18.01.2022 B: Arbeitsrecht Boysen: Beitrag B1-2022

Blinde Schöffinnen und Schöffen in Europa und Deutschland – Rezension des EuGH-Urteils vom 21. Oktober 2021, Az.: C-824/19, ECLI:EU:C:2021:862 – Teil I

Der Autor Uwe Boysen beschäftigt sich in diesem zweiteiligen Beitrag mit den Zugangsmöglichkeiten blinder Menschen zum Schöffenamt oder zum Richterberuf in der Strafgerichtsbarkeit. Im Fokus steht dabei eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, bei der es um die Frage ging, ob es vor dem Hintergrund der EU-Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG) gerechtfertigt oder diskriminierend sei, dass einer blinden Schöffin die Teilnahme an Hauptverhandlungen in Strafverfahren versagt wurde, weil sie die dafür erforderlichen beruflichen Anforderungen nicht erfülle.

In Teil I des Beitrags stellt Boysen die EuGH-Entscheidung sowie den ihr zugrunde liegenden Fall aus Bulgarien sowie den bulgarischen Instanzenzug vor. Zu Begrüßen sei, dass der EuGH pauschale Ausschlüsse von einer Berufsausübung, ohne die Berücksichtigung der Arbeitgeberpflicht zum Treffen angemessener Vorkehrungen, als Diskriminierungen anerkennt.

(Zitiervorschlag: Boysen: Blinde Schöffinnen und Schöffen in Europa und Deutschland – Rezension des EuGH-Urteils vom 21. Oktober 2021, Az.: C-824/19, ECLI:EU:C:2021:862 – Teil I; Beitrag B1-2022 unter www.reha-recht.de; 18.01.2022)

I. Worum geht es?

Eine blinde Bulgarin war in Sofia zur Schöffin gewählt worden, wurde aber von der zuständigen Berufsrichterin wegen ihrer Blindheit über längere Zeit zu keiner Verhandlung herangezogen. Ob es sich dabei um eine verbotene Diskriminierung handelte, musste im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV der Europäische Gerichtshof (EuGH) klären, was er bejahte.

Nach Darstellung des Sachverhalts und der Entscheidung des EuGH (Teil 1) werde ich untersuchen, ob und ggf. welche Rückwirkungen sich daraus für das deutsche Recht ergeben (Teil 2).

II. Wie sah der bulgarische Fall aus?

Die erblindete Betroffene (VA), die 1977 die juristische Eignungsprüfung in Bulgarien erfolgreich bestanden hatte, arbeitete in der Folge für einen Blindenverein und in der Europäischen Blindenunion[1].

2014 wurde VA vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) als Schöffin zugelassen, im März 2015 vereidigt und der Richterin UB zugeteilt. Gleichwohl konnte sie im Zeitraum vom 25. März 2015 bis zum 9. August 2016 an keiner einzigen Hauptverhandlung in Strafverfahren teilnehmen. Schon im Mai 2015 beantragte sie deshalb beim Präsidenten des zuständigen Gerichts, TC, einem anderen Richter zugewiesen zu werden, erhielt jedoch keine Antwort[2]. Daraufhin reichte VA bei der Kommission für den Schutz vor Diskriminierung eine Beschwerde ein, mit der sie geltend machte, sowohl von der Richterin UB wie vom Präsidenten TC wegen ihrer Behinderung benachteiligt worden zu sein. Die Antwort der beiden Protagonisten enthält die üblichen Argumente (Vorurteile?) gegen die Einbeziehung von blinden Richterinnen und Richtern in den Strafprozess. Sie beriefen sich insbesondere auf die Art der Pflichten eines Schöffen, auf das Erfordernis, über spezifische körperliche Eigenschaften zu verfügen, und auf das Bestehen eines gesetzlichen Zwecks, nämlich die Beachtung der Grundsätze der Strafprozessordnung, der die unterschiedliche Behandlung von VA wegen eines mit der Behinderung zusammenhängenden Merkmals gemäß Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung rechtfertige.[3]

III. Wie verhielten sich die bulgarischen Instanzen?

Mit Entscheidung vom 6. März 2017 stellte die Kommission für den Schutz vor Diskriminierung nach Anhörung von TC und UB fest, dass sie VA insbesondere im Sinne von Art. 4 des bulgarischen Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung wegen ihrer Behinderung diskriminiert hätten, und verhängte gegen die beiden jeweils eine Geldbuße von 250 bzw. 500 bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 130 bzw. 260 Euro).

