12.10.2021 A: Sozialrecht Jahn: Beitrag A31-2021

Beschäftigungslosigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 SGB III – Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. September 2019 – B 11 AL 20/18 R

Philipp Jahn bespricht in dem Beitrag eine Entscheidung des Bundessozialgerichts zur funktionsdifferenzierten Auslegung des Begriffes des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des SGB III. Das Gericht hatte über die Bewilligung von Arbeitslosengeld bei einer fristgerechten Kündigung mit nur widerruflicher Freistellung nach längerer Arbeitsunfähigkeit zu entscheiden.

Der Autor zeigt insoweit auf, dass in einer solchen Konstellation Eingliederungsversuche der Arbeitnehmer mittelbar der eigenen sozialen Absicherung schaden können und damit im Widerspruch zum generell präventiven Leitbild des SGB IX stehen.

(Zitiervorschlag: Jahn: Beschäftigungslosigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 SGB III – Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. September 2019 – B 11 AL 20/18 R; Beitrag A31-2021 unter www.reha-recht.de; 12.10.2021)

I. Einleitung

Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die ihre bisherige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können und deren Krankengeldanspruch sich erschöpft hat, befinden sich für gewöhnlich in einer wirtschaftlich prekären Situation. Zur Über­brückung dieser finanziellen Zwangslage kennt das deutsche Arbeitsförderungsrecht, abseits der Grundsicherungsleistungen, die Entgeltersatzleistung Arbeitslosengeld. Die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind also angehalten, sich mit ihrem verbliebenen Leistungsvermögen arbeitslos zu melden und Arbeitslosengeld zu be­antragen. Sie sind dann weiter in ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis arbeitsunfähig und daneben arbeitslos. Dass häufig ein Restleistungsvermögen vorliegt, welches die Aus­übung einer Tätigkeit während der Arbeitsunfähigkeit erlaubt, ergibt sich bereits aus dem Begriff der Arbeitsunfähigkeit.[1] Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit setzt indessen gem. § 136 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. §§ 137 ff. SGB III u. a. voraus, dass die betroffene Person arbeitslos ist. Arbeitslos ist, wer nicht in einem Beschäftigungs­ver­hältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, die eigene Beschäftigungs­losig­keit zu beenden (Eigenbemühungen) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Häufiger ist hierbei die Voraussetzung der (subjektiven) Verfügbarkeit strittig.[2] Dessen ungeachtet kann in den oben genannten Fällen aber schon das Tatbestandsmerkmal der Beschäftigungslosigkeit zur Diskussion stehen. Die im Folgenden zu besprechende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) gibt Anlass, sich näher mit der funktionsdifferenzierten Auslegung des Begriffs des Beschäftigungsverhältnisses i. S. d. SGB III auseinanderzusetzen.[3] Konkret soll es um die Frage gehen, ob eine versicherte Person auch beschäftigungslos im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III sein kann, wenn deren Arbeitsverhältnis rechtlich noch fort­besteht. Dies ist nicht unproblematisch, da Beschäftigungslosigkeit grundsätzlich mit rechtlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses eintritt und ein Anspruch damit eben erst nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht werden könnte.[4]

II. Sachverhalt

Der Kläger war seit 1989 als Facharbeiter im Produktionsbereich der E GmbH tätig. Infolge seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bezog er vom 7. Juli 2015 bis zum 12. Oktober 2015 Krankengeld. Während der sich anschließenden medizinischen Reha­bilitation erhielt der Kläger Übergangsgeld bis zum 3. November 2015. Hieran schloss sich der abermalige Bezug von Krankengeld bis zum 31. Mai 2016 an. Die Arbeitgeberin kündigte im Februar 2016 das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30. September 2016 und stellte den Kläger widerruflich von der Erfüllung seiner Arbeitspflicht unter Anrech­nung seiner Urlaubsansprüche frei. Am 30. Mai 2016 bot der Kläger, unter Vorlage der entsprechenden medizinischen Befundberichte, seine Arbeitsleistung vollschichtig ab 1. Juni 2016 für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten, zeitweise im Stehen und Gehen, überwiegend aber im Sitzen, an. Er legte zudem ein ärztliches Attest vor, welches schweres Heben und Tragen sowie Überkopfarbeiten und Ähnliches ausschloss. Die Arbeitgeberin lehnte seine Arbeitsleistung ab und begründete dies damit, dass kein leidensgerechter Arbeitsplatz zur Verfügung stehe. Bevor der Kläger am 21. Juni 2016 seine Arbeit auf einem seiner gesundheitlichen Situation entsprechenden Arbeitsplatz bei E wiederaufnahm, meldete er sich arbeitslos und beantragte bei der Beklagten Arbeitslosengeld. Die Beteiligten stritten somit über die Gewährung von Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 20. Juni 2016. Die Beklagte lehnte die Bewilligung von Arbeitslosengeld für diesen Zeitraum ab. Sie begründete die Ablehnung damit, dass der Kläger nur widerruflich freigestellt worden war, damit nicht beschäftigungslos i. S. d. § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III und in der Folge nicht arbeitslos gewesen sei. Das Sozial­gericht wies die Klage ebenso ab wie das Landessozialgericht die vom Kläger eingelegte Berufung.

