13.01.2022 A: Sozialrecht Frankenstein: Beitrag A1-2022

Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik – Grundverständnis und Perspektiven

In diesem Beitrag beschäftigt sich der Autor Arne Frankenstein mit Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durch barrierefreie Informationstechnik. Er erläutert einführend die Bedeutung von Teilhabe und Barrierefreiheit anhand ihrer gesetzlichen Normierungen in Grundgesetz, EU-Recht und der UN-Behindertenrechtskonvention. Daran anschließend zeigt er Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik auf. Abschließend thematisiert Frankenstein einige Aspekte, welche bei der künftigen Beseitigung bestehender Mängel und der damit einhergehenden Verbesserung der Barrierefreiheit im digitalen Bereich durch die Gesetzgebung und die Verwaltung Berücksichtigung finden sollten.

(Zitiervorschlag: Frankenstein: Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik – Grundverständnis und Perspektiven; Beitrag A1-2022 unter www.reha-recht.de; 13.01.2022)

I. Teilhabe als gesellschaftliches Grundprinzip

Spätestens seit 1994 das besondere Benachteiligungsverbot behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) verankert wurde, hat sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit behinderten Menschen vollzogen, der mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 weiter konkretisiert worden ist. Das medizinische Modell von Behinderung, bei dem sich der Blick einseitig auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen als individuelles Defizit richtete, wird seitdem – rechtsverbindlich – durch das menschenrechtliche Modell von Behinderung ersetzt.[1] Danach entsteht die Behinderung nicht zuvorderst durch die Beeinträchtigung, sondern durch gesellschaftliche Strukturen. Nicht, dass jemand blind ist, verursacht Aussonderung oder Benachteiligung, sondern die Diskriminierungen und die Vorenthaltung von Menschenrechten, die entstehen, wenn die Gesellschaft zum Beispiel keine Leitsysteme zur selbstbestimmten Orientierung blinder oder hochgradig sehbehinderter Menschen baut – oder keine digitalen Systeme, die mit entsprechender Technik gleichberechtigt genutzt werden können. Damit ist ein klarer Handlungsauftrag verbunden, dem der föderale Staat im Mehrebenensystem für alle[2] behinderten Menschen nachzukommen hat.

Tradierte Fürsorge trägt das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich.[3] Ihr gegenüber steht die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe als Grundprinzip unserer Verfassung und, soweit es um behinderte Menschen geht, der UN-BRK. Denn Autonomie, Selbstbestimmung und die Freiheit, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben und eigene Entscheidungen zu treffen, sind Bestandteile der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Deshalb ist die Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen Querschnittsaufgabe in allen Handlungsfeldern. Rechtmäßiges Verwaltungshandeln hat sich an ihr auszurichten.

II. Das Recht als Motor einer Entwicklung: Herstellung von Barrierefreiheit als Pflicht, um Teilhabe sicherzustellen

Barrierefreiheit operationalisiert die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe. Nach Art. 9 UN-BRK verpflichtet sich Deutschland, dass behinderte Menschen den vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.

Die Europäische Union (EU) hat im Jahr 2010 die UN-BRK ratifiziert. Insoweit nimmt sie am Anwendungsvorrang des EU-Rechts und dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung teil. Zudem hat die EU selbst die Weiterentwicklung des Rechts der Mitgliedstaaten durch eigene Rechtsakte bewirkt, so durch die VO EG 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und von Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität, durch die VO EU 1177/2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, durch die VO 181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und durch die VO 2021/782 über die Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr.[4] Für die digitale Barrierefreiheit ist vor allem die Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen zu nennen. Öffentliche Stellen sind dabei nicht nur Behörden im engeren Sinne, sondern auch privatrechtlich organisierte Rechtsträger, wenn sie im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen. Damit bewirkt die Richtlinie, dass die Verpflichtung zur Barrierefreiheit mehr als zuvor in den privaten Bereich hineinwächst. Dass die Herstellung von Barrierefreiheit nicht dem öffentlichen Sektor allein überlassen ist, sondern die sukzessive Weiterentwicklung auch den privaten Bereich betreffen muss, soweit er öffentlich zugänglich ist oder genutzt wird (Art. 9 Abs. 2 lit. b UN-BRK), zeigt auch die EU-Barrierefreiheits-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act). Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Vorgaben zu machen, um Produkte und Dienstleistungen umfassend barrierefrei zu gestalten. So muss zum Beispiel der gesamte Online-Handel barrierefrei werden, nur Kleinstunternehmen sind von dieser Verpflichtung nicht erfasst.[5]

