23.11.2023 A: Sozialrecht Dittmann, Fuchs: Beitrag A12-2023
Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 SGB V – Teil I: Die Einordnung als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
In dieser dreiteiligen Beitragsreihe gehen René Dittmann (Universität Kassel) und Prof. Dr. Harry Fuchs (Düsseldorf) der Frage nach, ob Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Sinne des SGB IX sind und welche Folgen gegebenenfalls daraus erwachsen.
Dazu stellen die Autoren im ersten Beitragsteil ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.3.2018 (B 3 KR 18/17 R) vor, in dem es die Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 SGBV als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation einordnete. Sie würdigen diese Entscheidung mit Blick auf das Verhältnis von SGB V und SGB IX, befassen sich mit den vom Bundessozialgericht aufgezeigten Kriterien zur Unterscheidung von Hilfsmitteln zur Krankenbehandlung und zum Behinderungsausgleich und gehen auf die Frage der „isolierten“ Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der Gesetzlichen Krankenversicherung ein.
(Zitiervorschlag: Dittmann, Fuchs: Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 SGB V – Teil I: Die Einordnung als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation; Beitrag A12-2023 unter www.reha-recht.de; 23.11.2023)
I. Einleitung
Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 15. März 2018 entschieden, dass Hilfsmittel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auch losgelöst von einem kurativen Untersuchungs- und Behandlungskonzept als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation einzuordnen sind, wenn sie dem Ausgleich einer Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens dienen.[1]
In drei Beitragsteilen werden die Einordnung der Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vorgestellt und gewürdigt (Teil I) sowie die sich daraus ergebenden Folgen für den krankenversicherungsrechtlichen Hilfsmittelanspruch (Teil II) und für die Verfahrenspflichten der Krankenkassen aufgezeigt (Teil III). Dabei werden im Wesentlichen die Erkenntnisse eines für den Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen erstellten Rechtsgutachtens zur Hilfsmittelversorgung in der GKV verarbeitet.[2]
II. Das Urteil des BSG vom 15. März 2018 – Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 SGB V sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Der Entscheidung des BSG v. 15. März 2018 lag ein Streit über die Versorgung des Klägers durch die beklagte Krankenkasse mit einer Unterschenkelprothese und einem Prothesenfuß zugrunde. Fraglich war insbesondere, ob die Krankenkasse aufgrund einer Genehmigungsfiktion gem. § 13 Abs. 3a SGB V[3] zur Versorgung mit diesem Hilfsmittel verpflichtet war.
Das Sozialgericht Speyer und das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz bejahten dies. Die Prothesen seien keine Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, da sie dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienen, bei dem der rehabilitative Charakter im Hintergrund stehe. Die Anwendung der Genehmigungsfiktion sei daher nicht gem. § 13 Abs. 3a S. 9 SGB V ausgeschlossen.[4]
Mit ihrer Revision rügte die Krankenkasse die Entscheidung des LSG. Die Prothesen seien eine nach Maßgabe des SGB IX zu würdigende Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Bei der Versorgung mit diesen Hilfsmitteln gehe es nicht um eine Akutbehandlung oder die Verhinderung des Eintritts einer Behinderung, „sondern um die Förderung der Selbstbestimmung und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie die Vermeidung und das Entgegenwirken von Benachteiligungen, also um Ziele, wie sie der Gesetzgeber für das SGB IX formuliert habe.“[5]
Das BSG entschied, dass sich das Versorgungsbegehren des Klägers nicht mit Erfolg auf die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V stützen lasse, denn Leistungen zur medizinischen Rehabilitation seien insgesamt nicht vom Anwendungsbereich dieser Norm erfasst.[6] Zu diesen Leistungen gehören auch Hilfsmittel, die der Sicherung des Erfolgs einer Heilbehandlung dienen (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX), die einer Behinderung vorbeugen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 SGB V, § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) oder eine Behinderung ausgleichen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V, § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).[7] Da die Prothesen dem Behinderungsausgleich dienen, finde die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V folglich keine Anwendung.[8]
1. Differenzierung der Hilfsmittel in § 33 Abs. 1 SGB V nach Funktionalität und Zwecksetzung
