regionalen Unterschieden und üblichen Kostenschwankungen geprägten rechnerischen Verfahren aus.[30]

Das Wunsch- und Wahlrecht im SGB IX ist folglich gegenüber dem derzeit im SGB XII verbindlicher geregelt; den Wünschen der Leistungsberechtigten kommt ein größerer Stellenwert bei der Leistungsentscheidung und -erbringung zu. Im vorliegenden Fall spielte vor allem die persönliche Bindung zwischen Leistungsberechtigter und Fahrer eine gewichtige Rolle. Die Argumentation, die Anwesenheit einer vertrauten Person wirke sich positiv auf Ziele der Teilhabe aus, erkennt nun auch der Gesetzgeber an und fügt zu diesem Zweck § 106 Abs. 1 SGB IX in den neuen 2. Teil des SGB IX ein.[31]

Gestärkt wird das Wunsch- und Wahlrecht im neuen Reha- und Teilhaberecht auch durch § 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 SGB IX, nach dem die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts im Teilhabeplan besonders zu dokumentieren ist.[32]

Beitrag von Alexander Tietz und Dipl. Jur. Angelice Falk, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten

[1] Vgl. auch Walling: Sind Mehrkosten einer Leistung zur Teilhabe vom Versicherten zu tragen? – Teil 1; Forum A, Beitrag A2-2015 unter www.reha-recht.de; 12.01.2015 (zuletzt abgerufen am 25.01.2019).

[2] Rn. 42 der Entscheidung, juris.

[3] Rn. 43 der Entscheidung, juris.

[4] Dazu näher unter „Würdigung/Kritik“.

[5] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 34 ff. Vgl. zum primären Sachleistungsprinzip und dem Anspruch auf nachträgliche Kostenerstattung auch Welti: Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 1); Forum D, Beitrag D19-2015 unter www.reha-recht.de; 17.06.2015 (zuletzt abgerufen am 08.12.2018).

[6] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 40, 43.

[7] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 44 f.

[8] Dazu LSG Schleswig-Holstein v. 24.11.2005 – L 9 B 245/05 SO ER und v. 16.06.2006 – L 9 B 350/08 SO ER, beide juris.

[9] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 46.

[10] Vgl. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 20.03.2007 – L 9 B 576/07 SO ER, juris.

[11] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 46.

[12] Dazu Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 19. Auflage, § 9, Rn. 23.

[13] LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 07.06.2007 - L 8 SO 60/07 ER.

[14] VG Münster, Urteil v. 24.04.2006, 5 K 783/04.

[15] OVG Lüneburg, Urteil v. 16.02.2004, 4 ME 400/03.

[16] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 47.

[17] LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 02.09.2010 – L 7 SO 1357/10 ER-B, juris, Rn. 9.

[18] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 48.

[19] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 50; Vgl. dazu Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 19. Auflage, § 9, Rn. 26.

[20] LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16.08.2018 – L 23 SO 358/15, juris, Rn. 44-50.

[21] Vgl. zu alledem Welti: Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 1); Forum D, Beitrag D19-2015 unter www.reha-recht.de; 17.06.2015, zuletzt abgerufen am 09.12.2018.

[22] BVerwG, Beschluss v. 18.08.2003, 5 B 14/03, Rn. 3, juris.

[23] Vgl. Welti: Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 1); Forum D, Beitrag D19-2015 unter www.reha-recht.de; 17.06.2015, zuletzt abgerufen am 09.12.2018.

[24] So auch Banafsche, Personalisierung: Wunsch- und Wahlrecht. Am Beispiel der Teilhabe am Arbeitsleben, SDSRV 66, S. 157.

[25] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 2 ff.

[26] Boetticher v., Das neue Teilhaberecht, S. 279.

[27] Vgl. Beetz, in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl., § 81, Rn. 5.

[28] Vgl. Stevens-Bartol, in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 3. Aufl., § 9 und 4. Aufl., § 8, jeweils Rn. 4; so auch Welti: Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 1); Forum D, Beitrag D19-2015 unter www.reha-recht.de; 17.06.2015, zuletzt abgerufen am 09.12.2018.

[29] Dazu auch Stevens-Bartol, in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl., § 8 Rn. 1.

[30] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 280.

[31] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 281.

[32] Auch dazu Stevens-Bartol in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl., § 9 Rn. 1.


Stichwörter:

Kostenerstattung, Eingliederungshilfe, Wunsch- und Wahlrecht, Bundesteilhabegesetz, Nebenleistung


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