TC und UB fochten diese Entscheidung vor dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) an. Ihre Klagen wurden jedoch abgewiesen. Das Gericht stellte u. a. fest, dass die Einführung von grundsätzlichen Beschränkungen eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Tätigkeit wie der eines Schöffen mit der Begründung, dass die betreffende Behinderung die vollwertige Ausübung dieses Berufs oder dieser Tätigkeit unmöglich mache, rechtswidrig sei. Die Strafprozessordnung verlange zwar, dass ein Schöffe die strafprozessualen Grundsätze über die Unmittelbarkeit, die Feststellung der objektiven Wahrheit und die Bildung der eigenen persönlichen Überzeugung durch den zuständigen Spruchkörper beachte. Doch die Annahme, dass das Vorhandensein einer Behinderung es einer Person in jedem Fall unmöglich mache, diese Grundsätze einzuhalten, stelle eine Diskriminierung dar. Dafür spreche auch der Umstand, dass VA seit dem 9. August 2016, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Gesetzesreform zur Einführung der elektronischen Zuweisung von Schöffen, an einer Reihe von Verhandlungen in Strafverfahren teilgenommen habe.[4]

TC und UB legten gegen diese Entscheidungen jeweils Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht Bulgariens ein. TC stützte sein Rechtsmittel darauf, dass das erstinstanzliche Gericht Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung, der das Vorliegen einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung betreffe, hätte anwenden müssen. Die Aufgaben eines Schöffen könnten naturgemäß nicht von Personen wahrgenommen werden, deren Behinderung einen Verstoß gegen die in der Strafprozessordnung verankerten Grundsätze zur Folge habe. UB ihrerseits ließ vortragen, das erstinstanzliche Gericht habe dem Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung zu Unrecht Vorrang vor der höherrangigen Strafprozessordnung und den darin verankerten Grundsätzen eingeräumt, zu deren Beachtung sie als Strafrichterin verpflichtet sei. Darüber hinaus habe sie sicherzustellen, dass alle Mitglieder des Spruchkörpers die zu den Akten gereichten Beweise gleich behandelten und das Verhalten der Parteien unmittelbar beurteilten.[5]

Das Revisionsgericht legte die Sache dem EuGH vor und wollte wissen, ob die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der UN-BRK und der Art. 2 Abs. 1–3 sowie von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG (im Folgenden: RL) die Tätigkeit einer Person ohne Sehvermögen als Schöffe ermögliche oder ob sich diese Behinderung auf ein persönliches Merkmal beziehe, das eine wesentliche und entscheidende Anforderung an die Tätigkeit eines Schöffen darstelle, mit der Folge, dass eine solche Behinderung eine Ungleichbehandlung rechtfertige und keine Diskriminierung aufgrund des Merkmals „Behinderung“ begründe.[6]

IV. Wie entschied der EuGH?

1. Rahmenbedingungen der Entscheidung

Der EuGH stand zunächst vor der prozessual zu bewertenden Tatsache, dass sich das vorlegende Gericht in seinen Vorlagefragen nicht auf die EU-Grundrechtecharta (GRC), sondern nur auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und die Richtlinie 2078/EG bezogen hatte. Er entnimmt jedoch dem Zusammenhang der Fragen, dass auch die Vorschriften der GRC, die in der Richtlinie konkretisiert würden, hier herangezogen werden könnten.[7]

Aus der RL 2000/78 und ihren Erwägungsgründen folgert der EuGH sodann einen „allgemeinen Rahmen“, der gewährleisten soll, dass jede/r in Beschäftigung und Beruf gleichbehandelt wird, indem die RL jeder und jedem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung, u. a. wegen einer Behinderung, bietet.[8] Hierzu geht der EuGH davon aus, dass es sich bei der Tätigkeit als Schöffin um eine entgeltliche berufliche Tätigkeit handelt,[9] was die RL 2000/78 erst anwendbar macht[10]. Nach dem Sachverhalt gehe es sowohl um die Bedingungen für den Zugang zu unselbstständiger oder selbstständiger Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der RL 2000/78 als auch um die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie genannten Beschäftigungen und Arbeitsbedingungen[11]. Die Blindheit von VA und ihr Ausschluss von der Tätigkeit als Schöffin stellt für den EuGH sodann eine unmittelbare Benachteiligung i. S. v. Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der RL 2000/78 dar.[12]

2. Ausnahmsweise Zulässigkeit einer Diskriminierung

Bis hierhin dürften kaum Zweifel bestehen. Viel spannender ist jedoch die Frage zu beurteilen, ob Art. 4 Abs. 1 der RL hier erfüllt ist, der es den Mitgliedstaaten in engen Grenzen erlaubt, bestimmte Anforderungen an berufliche Merkmale zu stellen, die dann nicht als Diskriminierung in Frage kommen. Der EuGH bezieht sich hier auf Erwägungsgrund 23 der RL und befürwortet eine restriktive Auslegung der Vorschrift des Art. 4 Abs. 1[13], benennt allerdings auch Fälle, in denen solche körperlichen Merkmale für einen Ausschluss von bestimmten Berufen oder beruflichen Tätigkeiten von ihm für wirksam gehalten worden sind. Dabei ging es zum einen um das berufliche Führen von Kraftfahrzeugen, für das der EU-Gesetzgeber eine Mindestsehschärfe vorsehen durfte,[14] und zum anderen um die Anforderung eines gewissen Hörvermögens bei einem Strafvollzugsbeamten[15].