III. Entscheidung des Gerichts

Das BSG hat die Revision zurückgewiesen. Ein Anspruch des Klägers scheiterte daran, dass er während der Freistellung weiterhin in einem Beschäftigungsverhältnis mit der bisherigen Arbeitgeberin stand und somit nicht arbeitslos gewesen sei.[5] Der ent­schei­dende 11. Senat des BSG hielt damit an seiner ständigen Rechtsprechung fest, den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses kontextabhängig und funktionsdifferent aus­zulegen.[6]

Ein Arbeitnehmer stehe demnach – unabhängig vom Fortbestand des Arbeits­verhält­nisses – regelmäßig nicht mehr in einem leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis, wenn die Beschäftigung faktisch ein Ende gefunden habe.[7] Davon sei auszugehen, wenn die das Beschäftigungsverhältnis prägende persönliche Abhängigkeit des Be-schäftigten, die sich in dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und der Dienstbereit­schaft des Arbeitnehmers ausdrücke, entfalle.[8] Zur Beurteilung bedarf es hierbei einer Gesamt­würdigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall.[9] Aufgrund der bindenden Tat­sachenfeststellung des Berufungsgerichts war für den zuständigen Senat davon aus­zugehen, dass die Arbeitgeberin entsprechend dem Inhalt der nur wider­ruflichen Frei­stellung auch nach den tatsächlichen Umständen nicht auf ihr Direk­tionsrecht verzichtet habe, da für den Kläger jederzeit ein Arbeitsplatz hätte frei werden können. Des Weiteren habe sich der Kläger nach der tatsächlichen Feststellung des Landessozialgerichts trotz Arbeitslosmeldung durchgehend um eine Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit bemüht, sodass nicht von einem Wegfall der Dienstbereitschaft auszugehen gewesen sei. Dennoch betonte der zuständige 11. Senat, dass dieses Ergebnis im konkreten Fall nicht allein damit begründet werden könne, dass der Kläger nur widerruflich von seiner Arbeitsleistung freigestellt wurde.[10]

IV. Rechtliche Würdigung

Das Urteil ist rechtsdogmatisch auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber das Ergebnis wirft tiefergehende Zweifel auf. Nach der Legaldefinition des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III ist beschäftigungslos, wer nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht. Dabei stellt das Gesetz bewusst auf die sozialrechtlich geprägte Beschäftigung nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV statt auf den engeren Begriff des Arbeitsverhältnisses ab.[11] In einem Beschäf­tigungsverhältnis steht demnach, wer von einem Arbeitgeber persönlich abhängig tätig wird, bei einer Tätigkeit in einem fremden Betrieb eingegliedert ist und dem Weisungs­recht des Arbeitgebers unterliegt, welches Art, Zeit und Ort der Arbeitsausführung umfasse.[12] Im Wesen kennzeichnet sich der Begriff der Beschäftigung also durch die persönliche Abhängigkeit der arbeitenden Person.[13] Dies erfordert nicht nur die Ein­gliederung in den Betrieb, sondern auch die Unterordnung unter das in § 106 GewO normierte Weisungsrecht des Arbeitgebers.