Die Entscheidung des Senats basiert auf der Feststellung, dass zwar nach ständiger Rechtsprechung Hilfsmittel der GKV (§ 33 SGB V) zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gehören können, die Hilfsmittelversorgung in der GKV aber systematisch der Krankenbehandlung zugeordnet ist (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V). Gleichwohl seien in § 33 Abs. 1 SGB V unterschiedliche Zielrichtungen der Hilfsmittel angelegt, weshalb eine systemgerechte Zuordnung zur Krankenbehandlung oder medizinischen Rehabilitation einer Differenzierung nach Funktionalität und Zwecksetzung bedürfe.[9]
Demnach seien Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V) keine Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Hilfsmittel verfolgen dieses Ziel, „wenn sie im Rahmen einer Krankenbehandlung, dh zu einer medizinisch-therapeutischen Behandlung einer Erkrankung als der Kernaufgabe der GKV nach dem SGB V eingesetzt werden.“[10]
Davon zu unterscheiden sind Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs einer Heilbehandlung (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX), „die als Leistung zur medizinischen Rehabilitation zB im Rahmen einer stationären oder ambulanten medizinischen Rehabilitation nach § 40 Abs 1 und 2 SGB V von der GKV erbracht [werden].“[11]
Aber auch losgelöst von einem kurativen Untersuchungs- oder Behandlungskonzept werden Hilfsmittel als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbracht, wenn sie der Vorbeugung oder dem Ausgleich einer Behinderung dienen. Primäres Ziel sei hierbei nicht das Erkennen, Heilen, Verhüten oder Lindern von Krankheit im Sinne von § 27 SGB V, sondern Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB V, §§ 4 Abs. 1 Nr. 1, 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX).
„Als Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist das Hilfsmittel dann unter Beachtung der Regelungen des SGB IX zu erbringen (§ 11 Abs 2 S 3 SGB V). Maßgeblich ist demnach - vereinfacht gesagt -, ob entweder mit dem Hilfsmittel positiv auf eine Krankheit eingewirkt werden soll oder ob vielmehr eine Behinderung ausgeglichen oder sonst günstig beeinflusst oder ihr Eintritt verhindert werden soll. Diese Differenzierung basiert im Wesentlichen auf der Unterscheidung zwischen Krankheit und Behinderung“.[12]
Das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal der Begriffe Krankheit und Behinderung sieht der Senat in der auf einer (Funktions-)Abweichung beruhenden Teilhabebeeinträchtigung, die ausschließlich zur Charakteristik der Behinderung gehöre.[13]
„Leistungen zur Rehabilitation werden deshalb nach dem SGB IX auch als Leistungen zur Teilhabe bezeichnet. Sie zielen auf die Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 1 SGB IX). Wegen der fließenden Übergänge und Überschneidungsbereiche zwischen Krankenbehandlung und Rehabilitation ist auf den Schwerpunkt und die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahme abzustellen.“[14]
2. Schwerpunkt und Zielsetzung der Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich
Vor diesem Hintergrund gehören „Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich iS von § 33 Abs 1 S 1 Var 3 SGB V zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“.[15]
„Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich […] werden nicht mit dem vorrangigen Ziel eingesetzt, auf die Krankheit, dh auf den regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand als solchen, kurativ-therapeutisch einzuwirken. Sie sollen vielmehr in erster Linie die mit diesem regelwidrigen Zustand bzw mit der Funktionsbeeinträchtigung verbundene (oder im Falle der Vorbeugung zu erwartende) Teilhabestörung ausgleichen, mildern, abwenden oder in sonstiger Weise günstig beeinflussen, um die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern und Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (vgl § 1 SGB IX). Bei der Beurteilung eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich […] ist daher dem Teilhabeaspekt die nach dem SGB IX vorgesehene Bedeutung zuzumessen. Ein Einsatz im Rahmen einer ambulanten oder stationären Rehabilitationsmaßnahme in einer entsprechenden Rehabilitationseinrichtung ist nicht erforderlich.“[16]
In dieser systematischen Abgrenzung und der teilweisen Zuordnung der Hilfsmittel in § 33 Abs. 1 SGB V sieht sich der Senat durch die Rehabilitations-Richtlinie und die Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bestätigt.[17]
Anders als von den Instanzgerichten vorgebracht, komme es hierbei im Übrigen nicht auf die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich an, da auch beim unmittelbarem Behinderungsausgleich nicht die Krankheitsbehandlung, sondern der Bezug zur Behinderung und seiner teilhabeorientierten Begriffsbestimmung nach dem SGB IX im Vordergrund stehen.[18] Das Funktionsdefizit wird hierbei (im Schwerpunkt) nicht kurativ behandelt: Auf den funktional beeinträchtigten Körperzustand wird nicht mit dem Ziel der Heilung oder Besserung eingewirkt, er bleibt vielmehr trotz Einsatzes des Hilfsmittels im Wesentlichen unverändert. Stattdessen soll mit dem Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion ersetzt oder ausgeglichen werden, um die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen oder zu verbessern. Folglich setze ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich „vorrangig erst an den Folgen des medizinisch dann häufig schon austherapierten regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands an und dient nicht (mehr) dessen Behandlung oder gar Wiederherstellung.“[19]