Im Bund und in den Ländern setzen Rechtsnormen dieses höherrangige Recht um. Sie finden sich in den Behindertengleichstellungsgesetzen und E-Government-Gesetzen des Bundes und der Länder, im Vergaberecht und anderen Rechtsquellen.[6]

III. Barrierefreie Informationstechnik: Wo stehen wir aktuell? Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik

Wenn allein rechtliche Regeln schon ihre Durchsetzung bewirken würden, könnte man sich mit Forderungen an den Gesetzgeber begnügen und sich im Übrigen entspannt zurücklehnen. Allein: So ist es nicht! Recht ist immer nur so stark wie seine Durchsetzung, auch im digitalen Bereich?

Die Praxis zeigt, dass allenthalben nicht-barrierefreie Verfahren entwickelt, vergeben und an den Start gebracht werden. Das Problem betrifft alle digitalen Angebote:

  • Fachverfahren[7], die behinderte Beschäftigte von der Nutzung im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließen oder Auszubildende an einer sachgerechten Vermittlung der Ausbildungsinhalte hindern. Die derzeitige Praxis zeigt, dass auch Fachverfahren, die an vielen Arbeitsplätzen eingesetzt werden, nicht barrierefrei sind und Anpassungen oft nicht in Aussicht stehen. Sicherlich ist zuzugestehen, dass es sich im Einzelfall um teils sehr spezifische Fachanwendungen handeln kann, zu denen es kaum oder keine Konkurrenzprodukte auf dem Markt gibt. Und trotzdem: Auch für diese Fälle müssen Lösungen, notfalls unter Zuhilfenahme föderaler Kooperationen, geschaffen werden, die einen Ausschluss behinderter Menschen verhindern.
  • IT-Arbeitsplatzausstattung, zu der, wie sich gezeigt hat, nicht nur Textverarbeitung gehört, sondern zunehmend auch Video-Konferenzdienste, Messenger oder andere kollaborative Tools.
  • Verfahren zum elektronischen Aktenverkehr: Weil diese Verfahren innerhalb der Kernverwaltung prinzipiell an allen Arbeitsplätzen zum Einsatz kommen (sollen), ist hier die Anforderung nicht nur im Hinblick auf die Barrierefreiheit, sondern auch in Bezug auf die Benutzbarkeit insgesamt als besonders hoch anzusehen.
  • Anwendungen im Bereich des Bürgerservices, z. B. im Rahmen der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes (OZG).
  • Mobile Applikationen, die zunehmend auch von der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden. Welchen Aufwand dabei die Nachsteuerung der Barrierefreiheit bedeutet, zeigt z. B. die Luca-App zur Kontaktnachverfolgung in der aktuellen Corona-Pandemie.
  • Webauftritte, d. h. alle eigenen und projektbezogenen Homepages. Hierbei liegt die Herausforderung darin, die Webauftritte nicht nur einmalig beim Start, sondern dauerhaft und bei jeder nachträglichen Anpassung aufs Neue barrierefrei weiterzuentwickeln.
  • Social Media-Kanäle: einerseits bezogen auf die bereitgestellten Inhalte, die barrierefrei, also mit Bildbeschreibungen, ausreichenden Kontrasten, Untertiteln oder Transkripten gepostet werden müssen. Andererseits muss auch der gesetzlichen Verpflichtung entsprochen werden, auf die Verbesserung der Barrierefreiheit der Plattformen hinzuwirken.

