29.01.2020 A: Sozialrecht Eberhardt: Beitrag A1-2020

Ermittlungspflichten des Integrationsamts im Rahmen der Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung gemäß § 168 SGB IX – Anmerkung zu VG Göttingen, Urteil v. 24.01.2019 – 2 A 385/16

Der Autor Constantin Eberhardt bespricht ein Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Göttingen vom 24.01.2019 – 2 A 385/16. Die schwerbehinderte Klägerin wandte sich nach erfolglosem Widerspruchsverfahren gegen die Erteilung der Zustimmung zu ihrer Kündigung durch das Integrationsamt nach § 168 SGB IX. Die Zustimmung war u. a. mit der Begründung erfolgt, ein Zusammenhang mit der Behinderung sei nicht erkennbar.  Das VG Göttingen hob die Entscheidung des Integrationsamtes auf.

Eine Auseinandersetzung mit dem Urteil ist aufschlussreich für das Verständnis des Zusammenwirkens von Sonderkündigungsschutz nach § 168 SGB IX und allgemeinem Kündigungsschutzrecht. Richtigerweise betont das VG Göttingen die Amtsermittlungspflichten des Integrationsamtes nach §§ 20, 21 SGB X. Eine intensive Sachverhaltsaufklärung habe insbesondere im (hier vorliegenden) Falle widersprüchlichen Arbeitgebervortrags zu erfolgen. Gerade in Kleinbetrieben ohne Interessenvertretung, in denen das KSchG nicht anwendbar ist, kann sich hieraus ein wichtiges Schutzvehikel für schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergeben.

(Zitiervorschlag: Eberhardt: Ermittlungspflichten des Integrationsamts im Rahmen der Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung gem. § 168 SGB IX – Anmerkung zu VG Göttingen, Urteil v. 24.01.2019 – 2 A 385/16; Beitrag A1-2020 unter www.reha-recht.de; 29.01.2020)

I. Thesen des Autors

  1. Die Entscheidung des Integrationsamts über die Rechtmäßigkeit der Kündigung ist Ausdruck des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen, gewährt aber nicht eine umfassende arbeitsrechtliche Überprüfung.[1]
  2. Eine vorgeschaltete arbeitsrechtliche Überprüfung der Kündigungserklärung durch das Integrationsamt beschränkt sich auf eine Evidenzkontrolle.
  3. In jedem Fall hat das Integrationsamt das öffentlich-rechtliche Interesse an der Verwirklichung der Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben in seinem Verfahren zu beachten.
  4. In Kleinbetrieben, in denen keine Interessenvertretung existiert und das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) nicht anwendbar ist, können die Ermittlungspflichten des Integrationsamtes aus § 20 SGB X ein wichtiges Schutzvehikel für schwerbehinderte Beschäftigte sein.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Der gesetzliche Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus § 168 SGB IX verfolgt das Ziel des Ausgleichs behinderungsbedingter Nachteile im Wirtschaftsleben.
  2. Hieraus ergibt sich das Prüfungsprogramm des Integrationsamtes bei der Entscheidung über eine Zustimmung zur Kündigung. Im Kern ist zu prüfen, ob zwischen Kündigung und Behinderung im konkreten Fall ein Zusammenhang besteht. 
  3. Um eine ermessensfehlerfreie Entscheidung treffen zu können, ist das Integrationsamt zur ausführlichen Aufklärung des Sachverhalts gem. § 20 SGB X verpflichtet. Die Aufklärung muss umso intensiver betrieben werden, je weniger ein entsprechender Zusammenhang von Behinderung und Kündigung ausgeschlossen werden kann.  
  4. Der Sachverhalt

Die Klägerin war seit dem 1. November 2000 in einer gynäkologischen Praxis mit weniger als fünf Beschäftigten als Medizinische Fachangestellte in Teilzeit beschäftigt. Nach einer Amputation ihres rechten Daumens stellte das (hier beklagte) Integrationsamt per Bescheid mit Wirkung zum 18. Mai 2015 fest, dass die Klägerin schwerbehindert ist (GdB: 80). Der arbeitgebende Arzt hatte am 10. Juni 2015 erstmals die Kündigung ausgesprochen, die jedoch wegen fehlender vorheriger Zustimmung des Integrationsamts unwirksam war.

