28.09.2022 A: Sozialrecht Walling: Beitrag A13-2022

Wunschrecht und Mehrkosten in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenversicherung – Anmerkung zu SG Oldenburg, Urteil vom 13. Januar 2022 – S 63 KR 261/20

Der Autor Prof. Dr. Fabian Walling stellt in diesem Beitrag ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Oldenburg (Urteil vom 13. Januar 2022 – S 63 KR 261/20) vor und bespricht es. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob der Kläger die Mehrkosten einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einer von ihm gewünschten Rehabilitationseinrichtung zahlen muss oder ob sie von der Krankenkasse zu übernehmen sind. Entscheidungserheblich war dabei die Frage nach dem Verhältnis des Wunsch- und Wahlrechts (§ 8 SGB IX) zum Wirtschaftlichkeitsprinzip. Das SG verneinte einen zwingenden Vorrang von Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten und entschied, dass die Wünsche von Leistungsberechtigten mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot abzuwägen sind. In seiner Würdigung der Entscheidung befasst sich Walling mit dem Wunsch- und Wahlrecht nach § 8 SGB IX im Kontext der Konkretisierung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 Abs. 3 SGB V. Dabei verdeutlicht und betont er, dass und wie die Krankenkassen bei der Entscheidung über die Tragung von Mehrkosten einer Leistung Ermessenserwägungen unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts anzustrengen haben.

(Zitiervorschlag: Walling: Wunschrecht und Mehrkosten in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenversicherung – Anmerkung zu SG Oldenburg, Urteil vom 13. Januar 2022 – S 63 KR 261/20; Beitrag A13-2022 unter www.reha-recht.de; 28.09.2022.)

I. Thesen des Autors

Im Rahmen der Leistungskonkretisierung nach § 40 Abs. 3 S. 1 SGB V hat die Krankenkasse unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts berechtigten Wünschen Folge zu leisten und dabei angemessene Kosten in Kauf zu nehmen.

Die Auferlegung von Mehrkosten nach § 40 Abs. 2 S. 4 SGB V setzt voraus, dass eine Ermessensentscheidung über das Wunschrecht durchgeführt wurde.

Mehrkosten nach § 40 Abs. 2 S. 4 sind die Kosten zwischen einer Leistung, deren Kosten im Rahmen des Wunschrechts angemessen sind, und der gewählten Leistung.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Das SG Oldenburg[1] gab einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 1. und 3. Fall SGG gegen eine gesetzliche Krankenkasse wegen eines Mehrkostenbescheides statt. Es erklärte den Bescheid über die höheren Kosten einer stationären Anschlussrehabilitation wegen unterlassener Ermessensausübung für rechtswidrig und verurteilte die Beklagte, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

III. Die Entscheidung

Die Ehefrau des Klägers hatte bereits 2019 eine Anschlussrehabilitationsmaßnahme in der „Rehaklinik am Meer“ in B. Z. nach Hüft-Total-Endoprothese-Operation (Hüft-TEP-OP, im Krankenhaus in W.) durchgeführt. Als beim Kläger im Februar 2020 eine Hüft-TEP-OP durchgeführt wurde, wollte er diese ebenfalls in der „Rehaklinik am Meer“ in B. Z. durchführen, die nur 17,5 Km vom Krankenhaus in W. (W. ist auch der Wohnort des Klägers und seiner Frau) entfernt liegt. Die beklagte Krankenkasse erlies daraufhin einen Bescheid über die Kostenbeteiligung in Höhe von 101 € täglich. Vom Kläger seien Mehrkosten in Höhe von 30,43 € pro Tag zu tragen, da die B-Klinik in B. E. in gleicher Weise geeignet sei, die medizinisch notwendige Behandlung des Klägers durchzuführen. Die B-Klinik liegt 170 KM vom Krankenhaus in W. entfernt. Über den möglichen Aufnahmetermin in der B-Klinik besteht Streit. Der Kläger berief sich bei der Klage auf die fehlende und nicht im Widerspruchsverfahren nachholbare Ermessensausübung der Beklagten, den kürzeren Transportweg, die Wohnortnähe, die besondere medizinisch Eignung der von ihm ausgewählten Einrichtung und eine frühzeitige Aufnahme in der „Rehaklinik am Meer“ in B. Z. Die Beklagte machte im Wesentlichen geltend, die Nennung einer Vergleichsklinik sei angesichts des bereits im Antrag geäußerten Wunschs nach einer Behandlung in der „Rehaklinik am Meer“ in B. Z. nicht erforderlich gewesen, die angebotene Klinik in B. E erfülle alle Voraussetzungen für die Behandlung und sei wirtschaftlicher als die Leistung der Klinik in B. Z. Damit sei dem Wunsch- und Wahlrecht des Klägers genüge getan.

