28.08.2023 A: Sozialrecht Kruse: Beitrag A10-2023

Zur Benachteiligung von sogenannten Selbstzahlenden in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe – Anmerkung zu Bay. LSG vom 22. September 2022 – L 4 P 56/21

Die Autorin Katja Kruse (Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., bvkm) stellt in diesem Beitrag ein Urteil des Landessozialgerichts Bayern vor (L 4 P 56/21), in dem um den Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 SGB XI gestritten wurde. Das Gericht wies die Berufung zurück, weil der Kläger in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe lebt (§ 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI) und daher die Voraussetzung der „häuslichen Pflege“ nicht gegeben sei. Zu Recht zahle die Pflegekasse eine Pauschalleistung nach § 43a SGB XI an den Kläger, der im Übrigen die Pflege- und Betreuungsaufwendungen selbst zahlen muss, weil er wegen zu hohem Einkommen bzw. Vermögen keine Leistungen der Eingliederungshilfe erhält. Einen Verstoß gegen das Grundgesetz sieht das LSG nicht.

In ihrer Anmerkung geht Kruse auf die Hintergründe und systematischen Zusammenhänge des § 43a SGB XI ein, stellt die Auseinandersetzung über die Verfassungsmäßigkeit der Regelung dar und rückt sie in den Kontext der Ziele des BTHG. Sie begrüßt, dass die Revision der Klägerin vom bayerischen Landessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen wurde und § 43a SGB XI damit erneut auf den Prüfstand gestellt werde.

(Zitiervorschlag: Kruse: Zur Benachteiligung von sogenannten Selbstzahlenden in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe – Anmerkung zu Bay. LSG vom 22. September 2022 – L 4 P 56/21; Beitrag A10-2023 unter www.reha-recht.de; 28.08.2023)

I. Thesen der Autorin

  1. Die Sonderregelung des § 43a SGB XI, der die Leistungen der Pflegeversicherung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen, die in besonderen Wohnformen leben, auf 266 Euro im Monat beschränkt, verstößt gegen das Grundgesetz (GG) und die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
  2. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Angemessenheit der Regelung bestehen insbesondere in Bezug auf die Gruppe der sogenannten Selbstzahlenden, also derjenigen Menschen mit Behinderungen, die die tatsächlich erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe in den besonderen Wohnformen aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten, weil ihnen aufgrund zu hohen Einkommens und/oder Vermögens kein Anspruch auf Eingliederungshilfe zusteht.
  3. Die einrichtungsbezogene Betrachtungsweise, die dem Anwendungsbereich von § 43a SGB XI zugrunde liegt, steht der personenzentrierten Betrachtung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), wonach Leistungen unabhängig von der jeweiligen Organisationsform erbracht werden, diametral entgegen. Dies führt zwangsläufig zu Reibungspunkten zwischen beiden Systemen und läuft den Zielen der UN-BRK zuwider, Menschen mit Behinderungen so weit wie möglich gleichzustellen, in die allgemeinen Institutionen einzubeziehen und Sondereinrichtungen abzubauen oder umzuwandeln.

II. Der Sachverhalt

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hatte darüber zu entscheiden, ob dem Kläger, der in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe[1] lebt, anstelle des Pauschalbetrages nach § 43a SGB XI ein Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 SGB XI gegen die beklagte Pflegekasse zusteht.

Der erwachsene Kläger hat eine geistige Behinderung und ist in den Pflegegrad 3 eingestuft. Er ist bei der Beklagten pflichtversichert und hat daneben einen Anspruch auf Beihilfe im Umfang von 50 Prozent. Zur Abgeltung der pflegedingten Aufwendungen in der besonderen Wohnform erhält der Kläger von der Beklagten monatlich 133 Euro, welches die Hälfte des in § 43a SGB XI festgelegten Pauschalbetrages ist. Die andere Hälfte übernimmt die Beihilfe.

Der Betreiber der besonderen Wohnform hat mit dem zuständigen Träger der Eingliederungshilfe Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen abgeschlossen. Diese bilden die Grundlage für den mit dem Kläger geschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrag. Aus dieser Vereinbarung ergibt sich ein monatliches Entgelt für die Pflege und Betreuung des Klägers in Höhe von 3.054,90 Euro.