Die Durchsetzung objektiver Verpflichtungen ist gerade dann schwierig ist, wenn sie die Rechte und Interessen von Minderheiten betrifft, die schlechten Zugang zu ökonomischen Ressourcen haben.[8] Umso entscheidender ist es, Überwachungs- und Durchsetzungsstellen zu etablieren, die die objektiven Verpflichtungen systematisch und im Einzelfall überprüfen und ihre Einhaltung einfordern. Dass diese Kontrollmechanismen teilweise mit (individuellen und verbandlichen) Schlichtungs- und Klageverfahren kombiniert werden können, hilft ihrer Durchsetzungsstärke. Ihre Nutzung im deutschen Behindertenrecht ist aber nach wie vor schwach.[9] Vor allem entsteht eine Befriedung aber nur nach einem vorangegangenen Konflikt. Es muss deshalb daran gearbeitet werden, (teure und Ressourcen bindende) Konflikte im Vorfeld zu vermeiden und Barrierefreiheit von Anfang an als wesentliches Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Teilhabe sicherzustellen.

Es ist dabei wichtig, behinderte Menschen als Expertinnen und Experten in eigener Sache einzubeziehen, wie Art. 4 Abs. 3 UN-BRK von den Vertragsstaaten fordert. Darum wirken nach dem Durchführungsbeschluss EU 2018/1524 zur Bestimmung des Inhalts der Überwachung auf Staatenebene und § 5 der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände im Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik bei der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit nach § 13 BGG mit.

Gerade auf der kommunalen Ebene muss Barrierefreiheit aber zur Realisierung der gemeindenahen Unterstützung Gegenstand partizipativer Teilhabeplanung werden.[10] Außerdem ist neben dem Betriebsrat auch die Schwerbehindertenvertretung (§ 178 SGB IX) als wichtiges Organ landauf landab zu stärken, wenn sie ihre Aufgabe sachgerecht erfüllen und als Akteur qualifizierte Beiträge leisten soll. Sie kann in Dienst- und Inklusionsvereinbarungen mit den Arbeitgebern (§ 166 SGB IX) auch Regelungen zur barrierefreien Arbeitsplatzgestaltung vereinbaren.[11] Wichtig ist somit, dass die bestehenden Instrumente genutzt und eine qualifizierte Beteiligung dauerhaft sichergestellt ist. Hierfür müssen die beteiligten Menschen mit Behinderungen regelhaft qualifiziert werden und im Streitfall Beratung in Anspruch nehmen können.

Behinderten Menschen darf aber die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben nicht allein überlassen bleiben. Adressat der gesetzlichen Regeln ist die Exekutive. Sie muss die Verwirklichung von Barrierefreiheit und Teilhabe umsetzen und, dem rechtlichen Auftrag folgend, von Anfang an mitdenken. Das erfordert ein Bewusstsein sowie, davon abgleitet, konkrete Strategien. Dabei wird eines klar: Digitale Barrierefreiheit ist weder besonders schwierig noch besonders teuer, wenn sie systematisch Eingang findet in Entscheidungen auf allen Ebenen. Sie dient dabei nach ihrer gesetzlichen Definition behinderten Menschen. Gleichzeitig profitieren aber auch andere davon, nämlich dann, wenn sie zeitlich begrenzt oder situativ beeinträchtigt sind. Kontraste helfen auch bei sommerlichem Lichteinfall in einem Büro, das nicht vollständig zu verschatten ist!