Am 4. September 2015 beantragte der Arbeitgeber[2] bei dem Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung gem. § 168 SGB IX (§ 85 SGX IX a. F.). Er führte aus, dass er von der Schwerbehinderung der Klägerin zunächst keine Kenntnis gehabt hätte. Erst durch die arbeitsgerichtliche Kündigungsschutzklage habe er hiervon erfahren. Die Kündigung sei aus rein betriebsinternen Gründen ausgesprochen worden, namentlich betrieblicher Unstimmigkeiten und eines reduzierten Personalbedarfs wegen einer aus Altersgründen reduzierten Arbeitszeit. Er habe sich daher von der Klägerin aufgrund ihrer im Vergleich zu den übrigen Angestellten geringeren Qualifizierung getrennt.

Die Klägerin bestritt diese Begründung ihres Arbeitgebers, insbesondere ihre im Vergleich zu den anderen Arbeitnehmerinnen geringere Qualifizierung, und führte aus, dass die Amputation ihres Daumens und die damit einhergehende eingeschränkte Einsetzbarkeit im Mittelpunkt der Entscheidung stünden.

Das Integrationsamt erteilte am 20. Oktober 2015 die Zustimmung zur Kündigung der Klägerin. Die Begründung des Arbeitgebers sei nachvollziehbar, es handele sich um rein betriebliche Erwägungen. Der Abbau von Arbeitsplätzen sei insoweit von der unternehmerischen Freiheit des Praxisinhabers gedeckt. Ein Zusammenhang von Kündigung und Behinderung könne vor allem deshalb ausgeschlossen werden, weil der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der ersten Kündigung keine Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte. Im Übrigen sei die Entscheidung nicht willkürlich; eine falsche Sozialauswahl liege nicht vor.

Am 27. Oktober 2015 sprach der Arbeitgeber die Kündigung aus – nun mit der erforderlichen Zustimmung des Integrationsamts gem. § 168 SGB IX. Gegen die Entscheidung des Integrationsamtes legte die Klägerin zunächst Widerspruch ein. Sie begründete diesen u. a. derart, dass der arbeitgeberseitig angeführte reduzierte Personalbedarf dem Umstand widerspreche, dass der Praxisinhaber zeitgleich eine Anzeige geschaltet habe, wonach er eine neue Medizinische Fachangestellte „ggf. in Teilzeit“ suche.

Der Widerspruchsausschuss beim Integrationsamt (§ 201 SGB IX) wies den Widerspruch mit Bescheid vom 8. September 2016 zurück. Zur Begründung wurde wie im Ausgangsbescheid dargelegt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der Behinderung der Klägerin objektiv nicht erkennbar sei, und die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers betont. Auch „besondere fürsorgerische Gründe“ für eine abweichende Entscheidung bestünden nicht.

Daraufhin erhob die Arbeitnehmerin am 12.Oktober 2016 Klage beim Verwaltungsgericht gegen die Entscheidung des Integrationsamtes in Gestalt des Zustimmungs- sowie des Widerspruchsbescheids. Es habe insbesondere die widersprüchlichen Angaben des Arbeitgebers zum Personalbedarf nicht ausreichend gewürdigt und damit einen wesentlichen Teil des Sachverhalts unberücksichtigt gelassen. Gegen die Behauptung reduzierten Personalbedarfs spreche neben der Existenz des Stelleninserats offenkundig, dass der Arbeitgeber die Praxis seit 2016 gemeinsam mit seiner Tochter betreibe und insofern von einer Fortführung des Praxisbetriebs auszugehen sei. Es sei im Nachgang auch tatsächlich eine neue Vollzeitkraft als Ersatz eingestellt worden. Der Arbeitgeber wiederum gab dazu an, die Entscheidung zur Fortführung der Praxis sei erst deutlich nach der Kündigungserklärung getroffen worden. Mit der Stellenanzeige sollte im Übrigen die Neubesetzung einer anderen Stelle bezweckt werden.

Das beklagte Integrationsamt betonte insbesondere, dass die inhaltliche Überprüfung des vorgetragenen Kündigungsgrundes der Personalreduzierung nicht mehr Teil des verwaltungsrechtlichen Prüfungsspektrums sei. Hier greife das allgemeine zivilrechtliche Kündigungsschutzrecht, nicht aber der behinderungsspezifische Sonderkündigungsschutz.