Anspruch auf Eingliederungshilfe hat der Kläger nicht, da sein Vermögen über dem hierfür maßgeblichen Freibetrag liegt. Den Differenzbetrag für seine Pflege und Betreuung in der besonderen Wohnform in Höhe von monatlich 2.788,90 Euro (3.054,90 Euro abzüglich 266 Euro nach § 43a SGB XI bzw. Beihilfe) zahlt der Kläger deshalb aus eigenen finanziellen Mitteln, was ihn zum sogenannten Selbstzahler macht.

Ab Januar 2020 hat der Kläger bei der Beklagten anstelle des Pauschalbetrages nach § 43a SGB XI die Zahlung eines – wegen des Beihilfeanspruchs – hälftigen Pflegegeldes gemäß Pflegegrad 3 in Höhe von 272,50 Euro beantragt. Der Antrag wurde abschlägig beschieden. Widerspruch und Klage hiergegen blieben ebenfalls erfolglos. Das in erster Instanz zuständige Sozialgericht Nürnberg[2] hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Beklagte dem Kläger zu Recht Leistungen nach dem § 43a SGB XI gewähre. Ein Anspruch auf Pflegegeld stehe dem Kläger nicht zu.

Gegen diese Entscheidung wendete sich der Kläger mit seiner Berufung und beantragte hilfsweise die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG, weil er § 43a SGB XI für verfassungswidrig hält.

III. Die Entscheidung

Mit Urteil vom 22. September 2022[3] wies das LSG die Berufung zurück und führte zur Begründung aus, dass ein Anspruch auf Pflegegeld deshalb nicht bestehe, weil ein solcher Anspruch „häusliche Pflege“ voraussetze. Häusliche Pflege scheide aber deswegen aus, weil sich der Kläger in Räumlichkeiten i. S. d. § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI aufhalte. Die besondere Wohnform, in der der Kläger lebe, erfülle alle drei Voraussetzungen dieser Vorschrift: Bei den bewohnten Räumlichkeiten stünde der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund, auf die Überlassung der Räumlichkeiten finde das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz Anwendung und der dort erbrachte Versorgungsumfang entspreche weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung. In derartigen Wohnsettings sei häusliche Pflegehilfe nach § 36 SGB XI (ambulante Pflegesachleistung) gemäß § 36 Abs. 4 S. 1 HS 2 SGB XI nicht zulässig. Folglich könne in solchen Fallkonstellationen auch nicht das anstelle der häuslichen Pflegehilfe zu gewährende Pflegegeld gezahlt werden.

Nach Auffassung des LSG wird dem Kläger deshalb zu Recht die Pauschalleistung nach § 43a SGB XI gezahlt. Dem stünde auch nicht der Wortlaut des § 43a S. 3 SGB XI entgegen, wonach die Vorschrift auf in Räumlichkeiten i. S. d. § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI lebende Pflegebedürftige anzuwenden sei, die Leistungen der Eingliederungshilfe „erhalten“. Insoweit geht das Gericht davon aus, dass der Kläger in den von ihm bewohnten Räumlichkeiten Leistungen der Eingliederungshilfe angeboten erhält und auch in Anspruch nimmt. Eine Ablehnung von Leistungen der Eingliederungshilfe durch den zuständigen Kostenträger sei nur im Hinblick auf das Vermögen des Klägers erfolgt. Maßgeblich für die Anwendung von § 43a SGB XI sei allein, dass der Kläger die Leistung tatsächlich erhalte. Auf die Art der Finanzierung, hier als Selbstzahler, komme es dagegen nicht an.

Für die vom Kläger hilfsweise beantragte Vorlage an das Bundesverfassungsgericht sah das LSG keine Veranlassung, weil ein Verstoß gegen verfassungsmäßige Rechte des Klägers nach Auffassung des Gerichts nicht gegeben ist. Im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) liege keine willkürliche Regelung zu Lasten des Klägers vor. Wenn Versicherte bewusst stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nähmen, obwohl sie wüssten, dass aufgrund eigenen Vermögens kein Anspruch auf Übernahme der Kosten für Leistungen der Eingliederungshilfe bestehe, sei es nicht zu beanstanden, dass sie dennoch der Pauschalierungsregelung nach § 43a SGB XI unterlägen.

