29.07.2022 A: Sozialrecht Fuerst: Beitrag A6-2022

Anspruch auf Arbeitsassistenz jenseits der Regelaltersgrenze – Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2022 – 5 C 2.21

Die Autorin Dr. Anna-Miria Fuerst stellt in diesem Beitrag ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Januar 2022 (5 C 2.21) vor und bespricht es. Mit der Revision verfolgte der blinde, als freiberuflicher Anwalt tätige Kläger, dass das beklagte Integrationsamt die Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze übernimmt. Das Bundesverwaltungsgericht hielt die Klage für begründet, da sich dem Anspruch auf eine Arbeitsassistenz (§ 185 Abs. 5 SGB IX) unter Anwendung klassischer Auslegungsmethoden und unter Bezug auf das Grundgesetz (GG) und die UN-Behindertenrechtskonvention (Un-BRK) keine Altersbeschränkung entnehmen lasse. Fuerst ordnet diese Entscheidung in die Rechtsprechungslinie des Gerichts ein und sieht in der Konsequenz einen aus Art. 12 Abs. 1 GG erwachsenden subjektiven Anspruch auf eine Arbeitsassistenz.

(Zitiervorschlag: Fuerst: Anspruch auf Arbeitsassistenz jenseits der Regelaltersgrenze – Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2022 – 5 C 2.21; Beitrag A6-2022 unter www.reha-recht.de; 29.07.2022)


Mit seinem Urteil vom 12. Januar 2022 sowie der am selben Tag noch ausschließlich zur alten Rechtslage ergangenen Parallelentscheidung 5 C 6.20 setzt der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) seine im Jahr 2018 begründete Rechtsprechungslinie im Schwerbehindertenrecht zum Anspruch auf Arbeitsassistenz gemäß § 185 Abs. 5 SGB IX (§ 102 Abs. 4 SGB IX a. F.) konsequent fort (I.). Insbesondere die Rechte schwerbehinderter Selbständiger werden weiter gestärkt und ein bereichsspezifischer Beitrag zur Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung im Sozialleistungsrecht wird geleistet (II.). Zuletzt eröffnet das Urteil bei konsequentem Weiterdenken eine Verankerung des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz im grundgesetzlichen Recht auf Teilhabe an freier Berufswahl (III.).

I. Das Urteil in Kürze

1. Sachverhalt

Der blinde Kläger mit einem anerkannten Grad der Behinderung (GdB) von 100 war freiberuflich als Rechtsanwalt tätig und erhielt seit 1994 Leistungen für eine Arbeitsassistenz als begleitende Hilfe im Arbeitsleben durch das zuständige Integrationsamt gemäß Schwerbehindertenrecht. Aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs setzte das zuständige Integrationsamt diese Leistung seit 2010 mit 1.807,50 Euro monatlich für jeweils einen Zeitraum von zwei Jahren fest, zuletzt mit einem im Januar 2016 erlassenen Bescheid bis zum 31. August 2016. Das Enddatum begründete das Integrationsamt damit, dass der Kläger aufgrund des Erreichens der gesetzlichen Regelaltersgrenze mit 65 Jahren und 5 Monaten eine Altersrente erhalte. Der Widerspruch des Klägers, der seine anwaltliche Tätigkeit auch jenseits dieses Alters fortsetzen wollte, gegen diese Befristung blieb erfolglos.

2. Entscheidung der Vorinstanzen

Sowohl das Verwaltungsgericht Schwerin (Urt. v. 18.04.2018 - 6 A 2151/16 SN -) als auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 24.11.2020 - 1 LB 611/18 -) gaben der Verpflichtungsklage des Klägers auf Übernahme der Kosten für die von ihm beschäftigte Arbeitsassistenz in Höhe von 1.807,50 Euro über das Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus statt. Beide Instanzen argumentierten unter Verweis auf ein Urteil des BVerwG[1], das noch zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ergangen war, damit, dass das Arbeitsleben in zeitlicher Hinsicht maßgeblich durch den gesellschaftlichen Rahmen geprägt werde, in dem sich die Arbeitsphase des menschlichen Lebens vollziehe. Für Rechtsanwälte sei die Berufstätigkeit jenseits der gesetzlichen Regelaltersgrenze bei quantitativer empirischer Betrachtung gesellschaftlich üblich[2] bzw. ergebe sich aus berufsrechtlichen Regelungen eindeutig, dass auch nach der Vollendung des 65. Lebensjahres eine Tätigkeit als Rechtsanwalt jedenfalls bis zur Vollendung des 69. Lebensjahres vorgesehen sei.[3]