Behinderte Menschen, die täglich mit Barrieren und Benachteiligungen konfrontiert sind, lernen sich mit diesen zu arrangieren und entwickeln mitunter aufwendige Kompensationsmechanismen, wie eine Studie der Aktion Mensch[12] gezeigt hat. Sie haben in vielen Bereichen des Lebens Benachteiligungen oder Stigmatisierungen erfahren und können dadurch gehemmt sein, für ihre Rechte bis zum Schluss einzutreten. Daraus folgt zuvorderst, dass behinderte Menschen ermächtigt und unterstützt werden müssen, sich selbst zu vertreten und für ihre Rechte einzustehen. Und zum anderen folgt daraus aber auch, dass die Entscheiderinnen und Entscheider in der Verwaltung ihre Entscheidungsmacht zugunsten gleichberechtigter Teilhabe umso gezielter einsetzen sollten.

Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit ist eine (Dauer-)Herausforderung. Das bedeutet, dass barrierefreie Lösungen auch dann anzustreben sind, wenn sie in ihrer Entwicklung länger dauern, wenn sie teurer sind und wenn sie auf allen Seiten (zunächst) höheren Aufwand darstellen. Als Beispiel kann auf die Einführung von Videokonferenzsystemen während der Corona-Pandemie verwiesen werden. An ihr konnte man erkennen, dass die Barrierefreiheit gegenüber anderen verbindlichen Kriterien wie dem Datenschutz oder zugunsten der Robustheit und Leistungsfähigkeit des Systems hintangestellt worden ist. Rechtlich wäre geboten gewesen, ein barrierefreies System einzusetzen. Nirgends ist das umfassend gelungen. Die digitalen Angebote werden in der Regel nicht durch die Träger öffentlicher Gewalt entwickelt, sondern beschafft. Nach § 121 Abs. 2 GWB sind öffentliche Auftraggeber verpflichtet bei der Beschaffung von Leistungen, die zur Nutzung durch natürliche Personen vorgesehen sind, bei der Erstellung der Leistungsbeschreibung die Zugänglichkeitskriterien für Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. In der Praxis muss die Barrierefreiheit deshalb so früh wie möglich berücksichtigt werden.

Erkenntnisse aus der Praxis zeigen, dass nicht nur auf allen Ebenen viele Mängel bestehen, sondern dass bei ihrer Beseitigung oft auch konkrete Zuständigkeiten für die verwaltungsinternen Prozesse geklärt werden müssen. Darum sollte verwaltungsintern eine zentrale Steuerung mit Kompetenzen und Weisungsbefugnissen bestehen. Dass Abhilfe rechtswidriger Zustände an der Frage scheitert, wer für diese zuständig ist, ist rechtsstaatlich nicht tragbar.

IV. Effektivierung dringend erforderlich: Anforderungen an die weitere Entwicklung

Damit die digitale Barrierefreiheit universelles Gestaltungsprinzip in einer zunehmend digitalisierten Welt wird, deren Akteure permanent zwischen analogen, digitalen und hybriden Interaktionsformen wechseln, und dazu beiträgt, gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft sicherzustellen, müssen viele Akteure systematisch zusammenwirken.

Dabei sollten sie sich verstärkt an der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen im Sinne der UN-BRK ausrichten. Auch die Gemeinden, Gemeindeverbände, Sozialversicherungsträger, Kammern, Hochschulen sowie andere Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nehmen verstärkt, wenn auch noch nicht flächendeckend, in Aktionsplänen und im Satzungsrecht sowie durch Behindertenbeauftragte auf die Konvention Bezug.

Die Bewältigung der Corona-Pandemie zeigt, dass behinderte Menschen strukturell benachteiligt werden und unsere Gesellschaft nicht inklusiv ist. Die (Nicht-)Herstellung digitaler Barrierefreiheit zeigt besonders deutlich, dass über 12 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland noch dringender Verbesserungsbedarf besteht, für den Gesetzgeber und Verwaltung verantwortlich sind.