Auch ein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG geregelte spezielle Benachteiligungsverbot, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, liege nicht vor. Die unterschiedlichen Leistungen der Pflegeversicherung knüpften nicht am Bestehen oder Nichtbestehen einer Behinderung an, sondern allein an den Ort, an dem sich der Mensch mit Behinderung versorgen lasse. Einen derartigen Verstoß habe auch das Bundessozialgericht (BSG)[4] nicht gesehen. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG, könne ebenfalls nicht bejaht werden, weil dieses Grundrecht durch die verfassungsmäßige Ordnung beschränkt werde. § 43a SGB XI sei unzweifelhaft Teil der verfassungsmäßigen Ordnung und die Regelung sei auch verhältnismäßig.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat das LSG die Revision zum BSG[5] zugelassen.

IV. Die Sonderregelung des § 43a SGB XI

Seit 1996 regelt § 43a SGB XI, in welchem Umfang pflegebedürftige Menschen, die in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für Menschen mit Behinderungen leben, Leistungen der Pflegeversicherung beanspruchen können. Einer Sonderregelung hierfür bedurfte es deshalb, weil die besagten Wohneinrichtungen gemäß § 71 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI keine Pflegeeinrichtungen sind und deshalb auch keine Versorgungsverträge mit den Pflegekassen schließen können. Dasselbe gilt gemäß § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI seit 2020 für die in § 43a Satz 3 SGB XI genannten Räumlichkeiten, auf die der Anwendungsbereich von § 43a SGB XI mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III)[6] erstreckt wurde. Hintergrund der Erweiterung des § 43a SGB XI um den Begriff der Räumlichkeiten ist das BTHG[7], mit dem die Eingliederungshilfe 2020 in Teil 2 des SGB IX überführt und personenzentriert ausgestaltet wurde. Durch diese Neuausrichtung wird bei der Versorgung von erwachsenen Menschen mit Behinderungen im Recht der Eingliederungshilfe nicht mehr nach ambulanten und stationären Leistungen differenziert. Um die Rechtswirkungen des § 43a SGB XI für diesen Personenkreis dennoch aufrechtzuerhalten, bedurfte es deshalb zusätzlich zum Begriff der vollstationären Einrichtung eines neuen Anknüpfungspunktes.[8] Diesen hat der Gesetzgeber in Gestalt der in § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI näher definierten Räumlichkeiten gefunden. Da für diese Wohnformen auch nach dem SGB XII und dem SGB IX Sonderregelungen gelten,[9] hat sich für diese Wohnsettings in der Behindertenhilfe der in § 113 Abs. 5 SGB IX verwendete Begriff der „besonderen Wohnformen“ etabliert.

Die Pflege ist in den von § 43a SGB XI erfassten Wohnformen integraler Bestandteil der Eingliederungshilfe[10] und fällt damit in den Zuständigkeitsbereich des Kostenträgers, der für die zielführende Leistung, nämlich die Eingliederungshilfe, zuständig ist (§ 13 Abs. 3 S. 3 HS 2 SGB XI, § 103 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Seit 2020 sind dies die Träger der Eingliederungshilfe (§ 94 Abs. 1 SGB IX). Zum Ausgleich und zur Abgeltung der pflegebedingten Aufwendungen übernimmt die Pflegekasse für pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner, die in die Pflegegrade 2 bis 5 eingestuft sind, 15 Prozent der Vergütung, die nach den Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit dem Träger der Eingliederungshilfe vereinbart ist, höchstens jedoch 266 Euro monatlich. Im Gegensatz zu den ambulanten Pflegesachleistungen hat sich dieser Höchstbetrag in den vergangenen 27 Jahren kaum verändert. Er ist in dieser Zeit nur einmal, 2015, von 256 Euro auf 266 Euro erhöht worden. Im Hinblick auf die auch in den besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe gestiegenen Kosten der Pflege, hat sich damit im Laufe der Jahre der von den Pflegekassen zu tragende relative Anteil an diesen Kosten zunehmend verringert.[11]

§ 43a SGB XI steht in engem Zusammenhang mit § 103 Abs. 1 S. 2 SGB IX, wonach in den Fällen, in denen die Pflege in der besonderen Wohnform nicht mehr sichergestellt werden kann, die Pflegekasse und der Träger der Eingliederungshilfe mit dem Betreiber der besonderen Wohnform vereinbaren, dass die Leistung in einer anderen Einrichtung erbracht wird. Angemessenen Wünschen des Menschen mit Behinderungen ist dabei Rechnung zu tragen. Für einen Menschen mit Behinderungen, der den größten Teil seines Lebens in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe verbracht hat, kann diese Regelung unter Umständen bedeuten, dass er sein vertrautes Lebensumfeld verlassen und in ein Pflegeheim umziehen muss.

