29.06.2020 B: Arbeitsrecht Kalina: Beitrag B3-2020

Inklusive Berufsausbildung im Berufsbildungsrecht – Teil I: Ausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen

Die Autorin Doreen Kalina befasst sich in dem zweiteiligen Beitrag mit der inklusiven Berufsausbildung. In Teil 1 zeigt sie auf, dass der Gedanke der Inklusion dem Berufsbildungsrecht immanent ist. Sie geht auf das Regel-Ausnahmeprinzip ein und auf die Möglichkeiten regulärer betrieblicher Ausbildungen, ggf. mittels Nachteilsausgleiche und erleichterten Zugangsvoraussetzungen. Beide seien keine Ausbildungserleichterungen, sondern angemessene Vorkehrungen, die der Schaffung von Chancengleichheit dienen. In Teil 2 des Beitrags geht die Autorin auf die sog. Fachpraktiker-Ausbildungen gem. §§ 66 BBiG und 42m HWO ein.

(Zitiervorschlag: Kalina: Inklusive Berufsausbildung im Berufsbildungsrecht – Teil I: Ausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen; Beitrag B3-2020 unter www.reha-recht.de; 29.06.2020)

I. Einführung

Die Inklusion behinderter Menschen erfordert die Offenheit eines gesellschaftlichen Systems in Bezug auf die Vielfalt von Behinderungen. Dabei ist es nicht ausreichend, innerhalb bestehender Strukturen einen Raum für behinderte Menschen zu schaffen. Ausgehend von diesem grundsätzlichen Verständnis wird in Politik, Wissenschaft und Praxis seit dem innerstaatlichen Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 über eine inklusive Schulbildung und eine inklusive Arbeitswelt diskutiert. Der vorliegende Beitrag sowie die sich anschließenden Beiträge wollen die Konzentration auf den dazwischenliegenden Zeitabschnitt – die berufliche Ausbildung behinderter junger Menschen – lenken, denn diese Phase ist für den Lebenslauf jeder und jedes Einzelnen von herausragender Bedeutung. Eine behinderungsgerechte, betriebliche oder zumindest betriebsnahe Ausbildung ist unverzichtbar, um die kritisierte Segregation auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt zu überwinden und eine dauerhafte Erwerbs­teilhabe zu erreichen. Schwellen und Barrieren werden vor allem dann geringer, wenn Betriebe früh­zeitig mit behinderten jungen Menschen zusammenarbeiten.

Dem vorgenannten Grundgedanken folgend lassen sich den verschiedenen völkerrecht­lichen Rechtsquellen wichtige Vorgaben zur Verwirklichung einer inklusiven Berufsaus­bildung entnehmen. Zu nennen sind insbesondere: Die UN-Behindertenrechtskonven­tion (BRK) – Art. 27 Abs. 1 S. 1, S. 2 d), j) und k) BRK (Arbeit und Beschäftigung), Art. 26 Abs. 1 S. 2 b) BRK (Habilitation und Rehabilitation) und 24 Abs. 5 BRK (Bildung); die Europäische Sozialcharta (ESC) – Art. 15 ESC (u. a. das Recht behinderter Menschen auf berufliche Ausbildung) sowie Art. 15 rESC[1]; die Empfehlungen und Über­einkommen der internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) – Art. 7 des ILO-Übereinkommens Nr. 159 i. V. m. Nr. 7 der ILO-Empfehlung Nr. 99 und die Nrn.  5, 9, 11 a) der ILO-Empfehlung Nr. 168. Die vorgenannten Rechtsquellen verfolgen einheitlich das Ziel der Vermeidung bzw. Verminderung von Sonderwegen und Sonder­welten in der beruflichen Ausbildung behinderter junger Menschen. Zusammenfassend lassen sich für die nationale Rechtssetzung und Rechtsanwendung folgende Vorgaben bzw. Leitprinzipien formulieren:

  • die Schaffung eines offenen, einbeziehenden und zugänglichen Berufsbildungs­systems,
  • der Vorrang der betrieblichen vor der außerbetrieblichen Ausbildung,
  • die Anpassung des allgemeinen Ausbildungsmarktes und
  • die Öffnung der bislang fürsorglich geprägten Sonderausbildungswelten.