Barrierefreiheit sollte als objektives Prinzip zur Vermeidung von Barrieren auch im privaten Recht substanziell verankert werden. Zudem müssen subjektiv einklagbare Rechtspositionen geschaffen werden, um Benachteiligungen, soweit diese zu keiner unverhältnismäßigen Belastung führen, auch im Klageweg zu verhindern. Im Zivilrecht fehlt es für das allgemeine Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung in § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bislang an einer Normierung dieser Pflicht zu sogenannten angemessenen Vorkehrungen, sodass ungeklärt ist, wie weit subjektive Rechte gegen Anbieter von Waren und Dienstleistungen auf § 19 AGG gestützt werden können.  Ein entsprechender Anspruch muss deshalb ausdrücklich ins AGG[13], soweit noch nicht geschehen in die Behindertengleichstellungsgesetze und ins neu geschaffene Barrierefreiheitsstärkungsgesetz des Bundes[14] aufgenommen werden.

Viel zu oft bleibt unberücksichtigt, dass umfassende Barrierefreiheit alle Arten von Behinderungen meint und, entsprechend der UN-BRK, Gestaltungen nach dem Universal Design vorsieht. Der Gesetzgeber muss diesen Anspruch erfüllen, indem er für alle Produkte und Dienstleistungen festschreibt, dass Gestaltungen zu wählen sind, die von Beginn an so vielen Menschen wie möglich eine Nutzung ermöglichen und so weit wie möglich niemanden von der Nutzung ausschließen. Der Verpflichtung, Barrieren erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. sie systematisch abzubauen und hierbei auch Universelles Design umzusetzen, kommt Deutschland bislang nur ungenügend nach.[15] Dieser Ansatz muss deshalb dringend weiterverfolgt werden.

Zudem müssen die gesetzlichen Vorgaben besser und effektiver umgesetzt werden. Zentral ist die Verankerung von Inklusion und Teilhabe bereits in den Curricula der Schulen, der Verwaltungsausbildungen und der Studiengänge. Wenn es selbstverständlich ist, barrierefreie Inhalte zu produzieren, damit erfolgreiches Lernen auf allen Ebenen ermöglicht wird, dann wird es auch über den Lernort hinaus zum Standard – und nicht zur Sonderaufgabe, die nur mit hohem Aufwand zu erfüllen ist. Und genau das ist durch die Verfassung und die UN-BRK vorgegeben: Behinderte Menschen sind gleichberechtigter Teil einer gemeinsamen Welt. Sonderwelten, die zu Ausgrenzung führen, sind zugunsten gleichberechtigter Wahlmöglichkeiten inklusiven Zusammenlebens zurückzudrängen.[16] Oder um es mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sagen: Es ist zu gewährleisten, dass behinderte Menschen so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen können.[17]

Literaturverzeichnis

Baer, Susanne/Markard, Nora, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2018, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Rn. 534 m. w. N.

Boysen, Uwe/Steinbrück, Hans-Joachim: Vom European Accessibility Act zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Beiträge E2-2021 bis E5-2021 unter www.reha-recht.de.

Carstens, Andreas: Die rechtliche Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit in: Peter/Lühr (Hrsg.): Handbuch digitale Teilhabe und Barrierefreiheit, Wiesbaden 2021, S. 37–79.

Degener, Theresia: Die UN-Behindertenrechtskonvention, Grundlage für eine neue inklusive Menschenrechtstheorie, in: Vereinte Nationen 02/2010, S. 57–63.

Eichenhofer, Eberhard: Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, Menschenrechtliche Forderungen an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 1. Auflage, Baden-Baden 2018.

Frankenstein, Arne: Das Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensführung als Wesensmerkmal einer inklusiven Gesellschaft, in: Torsten Dietze, Dietlind Gloystein, Vera Moser, u.a. (Hrsg.): Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz, Bad Heilbrunn 2020, S. 121–129.

Frankenstein, Arne: Universelles Design und Zugänglichkeit der Arbeitsplätze, in: Wansing, Gudrun / Welti, Felix / Schäfers, Markus (Hrsg.): Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen. Internationale Perspektiven, Baden-Baden 2018, S. 227–245.

Rott, Peter: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz; Beiträge E6-2021 bis E8-2021 unter www.reha-recht.de.