V. Verfassungswidrigkeit von § 43a SGB XI

Pflegebedürftige Versicherte, die in den von § 43a SGB XI erfassten Wohnformen der Eingliederungshilfe leben, erhalten deutlich weniger Versicherungsleistungen als solche, die in vollstationären Pflegeeinrichtungen leben (dort nach § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI bis zu 2.005 Euro monatlich) oder die häuslich gepflegt werden (in diesem Fall nach § 36 Abs. 3 SGB XI bis zu 2.095 Euro monatlich). Schon bei der Einführung von § 43a SGB XI waren deshalb Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift geäußert worden. Das BSG hat die Regelung jedoch in einem Urteil aus dem Jahr 2001[12] als verfassungskonform angesehen.

Inzwischen ist die UN-BRK in Kraft getreten.[13] Sie ist seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendes Recht und daher bei der Auslegung der Grundrechte zu beachten.[14] Umstritten ist in der Literatur dennoch nach wie vor, ob § 43a SGB XI mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

1. Gutachten von Prof. Dr. Felix Welti von September 2015

In seinem für den Landeswohlfahrtsverband Hessen erstellten Rechtsgutachten von September 2015[15] kommt Prof. Dr. Felix Welti zu dem nach Auffassung der Autorin überzeugenden Ergebnis, dass § 43a SGB XI gegen das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG, gegen die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, gegen das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sowie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.[16]

Den Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit begründet Welti damit, dass § 43a SGB XI und § 103 Abs. 1 S. 2 SGB IX (zum Zeitpunkt des Gutachtens inhaltsgleich geregelt in § 55 S. 2 SGB XII) im Zusammenwirken zur Folge haben können, dass ein pflegebedürftiger Mensch mit Behinderungen nicht in seiner Wohneinrichtung bleiben kann, sondern in ein Pflegeheim ziehen muss. Damit sei die von Art. 11 Abs. 1 GG geschützte freie Wahl des Wohnorts betroffen.[17]

Einen Verstoß gegen das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sieht Welti darin, dass dieses Grundrecht auch dagegen schützt, unnötig in eine Pflichtversicherung einbezogen zu sein. Das könne der Fall sein, wenn Beitrag und Leistung nicht im Verhältnis zueinander stünden.[18]

Gegen das besondere Benachteiligungsverbot von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) sowie das allgemeine Gleichbehandlungsgebot von Art. 3 Abs. 1 GG verstößt § 43a SGB XI nach Auffassung von Welti deshalb, weil die Vorschrift Menschen mit Behinderungen, die in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, gegenüber Menschen mit Behinderungen sowie anderen Pflegebedürftigen, die häuslich gepflegt werden oder in einem Pflegeheim leben, benachteilige.[19]

Besonders schwerwiegend wirken sich die genannten Grundrechtsverstöße nach Ansicht von Welti jeweils für die Gruppe der Selbstzahlenden aus. Da sie keinen Anspruch auf die bedarfsdeckenden Leistungen der Eingliederungshilfe hätten, sei bei ihnen der Leistungsumfang der Pflegeversicherung unangemessen beschränkt.

Zutreffend bejaht Welti in seinem Gutachten ebenfalls einen Verstoß von § 43a SGB XI gegen Art. 5 UN-BRK (Diskriminierungsverbot), Art. 25 UN-BRK (Recht auf Gesundheit) sowie Art. 19 UN-BRK (Recht auf unabhängiges Leben in der Gemeinde).[20]

2. Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes von Mai 2020

Demgegenüber hält der Wissenschaftliche Dienst des Landtages Rheinland-Pfalz § 43a SGB XI grundsätzlich für verfassungsgemäß. Nach dem dortigen Rechtsgutachten von Mai 2020[21] wird § 43a SGB XI nur in Bezug auf die Gruppe der pflegebedürftigen pflegeversicherten Selbstzahlenden für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten, weil bei dieser ein deutliches Missverhältnis von Versicherungspflicht und Versicherungsleistung sowie eine Ungleichbehandlung gegenüber in anderen Wohnsituationen befindlichen pflichtversicherten pflegebedürftigen Selbstzahlenden bestehe. Der übergeordnete Zweck der Pflichtversicherung, Schutz gegen das Risiko vor Pflegebedürftigkeit zu gewähren, werde deshalb nur unzureichend erfüllt. Für die betreffende Personengruppe wird deshalb – unter Beibehaltung des Regelungskomplexes im Übrigen – die Einführung eines Härteausgleichs angeregt.[22]