Das SG Oldenburg führt aus, dass § 40 Abs. 2 S. 4 SGB V eine besondere Regelung zum Wunsch- und Wahlrecht enthalte. Danach haben Versicherte, die eine zertifizierte stationäre Rehabilitationseinrichtung in Anspruch nehmen, die Merkosten nur insoweit zu tragen, als diese nicht im Hinblick auf die Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 8 SGB IX angemessen sind. Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte seien dabei nicht zwingend vorrangig, sondern in Abwägung mit den Belangen zu berücksichtigen, denen das Gesetz im Rahmen der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts besondere Bedeutung beimisst.

Hier habe die Beklagte ein Ermessen nicht ausgeübt. Der bloße Hinweis auf die geringeren Kosten der B.-Klinik in B. E. reiche hierfür nicht aus. Die Beklagte verkenne ferner die Gewichtung der Wirtschaftlichkeit im Vergleich zum Wunsch- und Wahlrecht. Das Wunsch- und Wahlrecht gehe mit der Einführung des Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) zum 16. Juli 2015 ausdrücklich dem Wirtschaftlichkeitsgebot vor. Die dem entgegenstehende Rechtsprechung des 1. Senats[2] sei mit dieser Gesetzesänderung überholt. Über die Angemessenheit der Wahl und Wünsche der Leistungsberechtigten und der dadurch entstehenden Mehrkosten sei im Einzelfall in Abwägung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu entscheiden.

IV. Würdigung

Dem Urteil ist zuzustimmen.

Ermächtigungsgrundlage für die (hälftige) Mehrkostenforderung gegen Leistungsberechtigte in der gesetzlichen Krankenversicherung ist § 40 Abs. 2 S. 4 SGB V. Die Mehrkostentragung wird dabei ausdrücklich für solche Mehrkosten ausgeschlossen, die im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts nach § 8 SGB IX zu tragen sind. Dabei ist begrifflich zu trennen: Während das Wunschrecht nach § 8 Abs. 1 SGB IX sich auf die Art der Leistungsausführung bezieht, räumt das Wahlrecht nach § 8 Abs. 2 SGB IX das Recht ein, statt der Sachleistung eine Geldleistung zu wählen.[3] Das Wunschrecht wiederum ist in § 33 SGB I einerseits und für die Leistungen zur Teilhabe spezieller in § 8 Abs. 1 SGB IX andererseits geregelt, wobei angesichts dieser Überschneidung von einem Recht der objektiven Individualisierung nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB I und der subjektiven Individualisierung nach § 8 Abs. 1 SGB IX auszugehen ist.[4]

Bei der subjektiven Individualisierung nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist davon auszugehen, dass alle Wünsche, die sich im Rahmen des Leistungsrechts bewegen, berechtigt sind. Gegebenenfalls hat der Leistungsträger den Gegenbeweis anzutreten.[5] Die Merkmale der in § 8 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX genannten Lebenssituationen haben hierbei besonderes Gewicht. Im vorliegenden Fall wäre angesichts der langen Fahrzeit insbesondere das auch grundgesetzlich geschützte Recht auf Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) besonders hervorzuheben.

Die Ermessensentscheidung über die Konkretisierung der Leistung nach § 40 Abs. 3 S. 1 SGB V unter Beachtung des Wunschrechts unterliegt der vollen Überprüfbarkeit des Gerichts.[6] Im Anschluss an die Entscheidungen des Bundessozialgerichts über die Nachrangigkeit[7] des Wunsch- und Wahlrechts im Rahmen dieser Ermessensentscheidung hat der Gesetzgeber dessen Wirkung mehrfach klargestellt.[8] Mit dem GKV-WSG wurde den Versicherten ermöglicht, eine andere zertifizierte Rehabilitationseinrichtung in Anspruch zu nehmen, mit der kein Vertrag der jeweiligen Krankenkasse besteht, wenn die Versicherten die Mehrkosten tragen.[9] Dieses Recht wurde durch das GKV-VSG auf Einrichtungen mit oder ohne Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V ausgedehnt.[10] Durch die Klarstellung, dass solche Mehrkosten nicht auferlegt werden können, die im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts anfallen, müssen nunmehr eindeutig auch im Rahmen der Mehrkostenentscheidung Ermessenserwägungen angestrengt werden.[11] Entscheidungen über die Nachrangigkeit des Wunsch- und Wahlrechts sind überholt.[12]