In diesem und dem folgenden Beitrag soll aufgezeigt werden, wie das nationale Berufs­bildungsrecht die völkerrechtlichen Vorgaben umsetzt, um jungen behinderten Menschen den Zugang zur beruflichen Ausbildung und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

II. Das Regel-Ausnahme-Prinzip im Berufsbildungsrecht

Wichtigste Rechtsquelle im Berufsbildungsrecht ist das Berufsbildungsgesetz (BBiG). Für das Handwerk finden sich vergleichbare – größtenteils wortgleiche – Regelungen in der Handwerksordnung (HwO), vgl. § 3 Abs. 3 BBiG.

§ 1 Abs. 3 BBiG definiert die Berufsausbildung als Vermittlung von beruflichen Fertig­keiten, Kenntnissen und Fähigkeiten, die in einer sich wandelnden Arbeitswelt für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendig sind (berufliche Handlungs­fähigkeit). Die Berufsausbildung hat in einem geordneten Ausbildungsgang zu verlaufen und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen. In Abgrenzung zur Berufsausbildungsvorbereitung, beruflichen Fortbildung und beruflichen Umschulung (§ 1 Abs. 1 BBiG) ist somit unter dem Begriff der Berufsausbildung vor allem die berufliche Erstausbildung zu verstehen, also diejenige Ausbildung, die sich in der Regel an einen Schulabschluss bzw. an die Vollzeitschulpflicht anschließt.[2]

Grundlage einer geordneten und einheitlichen Berufsausbildung (§ 1 Abs. 3 BBiG) ist gem. § 4 Abs. 1 BBiG (§ 25 Abs. 1 HwO) die staatliche Anerkennung von Ausbildungs­berufen und der Erlass von Ausbildungsordnungen nach § 5 BBiG (§ 26 HwO).

1. Staatlich anerkannte Ausbildungsberufe

Die staatliche Anerkennung von Ausbildungsberufen und den Erlass der Ausbildungs­ordnungen übernimmt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (oder das sonst zuständige Fachministerium) im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung durch Rechtsverordnung, vgl. § 4 Abs. 1 BBiG.[3] Die Ausbil­dungsordnung legt dabei insbesondere das Ausbildungsberufsbild (die zu erwerbenden beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten) sowie den Ausbildungsrahmen­plan (eine Anleitung zur sachlichen und zeitlichen Gliederung der Ausbildung) fest, vgl. § 5 BBiG. Für einen anerkannten Ausbildungsberuf darf gem. § 4 Abs. 2 BBiG (§ 25 Abs. 2 HwO) nur nach der Ausbildungsordnung ausgebildet werden (Ausschließlichkeits­grundsatz). Die Ausbildungsordnung ist grundsätzlich verbindlich, d. h. sie beinhaltet ein Anwendungsgebot und ein Abweichungsverbot.[4]

Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) führt und veröffentlicht ein Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, vgl. § 90 Abs. 3 Nr. 3 BBiG. Im Jahr 2016 wurden 327 Ausbildungsberufe gezählt.[5] Gem. § 34 Abs. 1 S. 1 BBiG führen die zuständigen Stellen (Kammern, §§ 71 ff. BBiG) ein Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse, in das der jeweilige Berufsausbildungsvertrag einzutragen ist.[6] Im Bereich der Handwerksord­nung ist der Berufsausbildungsvertrag gem. §§ 29 Abs. 1, 28 Abs. 1 HwO in die Lehrlings­rolle einzutragen. Anerkannte Ausbildungen müssen mit Abschlussprüfungen vor dem Prüfungsausschuss der jeweiligen Kammer (§ 39 Abs. 1 S. 1 BBiG) enden, um fest­zustellen, ob Auszubildende die berufliche Handlungsfähigkeit erworben haben, vgl. §§ 37 Abs. 1 S. 1, 38 S. 1 BBiG.[7] Wie trotz der starken Formalisierung auch für junge Menschen mit Behinderung eine Ausbildung im anerkannten Beruf erfolgen kann, wird sogleich unter III. dargelegt.

