19.01.2021 A: Sozialrecht Waßer: Beitrag A2-2021

Die Zuständigkeitsklärung in §§ 14, 15 SGB IX nach dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) – Teil I: Leistender Rehabilitationsträger

Dr. Ursula Waßer, Richterin am Bundessozialgericht, setzt sich in dem zweiteiligen Beitrag mit den Veränderungen der Regelungen zur Zuständigkeitsklärung durch das Bundesteilhabegesetz auseinander. Dabei überprüft sie, ob bestehende Rechtsprobleme gelöst werden konnten und ob ggfs. neue Rechtsprobleme entstanden.

In diesem Teil des Beitrags untersucht die Autorin die Veränderungen bezüglich der Möglichkeiten einer Antragsweiterleitung durch den erstangegangenen Rehabilitationsträger (§ 14 Abs. 1 SGB IX) und den zweitangegangenen Rehabilitationsträger (§ 14 Abs. 3 SGB IX).

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag der Autorin, den sie auf dem Kontaktseminar des Deutschen Sozialrechtsverbands e.V. im Februar 2020 im Bundessozialgericht in Kassel gehalten hat und der bereits in Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2020, S. 182–187 erschienen ist. Wir danken der Redaktion von Sozialrecht aktuell, dem Deutschen Sozialrechtsverband e.V. und Frau Dr. Waßer für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.

(Zitiervorschlag: Waßer: Die Zuständigkeitsklärung in §§ 14, 15 SGB IX nach dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) – Teil I: Leistender Rehabilitationsträger; Beitrag A2-2021 unter www.reha-recht.de; 19.01.2021)

Mit dem am 23. Dezember 2016 beschlossenen BTHG[1] ist mit Wirkung vom 1. Januar 2018 u. a. die Koordinierung der Leistungen in den §§ 14 ff. SGB IX neu geregelt worden. Ziel war vor allem eine Leistungserbringung wie aus einer Hand und die Vermeidung von zeitintensiven Zuständigkeitskonflikten der Träger untereinander sowie von Doppelbegutachtungen zulasten der Menschen mit Behinderungen. Erreicht werden sollte dies insbesondere durch eine Schärfung der Regelungen zur Zuständigkeitsklärung, Bedarfsermittlung, zum Teilhabeplanverfahren und zu den Erstattungsverfahren der Rehabilitationsträger untereinander.[2] Im „Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung“ vom 31. Juli 2013[3] werde für die Praxis ein „kompliziertes System von unterschiedlichen Trägerschaften und Zuständigkeiten“ beschrieben. Eine bessere Leistungskoordinierung und eine übersichtlichere Ausgestaltung sollte diesem „Kompetenzgerangel unterschiedlicher Zuständigkeiten“ entgegenwirken.[4]

Im Folgenden sollen die Veränderungen der Zuständigkeitsklärung durch §§ 14 ff. SGB IX in der Fassung des BTHG insbesondere im Hinblick auf diese Ziele und eine effektive Rechtsdurchsetzung betrachtet werden. Es wird untersucht, ob die Neuregelungen dazu beitragen, Rechtsprobleme zu lösen, oder ob und an welcher Stelle durch sie neue Rechtsprobleme entstehen.

I. Leistender Rehabilitationsträger (§ 14 SGB IX)

1. Änderungen in § 14 Abs. 1 SGB IX

Der erstangegangene Rehabilitationsträger hat seine Zuständigkeit auch weiterhin innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang zu klären (§ 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Eine unverzügliche Weiterleitung an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger (zweitangegangener Rehabilitationsträger) setzt nunmehr allerdings seine Feststellung voraus, dass er für die Leistung „insgesamt“ nicht zuständig ist, und er hat hierüber den Antragsteller[5] zu unterrichten (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX). „Insgesamt nicht zuständig“ ist ein Rehabilitationsträger:

  • wenn der Antrag lediglich auf Leistungen gerichtet ist, für die er nach § 6 Abs. 1 SGB IX nicht Rehabilitationsträger sein kann oder
  • wenn für sämtliche beantragten Leistungen vorrangig (ein oder mehrere) andere Rehabilitationsträger zuständig sind oder
  • wenn nur Leistungen beantragt sind, für die das eine oder das andere gilt.[6]