Steinbrück, Joachim: Der Europäische Rechtsakt zur Barrierefreiheit - Regelungsgegenstand, Inhalt und Umsetzungsfragen, in: Peter/Lühr (Hrsg.): Handbuch digitale Teilhabe und Barrierefreiheit, Wiesbaden 2021, S. 80–104.

Theben, Martin: Barrierefreiheit, in: Deinert, Olaf/Welti, Felix (Hrsg.): Stichwortkommentar Behindertenrecht. 2. Auflage, Baden-Baden 2018, S. 124–132.

Welti, Felix: Zum Verständnis von Barrieren und Barrierefreiheit aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Schäfers, Markus/Welti, Felix: Barrierefreiheit - Zugänglichkeit - Universelles Design. Zur Gestaltung teilhabefördernder Umwelten. Bad Heilbrunn 2021,
S. 9–22.

Welti, Felix: Rechtliche Grundlagen einer örtlichen Teilhabeplanung, in: Lampke, Dorothea/ Rohrmann, Albrecht/Schädler, Johannes (Hrsg.): Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen. Wiesbaden 2011, S. 55–68.

Welti, Felix/Groskreutz, Henning/Hlava, Daniel/Rambausek, Tonia/Ramm, Diana/Wenckebach, Johanna (Hrsg.): Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. BMAS-Forschungsbericht 445, Bonn 2014.

Welti, Felix/Groskreutz, Henning: Betriebliche Barrierefreiheit als Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung. In: Arbeit und Recht 2016, S. 105–108.

Beitrag von Arne Frankenstein, Bremen

Fußnoten

[1] Degener, in: VN 02/2010, S. 57 f.

[2] Auf die Art der Beeinträchtigung kommt es nicht an, vgl. anstatt vieler: Theben, S. 125.

[3] Baer/Markard, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3, Rn. 534, jeweils m. w. N.

[4] Zur reformierten Eisenbahn-Passagierrechte-Verordnung siehe Rott: Rechte von Menschen mit Behinderungen unter der neuen Eisenbahn-Passagierrechte-Verordnung; Beitrag E1-2021 unter www.reha-recht.de; 19.08.2021.

[5] Näheres hierzu vgl. Steinbrück in Peter/Lühr: Handbuch digitale Teilhabe und Barrierefreiheit. Siehe auch Boysen, Steinbrück: Vom European Accessibility Act zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz; Beiträge E2-2021 bis E5-2021 unter www.reha-recht.de

[6] Umfassend hierzu vgl. Carstens in Peter/Lühr: Handbuch digitale Teilhabe und Barrierefreiheit.

[7] Ein Fachverfahren ist eine IT-Anwendung, die speziell für die Verwaltung entwickelt wird. Es bildet Geschäftsprozesse innerhalb einer Verwaltung ganzheitlich oder in wesentlichen Teilen IT-gestützt ab. Nutzer sind sowohl Mitarbeitende der Verwaltung als auch Bürgerinnen und Bürger oder Unternehmen. Vgl. https://www.berlin.de/moderne-verwaltung/prozesse-und-technik/technische-standards/it-fachverfahren/artikel.977641.php, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.

[8] Welti 2021, S. 17.

[9] Welti et al. 2014, S. 482 ff.

[10] Welti 2011, S. 55 ff.

[11] Welti/Groskreutz 2016, S. 105 ff.

[12] https://www.aktion-mensch.de/inklusion/barrierefreiheit/studie-digitale-teilhabe, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.

[13] Eichenhofer 2018.

[14] Vgl. dazu Rott: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz; Beiträge E6-2021 bis E8-2021 unter www.reha-recht.de.

[15] Frankenstein 2018, S. 241.

[16] Frankenstein 2020, S. 227 ff.

[17] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 47 (Führhund-Entscheidung).


Stichwörter:

Barrierefreiheit, Barrierefreiheit (digital), Benachteiligungsverbot, Gleichberechtigung, Inklusion, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Europarecht (EU-Recht), Digitalisierung, Corona (SARS-CoV-2), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Universal Design


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