2. Nicht anerkannte Ausbildungsberufe

Neben staatlich anerkannten Ausbildungen gibt es auch staatlich nicht anerkannte Ausbildungen, worauf § 4 Abs. 3 BBiG aufmerksam macht. Hierbei handelt es sich um Ausbildungen, für die es keine einheitlichen Berufsbezeichnungen und keine Ausbil­dungsordnungen im vorgenannten Sinne gibt. Nach § 4 Abs. 3 BBiG dürfen Jugendliche unter 18 Jahren grundsätzlich nicht in nicht anerkannten Ausbildungsberufen aus­gebildet werden.[8]

III. Ausbildung behinderter Menschen in anerkannten Berufen mit Nachteils­ausgleichen, §§ 64, 65 BBiG (§§ 42k, 42l HwO)

In den §§ 64 ff. BBiG finden sich für die Berufsausbildung behinderter Menschen (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX) besondere Regelungen. Vergleichbare Regelungen für das Hand­werk enthalten die §§ 42k ff. HwO.

Von zentraler Bedeutung ist § 64 BBiG (§ 42k HwO), wonach behinderte Menschen in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden sollen. Diese Vorschrift ist im Zusammenhang mit § 65 BBiG (§ 42l HwO) zu sehen, der für die Berufsausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen einige Besonderheiten vorsieht. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen nach dem nationalen Berufsbildungsrecht für behinderte Menschen – ebenso wie für nichtbehin­derte Menschen – den Regelfall der Berufsausbildung darstellt. Eine Ausnahme hiervon sehen die §§ 66 BBiG, 42m HwO vor, auf die detailliert im nächsten Beitrag eingegangen wird.

1. Nachteilsausgleiche

Die Berufsausbildung behinderter Menschen hat in erster Linie nach den allgemein gültigen Regeln, d. h. im staatlich anerkannten Ausbildungsberuf nach Maßgabe der entsprechenden Ausbildungsordnung, zu erfolgen.

Hervorzuheben ist die Gewährung von sog. Nachteilsausgleichen gem. §§ 65 Abs. 1 BBiG, 42l Abs. 1 HwO. Danach sollen die Regelungen nach den §§ 9, 47 BBiG (§§ 38, 41 HwO) die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung, die Dauer von Prüfungszeiten, die Zulassung von Hilfsmitteln und die Inanspruchnahme von Hilfeleis­tungen Dritter wie Gebärdensprachdolmetscher für hörbehinderte Menschen, vgl. § 65 Abs. 1 S. 2 BBiG (§ 42l Abs. 1 S. 2 HwO). Die §§ 9, 47 BBiG (§§ 38, 41 HwO) betreffen zum einen die Ausbildungszeit im Allgemeinen und zum anderen die Abschlussprüfung im Speziellen, für die eine Prüfungsordnung zu erlassen ist. In beiderlei Hinsicht sind neben abstrakt-generellen Regelungen auch Einzelfallregelungen denkbar und zulässig.[9] In diesem Zusammenhang ist auch die für das Teilhaberecht allgemeingültige Vorschrift des § 209 SGB IX zu nennen.[10] Gem. § 209 Abs. 1 SGB IX sind Nachteilsausgleiche Hilfen für behinderte Menschen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen. Vorschriften über Nachteilsausgleiche sind so zu gestalten, dass sie unabhängig von der Ursache der Behinderung der Art oder Schwere der Behinderung Rechnung tragen, vgl. § 209 Abs. 1 SGB IX.

Aus der offenen Formulierung der genannten Normen ist der Weg für sämtliche, kreative individuelle Hilfen und Anpassungen geebnet, die zum Gelingen der Ausbildung in einem anerkannten Beruf beitragen können.

In Bezug auf die Abschlussprüfung kommen unter anderem folgende Anpassungen in Betracht:

  • Zeitverlängerungen,
  • angemessene Pausen,
  • die Durchführung der Prüfung ganz oder teilweise am eigenen Arbeitsplatz,
  • Veränderungen der zeitlichen Lage der Prüfung,
  • Änderungen von Prüfungsformen,
  • Einzel- statt Gruppenprüfungen,
  • Assistenzmöglichkeiten und Hilfsmittel.