Die neuen Voraussetzungen werfen die schon länger diskutierte Rechtsfrage nach der Wirksamkeit einer rechtswidrigen Weiterleitung neu auf. Nach bisheriger Rechtsprechung ist bezüglich der Vorgängerregelung lediglich geklärt, dass ohne eine fristgerechte Weiterleitung der erstangegangene Rehabilitationsträger zuständig ist,[7] und eine fristgerechte Weiterleitung die Zuständigkeit des zweitangegangenen Trägers begründet,[8] beides jeweils unabhängig von der materiell-rechtlichen Zuständigkeit.[9] Ungeklärt ist aber, was bei einer rechtswidrig verspäteten Weiterleitung gilt.[10] Durch die neuen weiteren Voraussetzungen der Unterrichtung des Antragstellers sowie der Feststellung der vollständigen Unzuständigkeit kann eine Weiterleitung nunmehr auch wegen deren Missachtung rechtswidrig sein. Wer wird leistender Rehabilitationsträger, wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger den Antragsteller nicht von der Weiterleitung unterrichtet oder wenn er den Antrag weiterleitet, obwohl er für die beantragte Leistung mindestens teilweise zuständig ist? Kommt es für die Wirksamkeit der Weiterleitung darauf an, ob der zweitangegangene Rehabilitationsträger die Antragsbearbeitung fristgerecht übernimmt und durchführt, ohne auf die Fehlerhaftigkeit der Weiterleitung hinzuweisen? Kann es zu neuen Zuständigkeitsstreitigkeiten der Rehabilitationsträger untereinander über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Weiterleitung kommen und welcher Rehabilitationsträger ist in einem solchen Fall für die zügige Bedarfsfeststellung und Leistungserbringung gegenüber dem Antragsteller zuständig?

§ 24 S. 3 SGB IX schließt die Anwendbarkeit von § 43 SGB I auf Leistungen zur Teilhabe ausdrücklich aus.[11] Entsprechend der ratio legis der §§ 14, 15 SGB IX begründet m. E. eine Weiterleitung grundsätzlich unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit unmittelbar die Zuständigkeit des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers, damit Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Weiterleitung gar nicht aufkommen. Abweichend davon kann m. E. eine Zurückweisung oder Rückgabe des Antrags an den erstangegangenen Rehabilitationsträger allenfalls in Betracht kommen, wenn die Weiterleitung offensichtlich oder geradezu mutwillig außerhalb der Voraussetzungen erfolgt ist.

Die Rechtsschutzmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gegen eine rechtswidrige Antragsweiterleitung sind schon deshalb begrenzt, weil sie regelmäßig lediglich zu einer weiteren Verzögerung der materiell-rechtlichen Entscheidung führen. Zudem ist umstritten, ob in der Weiterleitung ein anfechtbarer Verwaltungsakt gegenüber dem Antragsteller liegt.[12] Eine Genehmigungsfiktion und Kostenerstattungsansprüche räumt § 18 SGB IX den Berechtigten frühestens nach Ablauf einer Frist von zwei Monaten ein, wenn es sich nicht um unaufschiebbare oder zu Unrecht abgelehnte Leistungen handelt.

II. Neu: „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX

§ 14 Abs. 3 SGB IX eröffnet die Möglichkeit einer zweiten Weiterleitung. Während nach der Vorgängerregelung in § 14 Abs. 2 S. 5 SGB IX a. F. die Verantwortung dafür, von wem und in welcher Weise über den Antrag innerhalb der Fristen entschieden wird, grundsätzlich beim zweitangegangenen Träger blieb, besteht nach der Neuregelung die Möglichkeit einer „echten“ Weiterleitung, durch welche der drittangegangene Rehabilitationsträger zum leistenden Rehabilitationsträger wird. Zudem war die Vorgängerregelung darauf beschränkt, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger für die beantragte Leistung nach § 6 Abs. 1 SGB IX nicht Rehabilitationsträger sein konnte. Die Zweitweiterleitung nach § 14 Abs. 3 SGB IX setzt demgegenüber – wie bereits die erste Weiterleitung – lediglich voraus, dass der weiterleitende Rehabilitationsträger für die Leistung „insgesamt“ nicht zuständig ist. Die Vorschrift greift mithin auch bei einer anderweitigen vorrangigen Zuständigkeit, deren Klärung in der Regel von Einzelfallumständen abhängt. Dies kann einer einfachen und zügigen Zuständigkeitsklärung entgegenstehen. Allerdings ist vor einer erneuten Weiterleitung das Einvernehmen mit dem „drittangegangenen“ Rehabilitationsträger einzuholen und dieser hat innerhalb der bereits nach § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX laufenden Fristen über den Antrag zu entscheiden. Deshalb wird die zweite Weiterleitung auch als „Turbo-Klärung“ bezeichnet.[13] Sie steht im Ermessen des weiterleitenden zweitangegangenen Rehabilitationsträgers und kommt daher nicht in Betracht, wenn die Fristen nicht mehr eingehalten werden können.[14] Auch hier stellt sich die Frage der Wirksamkeit einer diesen Anforderungen nicht gerecht werdenden zweiten Weiterleitung.