III. Einordnung und Würdigung der Entscheidung
Die BSG-Entscheidung v. 15. März 2018 ist richtungsweisend, denn sie liefert wichtige Aussagen und Erkenntnisse zum Verhältnis von SGB IX und SGB V sowie zur Abgrenzung von Leistungen zur Krankenbehandlung zu denen der medizinischen Rehabilitation und trägt zum gesetzgeberischen Ziel bei, trotz des gegliederten Rehabilitationssystems, ein möglichst einheitliches Rehabilitations- und Teilhaberecht zu schaffen[20].
1. Das Verhältnis von SGB IX und SGB V
Das Verhältnis der Regelungen von SGB V und SGB IX wirft immer wieder Fragen auf.[21] Zu deren Beantwortung sind § 7 SGB IX und § 11 Abs. 2 SGB V heranzuziehen.
Gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gilt das SGB IX, Teil 1 für alle Leistungen zur Teilhabe, soweit sich aus den jeweiligen Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für Teilhabeleistungen richten sich hingegen allein nach den Leistungsgesetzen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).
Dementsprechend regelt allein das SGB V, ob und unter welchen Voraussetzungen die Krankenkassen für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (vgl. §§ 5 und 6 SGB IX) zuständig sind. Beispielsweise ist allein das SGB V heranzuziehen, wenn es um die Frage geht, ob die Krankenkassen für Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation zuständig sind und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen (siehe dazu § 40 Abs. 2 SGB V).
Das SGB IX, Teil I trifft aber grundsätzlich auch gar keine Aussagen zur Zuständigkeit von Rehabilitationsträgern für einzelne Teilhabeleistungen (Ausnahme z. B. in § 63 SGB IX) und ist kein Leistungsgesetz.[22] Es enthält stattdessen Regelungen, mit denen insbesondere die Inhalte und Ziele der Teilhabeleistungen – trotz gegliedertem Rehabilitationssystem – vereinheitlicht werden sollen[23] sowie ein gegenüber den Leistungsgesetzen vorrangiges Rehabilitationsverfahrensrecht (vgl. § 7 Abs. 2 SGB IX). Das heißt, im SGB IX steht, welche Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gehören und welche Ziele damit verfolgt werden (§§ 42 ff. SGB IX).[24] Danach gehören zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation die Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens (§§ 42 Abs. 2 Nr. 6, 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX). Dies gilt somit auch für die Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich in der GKV, es sei denn, das SGB V würde (explizit und klar geregelt[25]) etwas anderes vorsehen (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i. V. m. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V).
2. Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im SGB V
Vor dem Hintergrund von § 7 Abs. 1 SGB IX ist erstens zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Krankenkassen nach dem SGB V für Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens (§ 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB V) zuständig sind und zweitens, ob das SGB V abweichende Vorgaben bezüglich ihrer Einordnung als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation macht.
Die erste Frage ist unstrittig zu bejahen[26] und muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Bezüglich der Zuordnung der Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX hat das BSG jedoch zurecht darauf hingewiesen, dass Hilfsmittel im Recht der GKV systematisch der Krankenbehandlung zugeordnet sind (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V). Allerdings gilt dies auch für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation selbst (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V). Insoweit kann der Verweis darauf kein eindeutiges Ergebnis zugunsten einer Abweichung im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erzielen.[27]
Gleichwohl ist anzuerkennen, dass in § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V die Hilfsmittel (Nr. 3) und die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Nr. 6) voneinander getrennt erwähnt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V auf das Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988[28] zurückgeht. Seitdem hat sich jedoch außerhalb von § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V einiges getan. Insbesondere wurde mit Gesetz vom 22. Juni 2001 das SGB IX geschaffen.[29] Damit strebte der Gesetzgeber explizit an, Inhalte und Ziele der Teilhabeleistungen zu vereinheitlichen.[30] Mit dem Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016[31] wurde dieses Ziel hervorgehoben: „Konvergenz der Teilhabe- und Rehabilitationsleistungen sind Kernziele und Kernelemente des SGB IX“[32].