3. Entscheidung des BVerwG

Im Ergebnis löst das BVerwG den Fall wie die Vorinstanzen, seine Begründung ist indessen eine wesentlich andere. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen, die sich hierfür maßgeblich auf die alte BSHG-Rechtsprechung des BVerwG gestützt haben,[4] lässt sich der 5. Senat in seiner aktuellen Besetzung nicht auf eine Auslegung des Begriffs des Arbeitslebens im Rahmen des für eine bestimmte Berufsgruppe gesellschaftlich Üblichen ein. Das ist schon bei oberflächlicher Betrachtung naheliegend, da die zuvor verfolgte Argumentation zu kuriosen Ergebnissen führt: Nach dieser Logik müsste bei bestimmten Berufsgruppen, bei denen eine erhebliche Anzahl von Mitgliedern auf die Erlangung möglichst früher finanzieller Unabhängigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit zielt (z. B. Finanzinvestoren, Fondsmanager), der gesellschaftlich übliche Rahmen des Arbeitslebens zeitlich auf deutlich unterhalb der Regelaltersgrenze beschränkt werden.

Vielmehr geht das BVerwG unter Anwendung klassischer Auslegungsmethoden davon aus, dass der Anspruch auf Arbeitsassistenz nach § 185 Abs. 5 SGB IX keiner Altersbeschränkung unterliegt. Weder ergebe sich dies aus dem Begriff „Arbeitsleben“ noch sprächen systematische Argumente dafür, eine zeitliche Begrenzung des Anspruchs auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz aus § 185 Abs. 5 SGB IX anzunehmen.

Das BVerwG zieht für die systematische Betrachtung als weitere sozialrechtliche Normen heran:

  • § 10 Nr. 3 SGB I, wonach Menschen mit einer (drohenden) Behinderung unabhängig von deren Ursache zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe ein Recht auf die Sicherung eines ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platzes am Arbeitsleben haben,[5]
  • die allgemeine Vorschrift des § 49 SGB IX (§ 33 SGB IX a. F.) über die Leistungen zur „Teilhabe am Arbeitsleben“ sowie § 56 SGB IX (§ 39 SGB IX a. F.) zu Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen, die allein durch die Erfüllung oder endgültige Verfehlung des Eingliederungsziels bzw. nach § 49 Abs. 8 Satz 2 SGB IX (§ 33 Abs. 8 Satz 2 SGB IX a. F.) auf die Dauer von maximal drei Jahren zeitlich begrenzt seien, nicht jedoch aufgrund eines entsprechenden Verständnisses des Begriffs „Arbeitsleben“,[6]
  • § 58 Abs. 1 Satz 3 SGB IX, der ein noch zum BSHG ergangenes Urteil des BVerwG (Urt. v. 21.12.2005 - 5 C 26.04 -) kodifiziere und zeige, dass der Gesetzgeber eine Normierung von Altersgrenzen vornimmt, wenn er sie für notwendig hält,[7]
  • §§ 35 ff. i. V. m. §§ 235 f. SGB VI, aus denen kein „Arbeitsverbot“ bei Erreichen der gesetzlichen Regelrentenaltersgrenze hervorgehe,[8] und
  • § 160 Abs. 5 und §§ 154 ff. SGB IX (§ 77 Abs. 5 und §§ 71 ff. SGB IX a. F.), wonach sich der Arbeitgeber auch durch Beschäftigung eines Schwerbehinderten jenseits der Regelaltersgrenze von der Ausgleichsabgabe befreien könne und demnach die Ausgleichsabgabe spiegelbildlich auch für die Förderung schwerbehinderter Beschäftigter bspw. durch Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz verwendet werden dürfe.[9]

Im Übrigen verweist das BVerwG auf sein zuvor zu § 185 Abs. 5 SGB IX (§ 102 Abs. 4 SGB IX a. F.) ergangenes Urteil vom 23. Januar 2018 (- 5 C 9.16 -), Art. 4 Abs. 1 und Art. 27 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sowie den Triage-Beschluss des BVerfG vom 16. Dezember 2021 (- 1 BvR 154/20 -). Daraus ergebe sich, dass die Herstellung von Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt ein selbständiges Ziel der Kostenübernahme für eine notwendige Arbeitsassistenz sei und gleichrangig neben dem arbeitsmarktpolitischen Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen stehe. Es solle größtmögliche Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend dem individuellen Leistungsvermögen erreicht, gleichberechtigte Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verwirklicht sowie Diskriminierung beseitigt werden. Eine einschränkende Auslegung des Begriffs „Arbeitsleben“ aufgrund des Umstandes, dass die Kostenübernahme der notwendigen Arbeitsassistenz aus den begrenzten Mitteln der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe gemäß § 160 Abs. 1 SGB IX (§ 77 Abs. 1 SGB IX a. F.) zu erfolgen hat, lehnt das BVerwG unter Verweis auf sein vorgehendes Urteil vom 23. Januar 2018 (- 5 C 9.16 -) ab.[10]