Auch wenn auf die allgemein im Beitragsrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden kann, gilt der Begriff des Beschäftigungsverhältnisses gleichwohl nicht für alle Bereiche absolut.[14] Vielmehr muss er je nach Sinnzusammenhang, in den die einzelne Norm gestellt ist, im Hinblick auf den jeweiligen Normzweck modifiziert werden (sog. funktionsdifferenzierte Auslegung).[15] Mithin unterscheidet die ständige Rechtsprechung des BSG das Beschäftigungsverhältnis im versicherungsrechtlichen (oder auch bei­trags­rechtlichen) und im leistungsrechtlichen Sinne.

Der versicherungsrechtliche Begriff ist etwa für die Dauer und Höhe des Arbeitslosen­geldes maßgebend.[16] In diesem Zusammenhang kommt dem Begriff die Funktion zu, den Versicherungsschutz in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung zu gewähr­leis­ten.[17] Als Anspruchsvoraussetzung für Leistungen bei Arbeitslosigkeit hat der Begriff der Beschäftigungslosigkeit dagegen die Funktion, das durch Leistungen der Arbeitslosen­versicherung gedeckte Risiko zu bestimmen.[18]

Die hier relevante Anspruchsvoraussetzung der Beschäftigungslosigkeit gem. § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III knüpft folglich an den leistungsrechtlichen Begriff des Beschäfti-gungs­verhältnisses an.[19] Kernbestand dieses Begriffes ist eine faktische Beziehung, die die Leistung von Arbeit unter persönlicher Abhängigkeit von einem anderen zum Inhalt hat, wobei sich diese Abhängigkeit auf der einen Seite in der tatsächlichen Verfügungs­macht (Direktionsrecht) und auf der anderen Seite in der faktischen Dienstbereitschaft auswirkt.[20] Entscheidend für die Beschäftigungslosigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III ist demzufolge der Wegfall der tatsächlichen Beschäftigung.

Dies lässt sich in der Regel am (fehlenden) Direktionsrecht des bisherigen Arbeitgebers festmachen.[21] Wenn der Arbeitgeber eindeutig zu erkennen gibt, dass er seine Verfügungsbefugnis nicht mehr ausüben und auch kein Arbeitsentgelt zahlen will, wie dies beispielsweise durch Kündigung und Freistellung erfolgen kann, besteht un­ab­hängig davon, ob die Maßnahme rechtmäßig oder unrechtmäßig erfolgt, im Sinne des Leistungsrechts Beschäftigungslosigkeit.[22] Denn in diesen Fällen realisiert sich das Ver­sicherungsrisiko der Arbeitslosenversicherung besonders. Dass eine solche (faktische) Beschäftigungslosigkeit auch bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis eintreten können muss, lässt sich überdies aus § 157 Abs. 1 und 3 SGB III ableiten (sog. Gleichwohl­gewährung).[23] Danach hat die Agentur für Arbeit Arbeitslosengeld selbst dann zu zahlen, wenn die arbeitslose Person Arbeitsentgelt, auf das sie einen Anspruch hat, nicht erhält.[24]

Die widerrufliche Freistellung von der Arbeitsleistung durch den Arbeitgeber bewirkt für die Arbeitnehmerseite, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin oder den Arbeit­nehmer bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich jederzeit wieder zur Arbeitsleistung verpflichten kann.[25] Der Arbeitgeber gibt bei einer widerruflichen Frei­stellung sein Direktionsrecht über den oder die Arbeitnehmerin in der Regel also nicht auf und die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer ist grundsätzlich weiterhin dienst­bereit. Wohl deshalb zielte die Argu­mentation der Beklagten– flankiert durch ein höchstrichterliches Judikat[26] – darauf ab, dass eine Beschäftigungslosigkeit schon dann zwingend ausscheide, wenn der Arbeit­geber erklärt habe, seinen Arbeitnehmer nur wider­ruflich von seiner Arbeitsleistung freizustellen. Dieser pauschalen Annahme folgte das BSG in seiner Entscheidung richtigerweise nicht. Vielmehr betont es, dass im Arbeitsförderungsrecht (SGB III), ins­besondere bei Fallgestaltungen langfristig erkrank­ter bzw. leistungsgeminderter Arbei­tnehmer, die tatsächlich nicht mehr beschäftigt werden, Erklärungen der Arbeitsvertrags­parteien zu einem Fortbestehen eines Beschäf­tigungsverhältnisses als innere Tat­sachen unter Berücksichtigung der nicht ab­schließend bestimmbaren tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen sind.[27] Dabei führt das BSG Attribute an, die eine Indizwirkung für eine Lösung des Beschäftigungsverhältnisses entfalten können: beispielsweise die (lange) Dauer des Krankengeldbezuges, längere eingeschränkte gesundheitliche Leistungsfähigkeit, die persönliche Arbeitslosmeldung[28] nach § 141 SGB III, eine etwaige Rentenantrag­stellung, aber auch fehlende betriebliche Einsatz­möglichkeiten.[29] Für den Bestand des Beschäftigungsverhältnisses sprächen dagegen Eingliederungsversuche bzw. Versuche der Arbeitsaufnahme.[30] Die Erklärungen der Arbeitsvertragsparteien hätten hierfür zwar durchaus Gewicht, allerdings müssten diese mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmen und dürften nicht zu einer „leeren Hülse“ verkommen.[31]