Dementsprechend kann das Vorliegen einer Abweichung im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht ohne Weiteres mit dem Verweis auf tradierte Strukturprinzipien eines Leistungsgesetzes begründet werden.[33] Richtigerweise hat der dritte Senat des BSG die verschiedenen Zielrichtungen der Hilfsmittel in § 33 Abs. 1 SGB V hervorgehoben und diese anhand ihrer Funktionalität und Zwecksetzung differenziert und entweder der Krankenbehandlung oder der medizinischen Rehabilitation zugeordnet.
3. Die maßgeblichen Entscheidungskriterien der Funktionalität und der Zwecksetzung von Leistungen
Das BSG differenziert die Hilfsmittelvarianten in § 33 Abs. 1 SGB V anhand ihrer Funktionalität und Zwecksetzung bzw. anhand des Schwerpunktes und der Zielsetzung. Hierbei ist eine Abgrenzung anhand der Ziele in § 42 Abs. 1 SGB IX und § 11 Abs. 2 SGB V wenig hilfreich, denn sie gelten sowohl für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wie auch für die Leistungen zur Krankenbehandlung (§ 43 SGB IX, § 40 Abs. 1 SGB V)[34]. Stattdessen ist damit vielmehr eine Unterscheidung anhand der Wirkweise der Hilfsmittel gemeint: Soll das Hilfsmittel auf eine Krankheit einwirken (Leistung zur Krankenbehandlung) oder eine Behinderung ausgleichen oder ihr vorbeugen (Leistung zur medizinischen Rehabilitation). Der Senat hat die diesbezüglichen Unterschiede in der Funktionalität/Zwecksetzung sehr konkret aufgezeigt[35] und damit auch über die Hilfsmittelversorgung hinaus wichtige Differenzierungskriterien zur Abgrenzung von Leistungen zur Krankenbehandlung zu denen der medizinischen Rehabilitation geliefert.
Explizit wurde in der Entscheidung herausgestellt, dass auch die Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zugeordnet werden.[36] Dieser Klarstellung bedurfte es, da das BSG selbst eine Definition dieser Hilfsmittel vornahm, die eine andere Einordnung durchaus nahelegt: Es fasste darunter Hilfsmittel,[37] mit denen ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktionen unmittelbar wiederhergestellt oder verbessert werden[38] und die damit unter den Rechtsbegriff der Krankenbehandlung fallen.[39] Insoweit hat der Senat eine Begriffsanpassung vollzogen, indem er richtigerweise feststellte, dass mit allen Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich nicht kurativ-therapeutisch auf einen Körperzustand eingewirkt wird, sondern dieser im Wesentlichen unverändert bleibt. Während beispielsweise im Rahmen einer ärztlichen Behandlung mit einer Kopforthese ein Kopf von einer asymmetrischen in eine symmetrische Form gebracht und damit positiv auf einen regelwidrigen Körperzustand eingewirkt werden soll,[40] wird mit einer Unterschenkelprothese eine Schädigung der Körperstruktur nicht geheilt, sondern der fehlende Unterschenkel ersetzt. Eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX bleibt bestehen, aber Teilhabe wird ermöglicht.
4. „Isolierte“ Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im SGB V
Bei der Versorgung durch die Krankenkassen mit Hilfsmitteln zum Ausgleich einer Behinderung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V handelt es sich stets um die Erbringung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Daran lässt das BSG in seinem Urteil vom 15. März 2018 keinen Zweifel.[41] Die Zuordnung eines Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 SGB V zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gilt aber eben nur dann, wenn es dem Behinderungsausgleich im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, der Vorbeugung einer Behinderung (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) oder der Sicherung des Erfolgs einer Heilbehandlung dient (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX). [42] Ein Hilfsmittel dient hingegen nicht der medizinischen Rehabilitation, wenn es eingesetzt wird, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V)[43] oder wenn es der Teilhabe am Arbeitsleben (§ 49 Abs. 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX), der Teilhabe an Bildung (§ 75 SGB IX) oder der Sozialen Teilhabe (§§ 76, 84 SGB IX) dient.[44]
Außerdem stellte der Senat klar, dass ein Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V auch dann eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist, wenn es als „isolierte Leistung“ erbracht wird: „Ein Einsatz im Rahmen einer ambulanten oder stationären Rehabilitationsmaßnahme in einer entsprechenden Rehabilitationseinrichtung ist nicht erforderlich“[45].