Solche körperlichen Merkmale können „in bestimmten Fällen“ auch die Ausübung des Schöffenamtes unmöglich machen, „sofern die Prüfungen und die Würdigung [visueller] Beweise [im Strafverfahren] nicht mittels medizinisch-technischer Hilfsmittel vorgenommen werden können“[16]. Fraglich sei aber, ob der gänzliche Ausschluss von VA vom Schöffenamt zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sei und nicht über das hinausgehe, was dazu erforderlich sei.[17] Bei der dazu notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung sei zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nach Art. 5 der RL im Licht ihrer Erwägungsgründe 20 und 21 verpflichtet sei, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.[18] Hierzu verlangt der EuGH eine individuelle Prüfung der Fähigkeiten von VA und betont die Verpflichtung des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine Diskriminierung auszuschließen.[19] Der Gerichtshof verknüpft dieses Argument weiter mit der Vorschrift des Art. 26 GRC und Art. 5 Abs. 3 der UN-BRK zur Verpflichtung der Vertragsstaaten, angemessene Vorkehrungen zu schaffen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.[20] Schließlich zeigt sich für den EuGH die Unverhältnismäßigkeit des generellen Ausschlusses vom Schöffenamt darin, dass später, als die Schöffen im Rahmen eines elektronischen Verfahrens zugewiesen wurden, offenbar keine Probleme bei der Beteiligung von VA an Strafverfahren aufgetreten sind.[21]

V. Ein erstes Fazit

Die Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen. Das gilt vor allem für seine Ablehnung eines pauschalen Ausschlusses von der Schöffentätigkeit aufgrund einer Behinderung, ohne dass überhaupt der Versuch unternommen würde, eine Diskriminierung zu verhindern oder nach angemessenen Vorkehrungen zu suchen, um eine Schlechterstellung der behinderten Person zu vermeiden.

Welche Auswirkungen das Urteil des EuGH für die Situation deutscher Schöffen und Schöffinnen haben kann, soll im zweiten Teil dieses Beitrags erörtert werden.

Beitrag von Uwe Boysen, VRLG Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler

Fußnoten

[1] Urt. des EuGH vom 21.10.2021, Az.: C-824/19, Rn. 22; ohne weitere Angaben zitierte Randnummern beziehen sich auf dieses Urteil.

[2] Rn. 24.

[3] Rn. 25.

[4] Rn. 27.

[5] Rn. 28.

[6] Vorlagefragen aus Rn. 30, vom Verfasser vereinfacht.

[7] Rn. 31–34.

[8] Rn. 35 unter Verweis auf Urt. vom 15.07.2021, C795/19, EU:C:2021:606, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung.

[9] Rn. 37.

[10] Rn. 36.

[11] Rn. 39.

[12] Rn. 42.

[13] Rn. 45; vgl. auch EuGH Urt. vom 15.07.2021, C795/19, EU:C:2021:606, Rn. 33 m. w. N.

[14] EuGH, Urt. vom 22.05.2014, C356/12, EU:C:2014:350, Rn. 54 und 72.

[15] EuGH, Urt. vom 15.11.2016, C258/15, EU:C:2016:873, Rn. 33 m. w. N.

[16] Rn. 52.

[17] Rn. 54.

[18] In diesem Sinne auch das Urt. vom 15.07.2021, C795/19, EU:C:2021:606, Rn. 42 und 48 m. w. N.; zum Verhältnis von gesundheitlicher Eignung für einen Beruf, der Rechtfertigung von Diskriminierung und angemessenen Vorkehrungen, siehe auch: von Roetteken: Änderung der Rechtsprechung des BVerwG zu den Anforderungen der gesundheitlichen Eignung für eine Einstellung in das Beamtenverhältnis – Teil 3: Genügt die neue Rechtsprechung den Anforderungen der RL 2000/78/EG?; Forum B, Beitrag B3-2014 unter www.reha-recht.de; 13.01.2014.

[19] Rn. 54 und 57.

[20] Rn. 58–60; zum Anspruch auf angemessene Vorkehrungen nach internationalem Recht, siehe auch Hlava: Informationssendungen am Arbeitsplatz – Anspruch und Durchsetzung einer behinderungsgerechten Gestaltung des Arbeitsumfelds – Anmerkung zu LAG Berlin-Brandenburg v. 18.01.2017 – 20 Sa 956/16; Beitrag B1-2020 unter www.reha-recht.de; 12.02.2020, S. 4 ff.

[21]   Rn. 63.


Stichwörter:

Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Angemessene Vorkehrungen, Diskriminierungsverbot, Diskriminierung, Europäischer Gerichtshof (EuGH), Blindheit, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)


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