Zwar sprachen im konkret vorliegenden Fall für die Beschäftigungslosigkeit des Klägers die lange Arbeitsunfähigkeit mit Bezug von Kranken- sowie Übergangsgeld, das erfolglose Anbieten seiner Arbeitsleistung unter Vorlage des ärztlichen Attests, das mehrfache Scheitern des Versuchs einer stufenweisen Wiedereingliederung[32] gem. § 74 SGB V sowie die Erklärungen der Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat in der Anhörung zur Kündigung, dass es für den Kläger im Betrieb weder zum damaligen Zeitpunkt noch in den folgenden Jahren eine freie leidensgerechte Stelle geben werde. Dass sämtliche Instanzen in dieser Konstellation die nur widerrufliche Freistellung dennoch nicht als sogenannte „leere Hülse“ deuteten, ist der Vernehmung der Personal­leiterin während der erstinstanzlichen Beweisaufnahme geschuldet. Nach deren An­gaben hätte der Kläger, auch unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustandes, jederzeit auf einem frei werdenden Arbeitsplatz eingesetzt werden können. Selbst der Kläger habe betont, dass für ihn grundsätzlich leidensgerechte Stellen vorhanden, welche jedoch möglicherweise nur besetzt gewesen waren. Im Übrigen hatte sich der Kläger nicht nur durchgehend um eine Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit be­müht, sondern nahm letztendlich seine Arbeit auch auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz dauerhaft wieder auf.

Mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen war das BSG an diese Tatsachen­feststellung gebunden. Mithin verneinte der Senat einen Anspruch auf Arbeitslosengeld aufgrund fehlender Beschäftigungslosigkeit i. S. d. § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III.

Dieses Resultat ist vor allem für gesundheitlich beeinträchtigte, arbeitsunfähige Arbeit­nehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich in der Aussteuerung, also nach dem Ende des Krankengeldbezuges, befinden, unbefriedigend. Nach der Argumentation des BSG schaden die Bemühungen um eine Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit mittelbar der eigenen sozialen Absicherung. Dies ist insofern widersprüchlich, als die Reintegra­tion erkrankter Arbeitnehmer, orientiert am generell präventiven Leitbild des SGB IX, ein bedeutsames gesetzgeberisches Anliegen darstellt. Dafür sprechen vor allem die Existenz der verschiedenen Beschäftigungssicherungsinstrumente des SGB IX, nament­lich das betriebliche Eingliederungsmanagement gem. § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX und die stufenweise Wiedereingliederung gem. § 44 SGB IX. Beiden Instrumenten liegt der Normzweck zugrunde, längerfristige Arbeitsunfähigkeiten früher zu beenden und den Erhalt des bisherigen Arbeitsplatzes zu sichern.[33] Da auch während der widerruf­lichen Freistellung fortlaufend Arbeitsunfähigkeit bestand, bis der Arbeit­nehmer die volle Leistungsfähigkeit wieder erreicht hat, ruhen die vertraglichen Leistungspflichten und damit auch die Pflicht zur Entgeltzahlung. Wichtig ist deshalb die kontinuierliche soziale Absicherung des Lebensunterhalts der betroffenen Personen in Form des Arbeitslosen­geldes. Sogar die Tätigkeiten nach ärztlichem Wieder­eingliede­rungs­plan im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung begründen nach ganz zutreffender Ansicht des BSG[34] kein leistungsausschließendes Beschäftigungs­verhält­nis, sodass ein Bezug von Arbeits­losengeld während der stufenweisen Wieder­einglie­derung gerade nicht ausgeschlossen ist.