VI. Vereinbarkeit von § 43a SGB XI mit dem BTHG

Unabhängig von der Frage, ob § 43a SGB XI verfassungswidrig ist, stellt sich sozialpolitisch die Frage, ob die Sonderregelung des § 43a SGB XI heute noch zeitgemäß und insbesondere vereinbar ist mit der neuen Personenzentrierung, die seit 2020 in der Eingliederungshilfe aufgrund des BTHG gilt.

Bereits seit seiner Einführung ist § 43a SGB XI beständiger Gegenstand von Reformvorschlägen. Eine Neuregelung gestaltet sich allerdings schwierig, da jede Veränderung des § 43a SGB XI die Abgrenzung zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und denjenigen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach dem SGB IX betrifft und damit nicht nur die Interessen der pflegebedürftigen Menschen mit Behinderungen selbst, sondern auch die der jeweiligen Kostenträger, mithin also der Pflegekassen und der Träger der Eingliederungshilfe, berührt. Insbesondere mit Blick auf die Finanzlage der Pflegeversicherung wird eine Streichung von § 43a SGB XI deshalb als politisch fraglich angesehen.[23]

Bedauerlicherweise haben jedoch weder die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch das BTHG den Gesetzgeber dazu bewogen, § 43a SGB XI dem Grunde nach zu verändern. Stattdessen wurde die bisherige Rechtslage dadurch verfestigt, dass die Vorschrift nunmehr auch auf Räumlichkeiten i. S. d. § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI Anwendung findet, was der Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtswirkungen der Norm dient[24] und ungewollte Lastenverschiebungen zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung verhindert. Im Ergebnis ist damit bei der Pflegeversicherung alles beim Alten geblieben, während in der Eingliederungshilfe durch das BTHG die Personenzentrierung Einzug gehalten hat.[25] Dies führt zwangsläufig zu Reibungspunkten zwischen beiden Systemen. Die einrichtungsbezogene Betrachtungsweise, die der Definition von Räumlichkeiten i. S. d. § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI zugrunde liegt, steht der personenbezogenen Betrachtung des BTHG, wonach Leistungen unabhängig von der jeweiligen Organisationsform erbracht werden, diametral entgegen. Auch läuft die Vorschrift den Zielen der UN-BRK zuwider, Menschen mit Behinderungen so weit wie möglich gleichzustellen, in die allgemeinen Institutionen einzubeziehen und Sondereinrichtungen abzubauen oder umzuwandeln.[26]

VII. Fazit

Nach der hier vertretenen Auffassung verstößt § 43a SGB XI gegen das Grundgesetz und die UN-BRK. Besonders schwerwiegend wirkt sich die Vorschrift zu Lasten der Gruppe der Selbstzahlenden aus. Darüber hinaus ist die Vorschrift mit der neuen Personenzentrierung in der Eingliederungshilfe nicht vereinbar.

Zu begrüßen ist deshalb, dass der im vorliegenden Beitrag dargestellte Rechtsstreit dem BSG Anlass bietet, die Verfassungsmäßigkeit von § 43a SGB XI erneut auf den Prüfstand zu stellen. Wünschenswert wäre, wenn das Gericht dabei neben dem Grundgesetz auch die UN-BRK und die neuen Rechtsentwicklungen in der Eingliederungshilfe berücksichtigt. Eine vertiefte Auseinandersetzung hiermit lassen die Entscheidungsgründe des LSG-Urteils leider vermissen.[27]

Beitrag von Katja Kruse, Rechtsanwältin und Leiterin Abteilung Recht und Sozialpolitik beim Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm)

Fußnoten

[1] Zur besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Beitrag der Begriff der besonderen Wohnformen verwendet, der sich in der Behindertenhilfe für diese Wohnsettings seit dem Inkrafttreten des BTHG zum 01.01.2020 etabliert hat (siehe dazu die Ausführungen in diesem Beitrag unter V.) Rechtlich korrekt handelt es sich im Kontext der Pflegeversicherung bei diesen Wohnformen um „Räumlichkeiten i. S. d. § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI“.

[2] SG Nürnberg, Gerichtsbescheid vom 30.07.2021 – S 19 P 132/20.