II. Selbständige Beschäftigung als „Brennglas“ für ein konsequent gleichheitsorientiertes Verständnis der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben

Das Urteil des 5. Senats vom 12. Januar 2022 (- 5 C 2.21 -) steht in direkter Linie zum soeben erwähnten Urteil desselben Senats vom 23. Januar 2018 (- 5 C 9.16 -). Diesem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein blinder Beamter mit einem GdB von 100 im Dienst des luxemburgischen Staates hatte sein Beschäftigungsvolumen auf 50% reduziert, um neben seiner Beamtentätigkeit als Selbständiger eine Firma zu betreiben, die Künstler vermittelt und managt. Für diese selbständige Tätigkeit beantragte er die Kostenübernahme für eine von ihm selbst organisierte Arbeitsassistenz nach § 102 Abs. 4 SGB IX a. F. (§ 185 Abs. 5 SGB IX n. F.). Unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung hat das BVerwG entschieden, dass die Ausübung einer (abhängigen) Teilzeitbeschäftigung dem Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz für eine daneben ausgeübte weitere Erwerbstätigkeit nicht entgegensteht. Auch hier hat der 5. Senat bereits maßgeblich mit Art. 27 UN-BRK, dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und dem sich daraus ergebenden Gebot chancengleicher Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben argumentiert. Mit Beschluss vom 27. Juli 2018 (- 5 B 1.18 -) hat der 5. Senat sein vorhergehendes Urteil bestätigt und präzisiert, indem er § 21 Abs. 1 Nr. 2  Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) auf den Kostenübernahmeanspruch eines schwerbehinderten Menschen für eine notwendige Arbeitsassistenz für eine selbständige Tätigkeit für unanwendbar erklärt hat. Damit ist die in § 21 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAV enthaltene Beschränkung, dass die selbständige Tätigkeit den Lebensunterhalt voraussichtlich auf Dauer im Wesentlichen sicherstellen können muss, für den Anspruch aus § 185 Abs. 5 SGB IX (§ 102 Abs. 4 SGB IX a. F.) ausgeschlossen.[11]

Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit der genannten Entscheidungen ist in den ihnen zugrunde liegenden Sachverhalten zu finden. Stets ging es um eine notwendige Arbeitsassistenz für (hoch-)qualifizierte selbständige Beschäftigungen, bei denen man davon ausgehen darf, dass sie in besonderem Maße der beruflichen Selbstverwirklichung der Kläger dienten. Zudem lässt sich festhalten, dass die Kläger schon aufgrund der besonderen Motivation, die eine qualifiziert selbständige Tätigkeit erfordert, nicht etwaigen Klischees von hilfsbedürftigen Schwerbehinderten entsprochen haben, deren Integration in den Arbeitsmarkt nur dank sozialstaatlicher Leistungen zu bewerkstelligen ist.

Warum ist diese Gemeinsamkeit erwähnenswert? Sie legt die zuweilen bei der Auslegung und Anwendung sozialrechtlicher Anspruchsnormen auftretende Tendenz einer „paternalistischen Besserwisserei“ offen, welche der selbstbestimmten Lebensgestaltung (schwer-)behinderter Menschen Grenzen auferlegt, die weder mit den Wertungen des Grundgesetzes noch denen der UN-BRK[12] in Einklang stehen. Dem BVerwG ist hoch anzurechnen, dass es bei seiner Auslegung des § 185 Abs. 5 SGB IX (§ 102 Abs. 4 SGB IX a. F.) die oben angeführten Wertungen konsequent beachtet hat. Den Boden dafür bereitet die akribische und insoweit erstmal wertneutrale systematische Untersuchung des normativen Umfelds, dem sich begriffliche oder sonst immanente Beschränkungen des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz nicht entnehmen lassen. Davon ausgehend brauchte das gefundene Auslegungsergebnis nur noch mit den grund- und völkerrechtlichen Wertungen abgeglichen zu werden. Dieser Abgleich führt ohne Weiteres dazu, dass es einer „teleologischen Korrektur“ nicht bedarf, weil ein einschränkendes Verständnis des Begriffs „Arbeitsleben“ weder mit dem Benachteiligungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch mit Art. 27 UN-BRK, welcher das „gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit“ postuliert, in Einklang stünde.