Eine Unterbrechung des leistungsausschließenden Beschäftigungsverhältnisses ist nach dem leistungsrechtlichem Begriff gegeben, wenn Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt tatsächlich nicht mehr erbracht werden.[35] Daher ermöglicht dieser Ansatz die Annahme von Beschäftigungslosigkeit i. S. d. § 138 Abs. 1  SGB III, sofern Arbeitnehmer bzw. Arbeit­nehmerinnen nach langjähriger Krankheit und nach Ausschöpfung des Kranken­geld­anspruchs aus gesundheitlichen Gründen nicht weiter beschäftigt werden.[36] Wegen der Arbeitsunfähigkeit können die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeit­nehmer ihre arbeitsvertraglich geschuldete Leistung gar nicht erbringen bzw. dem­gemäß anbieten. Auch die in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV genannte Weisungs­gebunden­heit ist lediglich „Anhaltspunkt“ und folglich kein abschließendes Bewertungskriterium.[37] Zwar sind diese Eingliederungsversuche keine Beschäftigungssicherungsinstrumente des SGB IX, jedoch ähneln Sinn und Zweck einander hinreichend. Auch Eingliederungs­versuche ver­folgen vorrangig rehabilitative und integrative Zwecke. Darüber hinaus muss berück­sich­tigt werden, dass die persönliche Arbeitslosmeldung i. S. d. § 141 SGB III die Dienst­bereitschaft des betroffenen Arbeitnehmers relativiert. Mithin spricht in den vor­liegenden Fallgestaltungen nach einer Gesamtwürdigung der tatsäch­lichen Umstände einiges für ein stark eingeschränktes Direktionsrecht.

Dieses Ergebnis steht insoweit auch nicht dem Sinn und Zweck des leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses, das Risiko der Arbeitslosigkeit zu bestimmen und zu be­grenzen, entgegen. Die betroffenen Personen erwerben ihre Anwartschaften nicht nur im langjährigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, sondern eben auch durch den Bezug von Krankengeld gem. § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB III. Das Arbeits­losen­geld bietet hier als sozialversicherungsrechtliche Entgeltersatzleistung im Gegen­satz zur subsidiären Grundsicherung notwendige Unterstützung und Schutz, um sozialer Exklusion vorzubeugen.

V. Fazit

In der vorliegenden Entscheidung wurde ein Fortbestehen des Beschäftigungs­verhält­nisses angenommen, jedoch wurde klargestellt, dass dies eben nicht mit einem pauschalen Verweis auf die nur widerrufliche Freistellung von der Arbeitsleistung begründet werden kann. Die in der Praxis häufiger auftretende Fallgestaltung der wider­ruflichen Freistellung nach langer Arbeitsunfähigkeit veranlasste das BSG, der Gesamt­würdigung der Einzelfallumstände mehr Gewicht beizumessen. Dies ist plausibel, denn es ist die Aufgabe der Rechtsanwendenden, die maßgeblichen tatsächlichen Umstände sorgfältig zu ermitteln und diese für den Abwägungsvorgang verwertbar aufzubereiten. Sollten sich die entscheidenden tatsächlichen Umstände nicht zweifelsfrei ermitteln lassen, folgt zumindest aus diesem Urteil und der mittlerweile ergangenen Parallel­entscheidung[38], dass keine Beschäftigungslosigkeit anzunehmen war. Damit bliebe der Arbeitslosengeldbezug in vergleichbaren Konstellationen eher eine Ausnahme. Der Anspruch scheitert dann bereits nicht erst an der (subjektiven) Verfügbarkeit[39], sondern schon an der Beschäftigungslosigkeit. Die arbeitsrechtliche Freistellung erweist sich insofern als wichtige Schnittstelle zur sozialrechtlichen Arbeitsförderung (SGB III). Die Gestaltungserklärung des Arbeitgebers eröffnet, je nach Art der Freistellung sowie der begleitenden tatsächlichen Gesamtumstände, unterschiedliche leistungsrechtliche Kon­sequenzen für die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Der Arbeitgeber hat die Reichweite seiner Erklärung möglicherweise nicht im Blick. Daher müssen auch die betrieblichen Interessenvertretungen in jedem Einzelfall über die Konsequenzen beraten. Auch im Rahmen der sozialrechtlichen Pflicht der Krankenkassen gem. § 44 Abs. 4 SGB V muss auf eine für den Arbeitslosengeldbezug förderliche Arbeitgeber­erklärung geachtet werden.