Dies betrifft eine Frage, die sich nicht nur im Bereich der Hilfsmittelversorgung stellt:[46] Sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nur solche, die in Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation erbracht werden (vgl. § 40 SGB V) oder mit diesen in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen und somit Teil einer „Komplexleistung“ sind? Auch zur Beantwortung dieser Frage gilt zunächst zu ermitteln, welche Regelung das SGB IX vorsieht und ob davon im SGB V abgewichen wird (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Das SGB IX steht jedenfalls der „isolierten“ Erbringung der Leistungen nach 42 Abs. 2 SGB IX nicht entgegen, weshalb jeweils zu begründen ist, ob und warum das SGB V etwas Abweichendes vorsieht. Für die Hilfsmittelversorgung fehlt jedenfalls eine solche Regelung (wie bspw. auch für die Arbeitstherapie;[47] anders gestaltet sich hingegen die Rechtslage zur Psychotherapie[48]). Folglich ist ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V auch dann eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation im Sinne von §§ 42, 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, wenn es ohne vorherige ambulante oder stationäre Rehabilitation gem. § 40 SGB V verordnet wird.[49]
5. Fazit
Mit der Entscheidung vom 15. März 2018 hat der dritte Senat des BSG klargestellt, dass die von den Krankenkassen zu erbringenden Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V (immer!) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind. Dies hat der Senat in weiteren Urteilen bestätigt[50] und wurde von den Sozial- und Landessozialgerichten[51] anerkannt.
Als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind diese „Hilfsmittel dann grundsätzlich unter Beachtung der Regelungen des SGB IX zu erbringen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V).“[52] Grundsätzlich heißt nicht, dass es Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich gibt, für die nicht das SGB IX anzuwenden ist, sondern dass die Leistungsgesetze gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IX abweichende Regelungen zum SGB IX enthalten können. Dies betrifft allerdings nicht die Verfahrensregelungen in §§ 9–24 SGB IX (z. B. die Regelungen zur umfassenden Bedarfsermittlung und -feststellung[53]), die gegenüber den Leistungsgesetzen und damit dem SGB V vorrangig sind (§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und bei jeder Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich anzuwenden sind.
Beitrag von René Dittmann (LL.M.), Universität Kassel und Prof. Dr. Harry Fuchs, Düsseldorf
Fußnoten
[1] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206.
[2] Fuchs/Dittmann, Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation im Recht der GKV, Gutachten für den Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen, 2023, abrufbar unter www.vdk.de/nrw/downloadmime/6679/Gutachten_Sozialverband_VdK_NRW.pdf, zuletzt abgerufen am 31.10.2023.
[3] Zur Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V, vgl. Lund, Beitrag A25-2021 vom 12.08.2021 unter www.reha-recht.de.
[4] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 3 f. Zum Ausschluss der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vom Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3a SGB V, vgl. Hamann, Beitrag A1-2019 vom 10.01.2019 unter www.reha-recht.de.
[5] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 6.
[6] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 11, 14-22.
[7] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 12, 31. Vgl. zur Abgrenzung der Hilfsmittelarten, Fuchs/Dittmann, Fn. 3, S. 22 ff.
[8] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 12, 23 ff.
[9] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 23.
[10] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 24.
[11] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 25.
[12] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 26.
[13] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 29.
[14] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 30.
[15] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 31.
[16] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 32.
[17] Vgl. BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 35–37.
[18] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 33.
[19] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 34.
[20] Vgl. Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 92, 100; Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 4, 192.
[21] Vgl. aktuell am Beispiel der stufenweisen Wiedereingliederung, ausführlich dazu Nebe/Albersmann/Dittmann, SGb 11/2023, 649 (656 und 657).
[22] Vgl. Bundestags-Drucksacke 14/5074, S. 100.