III. Die Entscheidung

Das VG Göttingen hielt die Entscheidungen des Integrationsamtes – den ursprünglichen Zustimmungsbescheid und den anschließenden Widerspruchsbescheid – für rechtswidrig und hob sie gem. § 113 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf. Bei der Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung gem. § 168 SGB IX handele es sich um eine Ermessensentscheidung, das gehe aus § 172 SGB IX (§ 89 SGB IX a. F.) hervor. Im vorliegenden Falle sei ein Ermessensfehler festzustellen.

Aus dem Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X folge die Pflicht des Integrationsamtes alle Umstände aufzuklären, die für die Abwägung und Gewichtung der sich gegenüberstehenden Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmerin von Bedeutung seien. Eine Entscheidung, die von einem falschen oder unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgehe, sei ermessensfehlerhaft.

Richtig führt das Gericht aus, dass sich die Reichweite des Ermessensspielraums des Integrationsamts an dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage, hier des Sonderkündigungsschutzes, zu orientieren habe (siehe dazu § 39 Abs. 1 SGB I). Dies sei hier der Ausgleich von möglichen Nachteilen schwerbehinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt.[3] Dagegen sei es nicht Aufgabe des Integrationsamtes das „normale“ materielle Kündigungsschutzrecht anzuwenden, hierfür seien die Arbeitsgerichte zuständig.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Entscheidung des Integrationsamtes, der Kündigung zuzustimmen, den Anforderungen an eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens nicht genüge. Einseitig sei man nur der Begründung des Arbeitgebers gefolgt, wonach die Kündigung der Klägerin im Zuge einer geplanten Personalreduzierung erforderlich geworden sei – obgleich im ersten Zustimmungsantrag an das Integrationsamt von jener Personalreduzierung noch keine Rede gewesen war. Auch den Umstand, dass der Arbeitgeber trotz dieser Begründung ein Inserat geschaltet hatte und faktisch keine Reduzierung eintrat, habe das Integrationsamt nicht ausreichend gewürdigt. Vor dem Hintergrund, dass es die zentrale Aufgabe des Integrationsamtes sei, einen möglichen Zusammenhang zwischen Kündigung und Behinderung zu prüfen und diesen – sofern eine Weiterbeschäftigung zumutbar erscheint – durch Verweigerung der Zustimmung zu beantworten, hätte es den widersprüchlichen Schilderungen des Arbeitgebers nicht ohne Weiteres folgen dürfen. Nur über eine weitreichendere Tatsachenfeststellung hätte sicher davon ausgegangen werden können, dass kein Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigung bestehe und die Arbeitgeberentscheidung betriebsbedingt sei.

Das Integrationsamt übe sein Ermessen aus §§ 168, 172 SGB IX nur dann pflichtgemäß aus, wenn es alle relevanten Umstände in seine Abwägung einfließen lasse. In Anbetracht dessen leide die Entscheidung unter einem Ermessensdefizit, das sich insbesondere daraus ergebe, dass vor dem Hintergrund der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) keine hinreichende Sachverhaltsaufklärung betrieben worden sei.

IV. Würdigung/Kritik

Die Entscheidung verdient insoweit Zustimmung, als sie verdeutlicht, dass das Integrationsamt nicht lediglich dem Vorbringen eines Beteiligten (§ 63 VwGO) folgen darf, sondern dass insbesondere auf widersprüchliche Angaben bzw. streitigen Sachverhalt intensivierte Ermittlungen folgen müssen. Die Entscheidung wirft weiter Fragen der Abgrenzung im Zusammenspiel von allgemeinem zivilrechtlichem Kündigungsschutz und besonderem verwaltungsrechtlichem Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf, bietet hier aber wenig Antworten.

Die Zustimmung des Integrationsamtes ist gem. § 168 SGB IX Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber. Als behördliche Entscheidung stellt sie einen Verwaltungsakt dar, der insoweit als öffentlich-rechtliche Entscheidung in das privatrechtliche Arbeitsverhältnis einwirkt. Die Ausübung des Kündigungsrechts gegenüber schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird damit einer staatlichen Kontrolle unterworfen.[4] Die Zweistufigkeit der Überprüfung einer arbeitgeberseitigen Kündigungserklärung ergibt sich aus der zeitlich vorangestellten Entscheidung des Integrationsamtes sowie der möglichen arbeitsgerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit nach allgemeinem Kündigungsschutzrecht.