Soweit der Arbeitgeber keinen Lohn zahlt und eine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI vom zuständigen Rentenversicherungsträger abgelehnt wird, steht den Menschen nach Erschöpfung des Krankengeldanspruches, neben den existenz­sichern­den Leistungen, lediglich noch ein Anspruch auf Arbeitslosengeld zur Seite, um eine wirtschaftliche Notsituation abzumildern. Insoweit zeigt sich einerseits, wie über­stürzt der (arbeitgeberseitige) Reflex sein kann, einen dauerhaft erkrankten Arbeit­nehmer in der vermeintlichen Voraussicht, den Bezug von Arbeitslosengeldbezug zu ermöglichen, krankheitsbedingt zu kündigen.[40] Andererseits orientieren sich die Regeln des Arbeits- und Sozialrechts noch zu stark an einem vorgestellten normativen Normallebensverlauf. Um berufliche Teilhaberisiken zu mindern und soziale Exklusion von Menschen mit Langzeiterkrankungen bzw. dauerhafter Arbeitsunfähigkeit zu ver­meiden, erscheint es nicht sachgerecht, Beschäftigungsverhältnisse nur schematisch zu beurteilen. Ein inklu­siver Arbeitsmarkt darf nicht nur den Zugang, sondern muss ebenso den Wiedereinstieg und den Verbleib von gesundheitlich beeinträchtigten Menschen verstärkt im Blick haben.

Beitrag von Dipl.-Jur. Philipp Jahn, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten

[1] Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegen­den Pflichten krankheitsbedingt nicht mehr in vollem Umfang oder nur unter Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung erfüllen kann. Das deutsche Arbeitsrecht kennt eine Teil­arbeitsunfähigkeit insofern nicht.

[2] Erforderlich ist, dass den Arbeitnehmern ein Restleistungsvermögen verbleibt, welches am Arbeitsmarkt eingesetzt werden kann, vgl. § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III.

[3] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R; Parallelentscheidung vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 11 AL 3/19 R.

[4] Vgl. Baldschun in: Gagel SGB II/SGB III, 81. EL Februar 2021, § 138 SGB III Rn. 29.

[5] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 15.

[6] Vgl. nur BSG vom 28.09.1993 – 11 RAr 69/92 – BSGE 73, 126, 128; BSG vom 29.07.2015 – B 12 R 1/15 R – juris Rn. 27; BSG vom 25.04.2002 – B 11 AL 65/01 R – BSGE 89, 243; vgl. zuletzt BSG vom 30.08.2018 – B 11 AL 15/17 R – BSGE 126, 217 zum Begriff der Beschäftigung im versicherungsrechtlichen Sinne als Voraussetzung für die Konkretisierung des Bemessungszeitraums i. S. d. § 150 Abs. 1 S. 1 SGB III.

[7] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 17.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 19.

[11] Mutschler in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, § 138 SGB III Rn. 7.

[12] Mutschler in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, § 138 SGB III Rn. 8.

[13] Vgl. auch Brand SGB III, 8. Auflage 2018, § 138 Rn. 11; Baldschun in: Gagel SGB II/SGB III, 81. EL Februar 2021, § 138 SGB III Rn. 23.

[14] Gutzler in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz SGB III Arbeitsförderung Großkommentar, 7. Auflage 2020, § 138 Rn. 21; BeckOK SozR/Müller, 60. Ed. 01.03.2021, § 138 SGB III Rn. 12a.

[15] BeckOK SozR/Müller, 60. Ed. 01.03.2021, § 138 SGB III Rn. 12a; BSG, Urt. v. 28.09.1993 – 11 RAr 69/92 Rn. 13; BSG, Urt. v. 29.07.2015 – B 12 R 1/15 R Rn. 27; zuletzt BSG, Urt. v. 30.08.2018 – B 11 AL 15/17 R Rn. 26, jeweils m.w.N.

[16] BSG v. 05.05.1988 – 12 RK 43/86; BSG v. 16.02.2005 – B 1 KR 19/03 R; Öndül in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., § 138 SGB III (Stand: 27.05.2021), Rn. 23.1.

[17] Ebenda.

[18] Öndül in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., § 138 SGB III (Stand: 27.05.2021), Rn. 23.