Damit können höhere Kosten grundsätzlich berechtigt im Rahmen der Leistungskonkretisierung sein[13] und damit nicht dem Mehrkostenbegriff des § 40 Abs. 2 S. 4 SGB V entsprechen. Als Mehrkosten sind nur solche hälftig zu tragen, soweit sie nicht berechtigt sind.[14]

Die Ermessensausübung wird inhaltlich in § 39 Abs. 1 und 2 SGB I geregelt.[15] Formell fordert § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X, dass die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Hier wäre daher eine Begründung erforderlich gewesen, die auch auf entsprechende Vergleichsrechnungen Bezug nimmt. Von den typischen Ermessensfehlern liegt hier die Ermessensunterschreitung – gelegentlich auch als Ermessensnichtgebrauch bezeichnet[16] – vor, die zur Rechtswidrigkeit des Bescheids führte.

Das SG Oldenburg hat zu Recht festgestellt, dass das Ermessen hier nicht ausgeübt wurde und der Bescheid daher rechtswidrig sei. Der bloße Hinweis, dass die von der beklagten Krankenkasse ausgewählte Klinik kostengünstiger sei, ersetzt eine solche Ermessensentscheidung nicht und verkennt darüber hinaus die Gewichtung der Wirtschaftlichkeit im Vergleich zum Wunschrecht. Bei der notwendigen Ermessens­entscheidung müssen berechtigte Wünsche berücksichtigt werden und lediglich solche Kosten, die nicht berechtigt sind, als Mehrkosten hälftig auf den Versicherten abgewälzt werden.[17] Gesichtspunkte bei der Vergleichsberechnung werden neben den unterschiedlichen Vergütungssätzen – bei vergleichbaren Leistungen – hier auch die Fahrtkosten sein, soweit diese den Eigenanteil nach § 60 SGB V übersteigen.

Beitrag von Prof. Fabian Walling, Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg 

Fußnoten

[1] SG Oldenburg, Urteil vom 13. Januar 2022 – S 63 KR 261/20 –, juris.

[2] BSG, Urt. vom 7. Mai 2013 – B 1 KR 12/12 R, zuletzt abgerufen am 28.09.2022.

[3] Dazu NPGWJ/Jabben SGB IX § 8 Rn. 1–13.

[4] Dazu Walling, Das Prinzip der Individualisierung von Leistungen zur Teilhabe in der gesetzlichen Rentenversicherung, 2016, S. S. 401 ff.

[5] Walling, a. a. O., S. 421 m. w. N.

[6] Spickhoff/Nebendahl SGB V § 40 Rn. 23.

[7] Z. B. Urteil vom 07.05.2013, B 1 KR 12/12 R, NJOZ 2014, 671.

[8] Vgl. dazu Walling, a. a. O., S. 528 mit Hinweis auf Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 2. Anders: SG Oldenburg, a.a.O., Rn. 18, das von einer Rechtsänderung ausgeht.

[9] GKV-WSG, v. 26.03.2007, BGBl. 2007, 378.

[10] GKV-VSG, v. 16.07.2015, BGBl. 2015, 1211.

[11] LPK-SGB V/Christine Hellkötter-Backes SGB V § 40 Rn. 20–22.

[12] Krauskopf/Wagner SGB V § 40 Rn. 11, 12; Becker/Kingreen/Welti SGB V § 40 Rn. 26 mit Hinweis auf Bundestags-Drucksache 18/4095, 77.

[13] Ruland/Becker/Axer – Welti, Sozialrechtshandbuch, 7. A. Rn. 69; Krauskopf/Wagner SGB V § 40 Rn. 12.

[14] Becker/Kingreen/Welti SGB V § 40 Rn. 26 a.

[15] Krauskopf/Baier SGB I § 39 Rn. 6.

[16] Dazu KassKomm/Spellbrink SGB I § 39 Rn. 15.

[17] Vergl. dazu Walling, a. a. O., S. 524, der für Massenverwaltungen vorschlägt, 20 % höhere Kosten stets als „verhältnismäßig“ anzusehen.


Stichwörter:

Medizinische Rehabilitation, Wunsch- und Wahlrecht, Angemessener Wunsch, Mehrkosten, Wirtschaftlichkeitsgebot, § 8 SGB IX


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