[3] Bayerisches LSG, Urteil vom 22.09.2022 – L 4 P 56/21.

[4] Verweis auf BSG, Urteil vom 26.04.2001 – B 3 P 11/00 R.

[5] Die Revision ist beim BSG unter dem Aktenzeichen B 3 P 9/22 R anhängig.

[6] PSG III vom 23.12.2016 – BGBl. I S. 3191.

[7] BTHG vom 23.12.2016 – BGBl. I S. 3234.

[8] Bundestags-Drucksache 18/9518, 69.

[9]  Vgl. § 42a Absätze 5 und 6 SGB XII sowie § 113 Abs. 5 SGB IX.

[10] Vgl. BSG, Urteil vom 20.04.2016 – B 3 P 1/15 R.

[11] Giesbert in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 67. Ed., Stand 01.12.2022, SGB IX, § 43a, Rn. 4.

[12] BSG, Urteil vom 26.04.2001 – B 3 P 11/00 R.

[13] BGBl. II 2008, S. 1419; II 2009, S. 812 (Bekanntmachung über das Inkrafttreten).

[14] BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04; BVerfGE 11, 307 („Görgülü).

[15] Welti, Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach §§ 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung – und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach § 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe – Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), Gutachten für den Landeswohlfahrtsverband Hessen, September 2015, abrufbar unter: www.bagues.de, zuletzt abgerufen am 08.08.2023.

[16] Welti, Rechtsgutachten, S. 64 f.

[17] Welti, Rechtsgutachten, S. 41.

[18] Welti, Rechtsgutachten, S. 46.

[19] Welti, Rechtsgutachten, S. 61 und 64.

[20] Welti, Rechtsgutachten, S. 69.

[21] Wissenschaftlicher Dienst des Landtags Rheinland-Pfalz, Vereinbarkeit des § 43a Sätze 1–3 SGB XI mit dem Grundgesetz und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), Rechtsgutachten vom 13.05.2020, Az. 52–1714 abrufbar unter: www.landtag.rlp.de, zuletzt abgerufen am: 08.08.2023.

[22] Wissenschaftlicher Dienst des Landtags Rheinland-Pfalz, Rechtsgutachten, S. 46.

[23] Fuchs: Zur Forderung nach Streichung des § 43a SGB XI; Beitrag A5-2023 unter www.reha-recht.de; 21.04.2023, S.10.

[24] Bundestags-Drucksache 18/9518, 69.

[25] Siehe dazu auch Kruse, Der neue Anwendungsbereich von § 43a SGB XI: Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes nach § 71 Abs. 5 S. 1 SGB IX in Kraft, in: RdLH 1/2020, S. 1 ff. (1).

[26] Welti: Sonderregelung für pflegebedürftige behinderte Menschen in Behinderteneinrichtungen § 43a SGB XI verstößt gegen Grundgesetz und UN-BRK; Beitrag D36-2016 unter www.reha-recht.de; 27.09.2016, S. 7.

[27] So auch Köhler, Kein Anspruch auf Pflegegeld in einer besonderen Wohnform, in: RdLH 2/2023, S. 75 ff. (77).


Stichwörter:

Pflegeversicherung, Pflegegeld, Wohneinrichtung der Behindertenhilfe, Stationäre Einrichtung, individuelles Wohnumfeld, Eingliederungshilfe, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Grundrechte, Recht auf Freizügigkeit


Kommentare (1)

  1. Petra Bonk
    Petra Bonk 15.09.2023
    Ich nehme an, dass die Angehörigen in diesem Fall auch die Pflegekosten selber zahlen.
    Das Problem ist, dass wahrscheinlich keine*r der Mitarbeiter*innen in der "Besonderen Wohnform" eine Pflegeausbildung hat und die Angehörigen deshalb einen Pflegedienst engagiert haben.
    Das Urteil nur diese Pauschale zu zahlen ist eine sagenhafte Frechheit.
    Ich kenne es von Hamburger Wohngruppen, dass Bewohner ambulantisiert werden und durch einen Pflegedienst betreut werden.
    Allerdings wohnen diese Bewohner in einer Mischform von ambulant betreuten Bewohnern und der "Besonderen Wohnform". Ich könnte mir vorstellen, dass in der "Besonderen Wohnform" Menschen einzeln ambulantisiert werden und trotzdem weiter die Assistenz durch die stationäre Wohnform erhalten.

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