Wird, wie hier, gegen die Entscheidung des Integrationsamtes geklagt, so entsteht ein Nebeneinander von arbeitsgerichtlichem und verwaltungsgerichtlichem Rechtsstreit. Die Abgrenzung der Kompetenzen von Integrationsamt und Arbeitsgerichtsbarkeit bereitet in diesem Rahmen Schwierigkeiten. Anerkannt ist, dass die vorgeschaltete Zustimmung dann nicht erfolgen darf, wenn die Kündigung offensichtlich rechtswidrig ist (sog. Evidenzkontrolle).[5] Eine arbeitsrechtliche Überprüfung ist dem Integrationsamt damit nicht völlig verwehrt. Ein Betriebliches Eingliederungsmanagement-Verfahren (BEM-Verfahren) ist per se keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, sein Fehlen kann aber u. U. zulasten des Arbeitgebers Berücksichtigung finden.[6] Auf der anderen Seite ist die Prüfung der sozialen Rechtfertigung (Sozialauswahl) als zentrales Element des allgemeinen Kündigungsschutzes nach § 1 Abs. 1 KSchG der Arbeitsgerichtsbarkeit vorbehalten. Das bedeutet aber auch, dass eine arbeitsrechtliche Zulässigkeit der Kündigung nicht dazu führt, dass das Integrationsamt die Zustimmung zu erteilen hat (sog. „Ermessensreduzierung auf null“).

Wichtig ist: Wenn aber ein Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigung erkennbar besteht, verschiebt sich die Zumutbarkeitsgrenze bezüglich einer Weiterbeschäftigung zulasten des Arbeitgebers.[7]

Im Übrigen ist die Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung des/der jeweiligen Beschäftigten von besonderer Bedeutung. Weiß der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung nicht von der Schwerbehinderung und ist diese nicht offenkundig (Erblindung, Taubheit, sichtbare Amputationen)[8], so hat die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer innerhalb der dreiwöchigen Frist des § 4 S. 1 KSchG den Arbeitgeber durch formlose (vor allem nachweisbare) Mitteilung über die Schwerbehinderung zu informieren. Erst hierdurch wird der Arbeitgeber veranlasst, das Zustimmungsverfahren einzuleiten und Beschäftigten so mittelbar den besonderen Kündigungsschutz des § 168 SGB IX zu gewähren. Neben der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes sind innerhalb dieser Frist auch weitere Unwirksamkeitsgründe, etwa die fehlende Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG oder der SBV nach § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX geltend zu machen.

Allgemein ist Betroffenen zu raten, die Feststellung einer potenziellen Schwerbehinderung zeitnah zu beantragen. Ist die Antragstellung im Zeitpunkt der Kündigungserklärung noch nicht erfolgt, so bedarf es in der Regel der Zustimmung durch das Integrationsamt gem. § 173 Abs. 3 SGB IX nicht.[9]

V. Fazit

Das Urteil des VG Göttingen ist im Ergebnis richtig und überzeugt mit dem Hinweis auf die Amtsermittlungspflichten des Integrationsamtes aus §§ 20, 21 SGB X. Zur Abgrenzung der Zuständigkeit von verwaltungsrechtlicher und zivilrechtlicher Rechtmäßigkeitsprüfung nimmt das Gericht nicht Stellung. Wohlgemerkt war dies wohl auch insoweit nicht angezeigt, als das arbeitsgerichtliche Verfahren vorliegend ruhte. Im Übrigen konnte das KSchG wegen § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG keine Anwendung finden; der arbeitgebende Arzt beschäftigte nur drei Personen in seiner Praxis. Deshalb kann in der Betonung der Amtsermittlungspflichten durchaus eine Stärkung der Rechtsposition von Betroffenen in Kleinbetrieben erkannt werden. Vor widersprüchlichen bzw. willkürlichen Begründungen der Arbeitgeberseite schützen üblicherweise § 102 Abs. 1 BetrVG sowie § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX, denn der Arbeitgeber darf im Prozess nur solche Kündigungsgründe vorbringen, die er auch in der betrieblichen Anhörung artikuliert hat.[10] In Kleinbetrieben wie im vorliegenden Fall, in denen keine Interessenvertretung existiert und das KSchG unanwendbar ist, können die erweiterten Ermittlungspflichten aus § 20 SGB X ein wichtiges Schutzvehikel für schwerbehinderte Beschäftigte sein.