Der zweite Teil des Beitrags[15] widmet sich der Leistungsverantwortung für den Fall, dass gem. § 15 SGB IX neben dem leistenden Rehabilitationsträger noch andere Rehabilitationsträger bei der Bedarfsfeststellung und Leistungsbewilligung zu beteiligen sind.

Beitrag von Dr. Ursula Waßer, Richterin am Bundessozialgericht

Fußnoten

[1] Veröffentlicht am 29.12.2016, BGBl. I S. 3234.

[2] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 2, 4, 191 ff., 232 ff.

[3] Bundestags-Drucksache 17/14476, S. 52 f.

[4] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 192.

[5] Die Verwendung ausschließlich der männlichen Form folgt dem Wortlaut des Gesetzes. Im Folgenden wird diese Verwendung beibehalten, um möglichst nah am Gesetzestext zu bleiben. Der Begriff umfasst – bei aller berechtigter Kritik – selbstverständlich alle Antragsteller jeden Geschlechts.

[6] So auch Joussen in: Dau/Düwell/Joussen, LPK-SGB IX, 5. Aufl. 2019, § 14 Rn. 5; Schaumberg, SGB 2019, 142, 144; vgl. hierzu auch § 20 Abs. 1 Satz 2 Gemeinsame Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zur Zuständigkeitsklärung, zur Erkennung, Ermittlung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (einschließlich Grundsätzen der Instrumente zur Bedarfsbestimmung), zur Teilhabeplanung und zu Anforderungen an die Durchführung von Leistungen zur Teilhabe gemäß § 26 Abs. 1 i. V. m. § 25 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 6 und gemäß § 26 Abs. 2 Nr. 2, 3, 5, 7 bis 9 SGB IX, 2019 – im Folgenden: Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess.

[7] Vgl. z.B. BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 19 = BSG, Urt. v. 24.1.2013 – B 3 KR 5/12 R –, juris, jeweils Rn. 16.

[8] BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 3 = BSG, Urt. v. 14.12.2006 – B 4 R 19/06 R –, juris, jeweils Rn. 30 ff.

[9] Uneinheitlich ist die Rechtsprechung bezüglich der Frage, ob der materiell-rechtlich eigentlich zuständige Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Außenverhältnis zum Antragsteller verliert, wenn eine davon abweichende Zuständigkeit über die Regelungen des § 14 SGB IX begründet wird; so BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 19 = BSG, Urt. v. 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R –, juris, jeweils Rn. 16; während nach BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 3 = BSG, Urt. v. 14.12.2006 – B 4 R 19/06 R –, juris, jeweils Rn. 32 die materiell-rechtliche Zuständigkeit ggf. neben die durch § 14 SGB IX begründete Zuständigkeit tritt.

[10] Vgl. hierzu Ulrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 14 SGB IX, Rn. 99; ders. in: Deinert/Welti, Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, S. 1262, Rn. 28; ders., SGB 2008, 452, 460; Knittel, SGB IX, 11. Aufl. 2017, § 14 SGB IX Rn. 97 m. w. N.

[11] Dies dürfte der hierzu von Ulrich in: Deinert/Welti, Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, S. 1262, Rn. 28 vorgeschlagenen Anwendung von 43 SGB I entgegenstehen.

[12] Nach wohl überwiegender Meinung handelt es sich bei der Weiterleitung lediglich um eine verwaltungsinterne Abgabe, die auch gegenüber dem Antragsteller nicht als Verwaltungsakt ergeht; vgl. Ulrich in: Deinert/Welti, Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, S. 1259, Rn. 22 f.; Welti in: HKSGB IX, 3. Aufl. 2010, § 14, Rn. 31; Knittel, SGB IX, 11. Aufl. 2017, § 14 SGB IX Rn. 77 ff.; Hessisches LSG 5.6.2013 – L 8 KR 127/13 B; a.A. Stevens-Bartol in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl. 2018, § 14, Rn. 26 ff.

[13] So schon Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 233.

[14] Vgl. z.B. Ulrich in: Deinert/Welti, Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, S. 1258, Rn. 17.

[15] Ebenfalls unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Zuständigkeitsklärung, Erstangegangener Träger, Weiterleitung des Antrags, Zweitangegangener Rehabilitationsträger, Turbo-Klärung


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