Nebenbei räumt der 5. Senat mit seinem Urteil vom 12. Januar 2022 (- 5 C 2.21 -) auch eine im Raum stehende Mehrfachdiskriminierung[13] aus dem Weg, die gerade ältere Schwerbehinderte betroffen hätte. Denn hätte man – wie von den Vorinstanzen vorgeschlagen – den Begriff des „Arbeitslebens“ mit einer Altersgrenze im Rahmen des Sozialüblichen versehen, dann wären aufgrund der daraus folgenden Anspruchs­beschränkung nicht nur Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung gegenüber solchen ohne eine Schwerbehinderung schlechter gestellt gewesen, sondern auch ältere Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung gegenüber jüngeren Beschäftigten mit oder ohne Schwerbehinderung.

III. Ausblick: freiheitsrechtliche Fundierung sozialrechtlicher Teilhabe – Brückenschlag zum BAföG-Beschluss des BVerwG

Wolfhard Kohte hat in seiner Urteilsanmerkung zu BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2018 (- 5 C 9.16 -)[14] die „deutliche Betonung der Berufsfreiheit“ herausgearbeitet. Dies ist einerseits überraschend, weil weder in diesem noch in dem hier zu besprechenden Urteil zur Reichweite des Anspruchs aus § 185 Abs. 5 SGB IX (§ 102 Abs. 4 SGB IX a. F.) die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit ausdrücklich erwähnt wird. Andererseits trifft diese Einschätzung durchaus einen Punkt: Zwar argumentiert das BVerwG mit dem in der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 16. Mai 2000[15] und auch in Art. 27 UN-BRK verwendeten Begriff der „Chancengleichheit“ sowie der Erreichung „größtmöglicher Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend dem individuellen Leistungsvermögen des Behinderten“ gemäß Art. 27 UN-BRK, ohne auf Art. 12 GG einzugehen. Dennoch lassen der Gesamtduktus der Argumentation des 5. Senats und nicht zuletzt die Ablehnung einer einschränkenden Auslegung der Leistungsvoraussetzungen des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz eine am Gedanken freiheitsrechtlicher Teilhabe entwickelte Begründung in greifbare Nähe rücken –  dies auch angesichts des Einsatzes begrenzter Mittel aus der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe unter Hinweis darauf, dass sich die Bewirtschaftung dieser Mittel nicht grundlegend von der Bewirtschaftung anderer Finanzmittel unterscheide, sodass der generelle Ausschluss einer bestimmten Gruppe berufstätiger schwerbehinderter Menschen von der Unterstützungsleistung nicht gerechtfertigt werden könne.[16]

Der Brückenschlag gelingt, wenn man den Vorlagebeschluss des 5. Senats des BVerwG zur Verfassungswidrigkeit des BAföG-Bedarfssatzes vom 20.0 Mai 2021 (- 5 C 11.18 -) heranzieht. Maßgebliches verfassungsrechtliches Begründungselement in diesem Beschluss ist erstens die Erwägung, dass der Grundrechtsgehalt des Art. 12 Abs. 1 GG – in Verbindung mit dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip – einen Anspruch auf Zutritt zu mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungseinrichtungen umfasst, weil die freie Wahl der Ausbildungsstätte und der daraus folgende freie Zugang zu Ausbildungseinrichtungen als Freiheitsrecht ohne die tatsächlichen Voraussetzungen, das Recht auch in Anspruch nehmen zu können, wertlos wäre.[17] Zweitens überträgt der 5. Senat diesen Gedanken über den Zugang zu Ausbildungseinrichtungen auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen, eine Hochschulausbildung überhaupt durchführen zu können, und nimmt ein subjektives Recht bedürftiger Auszubildender auf eine deren Teilhabe auch tatsächlich ermöglichende staatliche Förderung in Höhe des existenziellen und ausbildungsbezogenen Bedarfs an.[18]