[23] Vgl. Bundestags-Drucksacke 14/5074, S. 92, 94, 100.
[24] Insofern das SGB V und das SGB IX, Teil I als unterschiedliche Leistungssysteme betrachtet werden, ist dies irreführend und entspricht nicht der Rechtslage (ebenso wenig, wie SGB I oder SGB IV im Verhältnis zum SGB V andere Leistungssysteme sind).
[25] Welti, in: Luthe (Hrsg.), Rehabilitationsrecht, 2. Auflage, 2015, Teil 2, Kapitel B, Rn. 41.
[26] Vgl. nur BSG, Urt. v. 10.9.2020 – B 3 KR 15/19 R –, juris, Rn. 16.
[27] Vgl. ausführlich Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung, S. 67 ff.
[28] BGBl. I, 2477.
[29] BGBl. I, 1046.
[30] Vgl. Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 100.
[31] BGBl. I, 3234.
[32] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 192.
[33] Welti, in: Luthe (Hrsg.), Rehabilitationsrecht, 2. Auflage, 2015, Teil 2, Kapitel B, Rn. 41. Vgl. zur Wirkung des Bundesteilhabegesetzes auf die selbst unveränderte krankenversicherungsrechtliche Genehmigungsfiktion in § 13 Abs. 3a SGB V, Lund, Beitrag A25-2021 vom 12.8.2021 unter www.reha-recht.de, S. 2 f.
[34] Vgl. Welti, in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann (Hrsg.), SWK Behindertenrecht, Medizinische Rehabilitation, Rn. 35.
[35] Vgl. II.2.
[36] Vgl. II.2.
[37] Die Differenzierung zwischen Hilfsmitteln zum unmittelbaren und mittelbaren Behinderungsausgleich schien aufgegeben, vgl. Dittmann, Beitrag A2-2022 vom 27.01.2022 unter www.reha-recht.de; Fuchs/Dittmann, S. 5. Zuletzt wurde aber wieder darauf abgestellt, siehe BSG, Urt. v. 14.06.2023 – B 3 KR 8/21 R –, juris, Rn. 16 f.
[38] BSG, Urt. v. 15.03.2018– B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 32.
[39] Vgl. BSG, Urt. v. 19.10.2004 – B 1 KR 28/02 R –, juris, Rn. 13 f.
[40] Vgl. BSG, Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 1/16 R –, juris, Rn. 27 f.
[41] Ganz eindeutig: BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 31.
[42] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 12
[43] Mit weiterem Nachweis, BSG, Urt. v. 15.03.2018– B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189–206, Rn. 24
[44] Vgl. BSG, Urt. v. 10.09.2020 – B 3 KR 15/19 R –, juris, Rn. 15.
[45] BSG, Urt. v. 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R –, BSGE 125, 189-206, Rn. 32.
[46] Sondern auch für alle anderen in § 42 Abs. 2 SGB IX genannten Leistungen, die auch Leistungen zur Krankenbehandlung nach dem SGB V sind. Ähnliche Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit der stufenweisen Wiedereingliederung, vgl. Nebe/Albersmann/Dittmann, SGb 11/2023, 649 (657).
[47] Vgl. im Ergebnis BSG, Urt. v. 13.09.2011 – B 1 KR 25/10 R –, BSGE 109, 122–133, Rn. 26.
[48] Vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2013 – B 1 KR 50/12 R –, SozR 4-3250 § 14 Nr 20.
[49] Zum Erfordernis der ärztlichen Verordnung eines Hilfsmittels, s. § 33 Abs. 5a SGB V.
[50] BSG, Urt. v. 08.08.2019 – B 3 KR 21/18 R –, juris, Rn. 17 ff.; BSG, Urt. v. 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R –, juris, Rn. 14 ff.
[51] Vgl. die Übersicht der jüngeren LSG-Entscheidungen zur Versorgung mit einem Handbike in Fuchs/Dittmann, Fn. 3, S. 57 ff.
[52] BSG, Urt. v. 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R –, juris, Rn. 19.
[53] Ausführlich dazu Fuchs/Dittmann, Fn. 3, S. 38 ff.
Stichwörter:
Hilfsmittel, Hilfsmittel (Rehabilitation), Hilfsmittelversorgung, Medizinische Rehabilitation, Medizinische Rehabilitationsleistungen, Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation, Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
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