[19] Vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen v. 25.01.2021 – L 11 AL 15/19.

[20] Vgl. BSG, Urteil vom 09.02.2006 – B 7a AL 58/05 R –, juris Rn. 14 m.w.N; Mutschler in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, § 138 SGB III Rn. 9.

[21] Gutzler in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz SGB III Arbeitsförderung Großkommentar, 7 Auflage 2020, § 138 Rn. 22; vgl. auch BSG, Urteil vom 04.07.2012 – B 11 AL 16/11 R.

[22] Gutzler in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz SGB III Arbeitsförderung Großkommentar, 7. Auflage 2020, § 138 Rn. 30; vgl. auch Bayerisches LSG, Urteil vom 10.06.2010 – L 9 AL 143/07.

[23] Gleichwohlgewährung sichert in Fällen, in denen Arbeitnehmer trotz Arbeitsentgeltanspruchs keine Arbeitgeberleistungen erhalten, die alsbaldige Zahlung von Arbeitslosengeld.

[24] Gutzler in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz SGB III Arbeitsförderung Großkommentar, 7. Auflage 2020, § 138 Rn. 22; Baldschun in: Gagel SGB II/SGB III, 81. EL Februar 2021, § 138 SGB III Rn. 33.

[25] Glaser in: Moll/Münchner Anwaltshandbuch, Arbeitsrecht, § 24 Rn. 318.

[26] BSG, Urteil vom 03.06.2004 – B 11 AL 70/03 R, juris Rn. 15.

[27] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 20.

[28] Die persönliche Arbeitslosmeldung spricht hierbei für den Wegfall der Dienstbereitschaft.

[29] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 20.

[30] Ebenda.

[31] Vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2019 – B 11 AL 20/18 R, juris Rn. 17; so auch bereits BSG, Urteil vom 09.09.1993 – 7 RAr 96/92; BSG, Urteil vom 28.09.1993 – 11 RAr 69/92; BSG, Urteil vom 09.02.2006 – B 7a AL 58/05 R; BSG Urteil vom 04.07.2012 – B 11 AL 16/11 R.

[32] Nach der Rechtsprechung des BSG [BSG Urt. v. 21.03.2007 – B 11a AL 31/06 R unter Verweis auf die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung, wie etwa BAG Urt. v. 29.01.1992 – 5 AZR 37/91 entsteht im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung ein zweites Schuldverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien, das rehabilitativen und integrativen Zwecken dient.

[33] Vgl. Nebe in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX Kommentar, § 44 Rn. 2; Kohte, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, Kommentar-SozR, 6. Auflage 2019, § 167 SGB IX, Rn. 2.

[34] Vgl. BSG Urteil vom 17.12.2013 – B 11 AL 20/12 R; BSG Urt. v. 21.03.2007 – B 11a AL 31/06 R unter Verweis auf die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung, wie etwa BAG Urt. v. 29.01.1992 – 5 AZR 37/91; mit zust. Anmerkung Luik in jurisPR-SozR 24/2007 Anm. 4; differenzierend Gagel, DVfR Diskussionsbeitrag 3/2010, Forum B, reha-recht.de.

[35] BSG SozR 3-4100 § 101 AFG Nr. 5.

[36] BSG SozR 3-4100 § 101 AFG Nr. 4.

[37] Vgl. auch Bundestags-Drucksache 14/1855 zu Art. 1 Nr. 1 lit. a).

[38] BSG, Urteil vom 24.06.2020 – B 11 AL 3/19 R.

[39] Es muss insoweit auch die Nahtlosigkeitsregelung des § 145 SGB III beachtet werden. Diese fingiert das gesundheitliche Leistungsvermögen der versicherten Person und damit die Ver­fügbarkeit nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. Abs. 5 Nr. 1 SGB III bis der zuständige Träger der GRV eine abschließende Entscheidung über den Umfang der Leistungsfähigkeit getroffen hat.

[40] Derartige Kündigungen sind einerseits nicht nur sozial unerwünscht, sondern in vielen Konstellationen rechtlich auch nur bedingt durchführbar.


Stichwörter:

Beschäftigungsverhältnis, Beschäftigungslosigkeit, Funktionsdifferenzierte Auslegung, Arbeitslosengeld, Freistellung, Arbeitsunfähigkeit, Weisungen, Krankheit


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