Eine vergleichbare Argumentation lässt sich im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz entwickeln. Jedenfalls gilt das für diejenigen Fälle, in denen der gewählte Beruf ohne diese Assistenzleistung nicht ausgeübt werden könnte. Liegt eine ausreichende Qualifikation für den angestrebten oder ausgeübten Beruf vor, gehört es zum objektiven Grundrechtsgehalt des Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip und dem besonderen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, dass der Zugang zu diesem Beruf auch für Menschen mit einer Behinderung gewährleistet sein muss. Dieser Gedanke ist auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu übertragen und mit einem subjektiven Recht des einzelnen Behinderten zu hinterlegen. Konkret ergibt sich daraus, dass ein aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf freie Berufswahl folgender Anspruch auf die finanzielle Förderung von auf die Behinderung bezogenen Kompensationsmaßnahmen anzunehmen ist, die erforderlich sind, damit der gewählte Beruf auch ausgeübt werden kann. Mit dieser Argumentation wäre sichergestellt, dass der in Art. 12 Abs. 1 GG wurzelnde Teilhabeanspruch ausgehend von der subjektiven Wahl der beruflichen Tätigkeit besteht – sei diese selbständig oder abhängig, Teil- oder Vollzeit. Er ginge entscheidend über den bisher verfassungsrechtlich etablierten Anspruch auf Kompensation durch auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahmen aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hinaus, weil dieser Anspruch nur bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt anerkannt ist,[19] nicht aber in Bezug auf die Schaffung der (wirtschaftlichen) Voraussetzungen, um die Ausübung eines bestimmten Freiheitsrechts zu ermöglichen. Gegen eine derartige Anspruchsausdehnung lässt sich nicht einwenden, dass es sich um ein genuin soziales Leistungsrecht oder gar – zumal bei selbständigen Tätigkeiten – um eine privatwirtschaftliche Subventionierung handelt. Denn es geht darum, eine regelmäßig aus öffentlichen Mitteln finanzierte oder geförderte berufliche Qualifikation auch mit einer Behinderung tatsächlich bestimmungsgemäß nutzen zu können.

Beitrag von Dr. Anna-Miria Fuerst, LL.M. (Georgetown University)

Fußnoten

[1] Urt. v. 21.12.2005 – 5 C 26.04.

[2] Vgl. VG Schwerin, Urt. v. 18.04.2018 – 6 A 2151/16 SN -, juris Rn. 26.

[3] Vgl. OVG M-V, Urt. v. 24.11.2020 - 1 LB 611/18 -, juris Rn. 45 ff.

[4] s. Urt. v. 21.12.2005 – 5 C 26.04.

[5] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 12; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 17.

[6] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 13 f.; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 18 f.

[7] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 15; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 20.

[8] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 17; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 22.

[9] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 18; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 23.

[10] Dazu ausführlich Falk, Teilzeitbeschäftigung und Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz – Anm. zu BVerwG Urt. v. 23.01.2018 – 5 C 9.16, Beitrag A20-2019 unter reha-recht.de; 25.09.2019.

[11] Zustimmend Kothe, jurisPR-ArbR 50/2018 Anm. 6.

[12] Die UN-BRK wurde mit dem „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Meschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ vom 21.12.2008, BGBl. II S. 1419 in deutsches Recht überführt und genießt damit den Rang einfachen Bundesrechts. Sie ist nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit bei der Auslegung des einfachen als auch des Verfassungsrechts zu berücksichtigen, vgl. Banafsche in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann, SWK Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022, Stichwort Behindertenrechtskonvention, Rn. 9 ff.

[13] Vgl. dazu Zinsmeister, in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann, SWK Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022, Stichwort Mehrfachdiskriminierung, insbes. Rn. 2.

[14] Kothe, jurisPR-ArbR 50/2018 Anm. 6.

[15] BT-Drs. 14/3372 S. 15.

[16] BVerwG, Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 2.21 -, juris Rn. 25; Urt. v. 12.01.2022 - 5 C 6.20 -, juris Rn. 30 u. Urt. v. 23.01.2018 - 5 C 9.16 -, juris Rn. 21 f.

[17] BVerwG, Beschl. v. 20.05.2021 - 5 C 11.18 -, juris Rn. 19 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urt. v. 18.07.1972 - 1 BvL 32/70 u.a. -, BVerfGE 33, 303, 331.

[18] BVerwG, Beschl. v. 20.05.2021 - 5 C 11.18 -, juris Rn. 20 ff.; 24 ff.

[19] BVerfG, Beschl. v. 08.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288, 303; v. 11.01.2011 - 1 BvR 3588/08 u. a. -, BVerfGE 128, 138 Rn. 54.


Stichwörter:

Arbeitsassistenz, Berufswahlfreiheit, Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Selbstständigkeit (beruflich), Art. 27 UN-BRK, Alter


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