Für das Verständnis der Problematik ist essenziell, dass der schwerbehindertenrechtliche Kündigungsschutz zum allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutz hinzutritt und eine Stärkung der Betroffenenrechte darstellt.[11] Das begründet sich zum einen in dem Umstand, dass durch die Evidenzkontrolle gewissermaßen ein – wenn auch stark beschränkter – vorweggenommener arbeitsrechtlicher Schutz zugebilligt wird. Zum anderen hat das Integrationsamt im Gegensatz zum Arbeitsgericht auch das öffentliche Interesse an der Verwirklichung der Teilhabe am Arbeitsleben in seine Abwägungsentscheidung einzubeziehen. Unabhängig von der inhaltlichen Reichweite der Prüfungskompetenz ist aus dem Urteil des VG Göttingen aber deutlich geworden, dass die Entscheidung des Integrationsamtes jedenfalls dann fehlerhaft sein muss, wenn sie auf einer unzureichenden Sachverhaltsermittlung beruht. Darin liegt auch ein wichtiger Hinweis für die Mitglieder des Widerspruchsausschusses (§ 202 SGB IX), die hier ihre betriebliche Erfahrung einbringen können.

Offen ist derweil die Frage nach dem Einfluss das Unionsrechts auf die verwaltungs- sowie die arbeitsrechtliche Prüfung. Der EuGH hatte in der Conejero-Entscheidung[12] über die Frage entschieden, ob eine Kündigung wegen zu hoher Fehlzeiten rechtmäßig sein kann, wenn die Fehlzeiten die Folge einer Krankheit sind, die eine Behinderung darstellt. Hierin liege potenziell eine mittelbare Diskriminierung wegen Behinderung, deren Rechtfertigung nur durch eine umfangreiche Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellen sei.[13] Da freilich in den Fällen des § 168 SGB IX regelmäßig eine Behinderung i. S. d. Unionsrechts vorliegt, bleibt abzuwarten, ob hieraus auch vertiefte Anforderungen an die Prüfungsaufgaben von Integrationsamt und Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt werden.

Beitrag von Dipl.-jur. Constantin Eberhardt, Zentrum für Sozialforschung Halle e.V.

Fußnoten

[1] So auch eine neue Entscheidung mit ganz ähnlichem Sachverhalt: VG Mainz, Urteil v. 05.04.2019 – 1 K 731/18.MK, Rn. 42.

[2] Der Artikel verwendet den Begriff des Arbeitgebers. Dies geschieht aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit sowie mit Blick auf den tatsächlich zugrundeliegenden Sachverhalt. Hiermit wird jedoch keine Benachteiligung bzw. abweichende Behandlung anderer Geschlechter impliziert, der Begriff soll inhaltlich als geschlechtsneutral verstanden werden.

[3] Grundlegend: BVerwG, Urteil v. 02.07.1992 – 5 C 51.90; im vorliegenden Fall bezog sich wohlgemerkt auch der Widerspruchsbescheid auf diesen Gesetzeszweck, verwendete allerdings den überholten Begriff der „Fürsorge“, welcher dem der „Teilhabe“ weichen musste. dazu: Düwell, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, § 172 Rn. 3 ff.

[4] BAG, Urteil v. 22.10.2015 – 2 AZR 720/14 Rn. 65.

[5] Grundlegend auch hier: BVerwG, Urteil v. 02.07.1992 – 5 C 51.90.

[6] Düwell, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, § 172 Rn. 3.

[7] BVerwG, Urteil v. 22.05.2013 – 5 B 24.13, Rn. 13.

[8] Schmitz, in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, § 168 Rn. 31.

[9] Dazu Rolfs, in: ErfK ArbR, § 173 SGB IX Rn. 6. 

[10] Siehe Mauer, in: BeckOK ArbR, § 102 BetrVG Rn. 20.

[11] BVerwG, Urteil v. 02.07.1992 – 5 C 39.90; Urteil v. 19.10.1995 – 5 C 24.93.

[12] EuGH, Urteil v.18.01.2018 – C-270/16 - NZA 2018, 159 ff.

[13] Die Entscheidung bezog sich auf Art. 2 Abs. 2 lit. b) i) der europäischen Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie 2000/78/EG.


Stichwörter:

Integrationsamt, Ermessen Integrationsamt, Prüfungspflicht des Integrationsamtes, Zustimmung des Integrationsamts, Schwerbehinderte Arbeitnehmer, Sonderkündigungsschutz, Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer, Unwirksamkeit der Kündigung


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