Die erforderlichen Hilfen sollten frühzeitig, d. h. möglichst im Rahmen der Zwischen­prüfung, ermittelt werden.[11]

Hinsichtlich der Ausbildungszeit ist vor allem an die zeitliche Anpassung der Ausbildung (insbesondere die Teilzeitausbildung, vgl. auch §§ 8 BBiG, 27b HwO) und an die Ver­änderung der Lehrmethode zu denken.

Hierbei ist nicht zu verkennen, dass es bei der Nachteilsausgleichsgewährung nicht um die Gewährung eines Vorteils geht, der die Chancengleichheit der anderen Auszubilden­den beeinträchtigt und zu einer „Verzerrung des Wettbewerbs“ führt. Es geht allein um den Ausgleich von Nachteilen, um den behinderten jungen Menschen den Zugang zu einem Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf zu ermöglichen. Nachteils­ausgleiche dürfen deswegen nicht als Erleichterung der fachlichen Ausbildungs- und Prüfungsinhalte und mithin als Bevorzugung der behinderten Auszubildenden verstanden werden, denn die fachlich-inhaltlichen Anforderungen werden nicht verringert und mithin auch nicht tangiert.[12]

Demzufolge können die denkbaren Nachteilsausgleiche als angemessene Vorkehrun­gen i. S. v. Art. 24 Abs. 5 i. V. m. Art. 2 Abs. 4 BRK eingeordnet werden.

Art. 24 Abs. 5 BRK, der für behinderte Menschen den gleichberechtigten Zugang zur Berufsausbildung vorsieht, ist in Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 4 BRK zu sehen. Angemessene Vorkehrungen sind nach Art. 2 Abs. 4 BRK notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen und ausüben können. Nach Art. 2 Abs. 3 BRK stellt die Versagung angemessener Vorkehrungen eine verbotene Diskriminierung behinderter Menschen dar.[13]

Nachteilsausgleiche im Sinne des nationalen Berufsbildungsrechts sind folglich die im Einzelfall geeigneten und notwendigen Anpassungen in Bezug auf die gesamte Ausbil­dungszeit, den Ausbildungsverlauf und die Abschlussprüfung, um behinderten Menschen den gleichberechtigten Zugang zur Berufsausbildung zu gewährleisten. Die Versagung von Nachteilsausgleichen stellt einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot dar.

2. Erleichterte Zulassungsvoraussetzungen

Die §§ 65 Abs. 2 BBiG, 42l Abs. 2 HwO sehen weitere Besonderheiten in Bezug auf die Ausbildung behinderter Menschen in anerkannten Ausbildungsberufen vor.

Gem. § 65 Abs. 2 S. 1 BBiG (§ 42l Abs. 2 S. 1 HwO) ist der Berufsausbildungsvertrag in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse (§ 34 BBiG bzw. in die Lehrlingsrolle, § 28 HwO) einzutragen. Diese Vorschrift dürfte allerdings deklaratorischer Natur sein, da sich für die Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen die Eintragungspflicht bereits direkt aus § 34 BBiG (§§ 28 ff. HwO) ergibt. Die Eintragungspflicht gilt jedenfalls auch dann, wenn die Ausbildung nicht betrieblich (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 BBiG), sondern außer­betrieblich (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 BBiG) – bspw. in einer beruflichen Rehabilitationseinrichtung, insbesondere in einem Berufsbildungswerk (§ 51 SGB IX) – durchgeführt wird.

Hingegen sieht § 65 Abs. 2 S. 2 BBiG (§ 42l Abs. 2 S. 2 HwO) erleichterte Zulassungs­voraussetzungen für die Abschlussprüfung vor. Danach sind behinderte Auszubildende zur Abschlussprüfung auch dann zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BBiG (§ 36 Abs. 1 Nr. 2 und 3 HwO) nicht vorliegen. Das sind die Fälle, in denen an den vorgeschriebenen Zwischenprüfungen nicht teilgenommen oder die vorgeschriebenen schriftlichen Ausbildungsnachweise nicht geführt wurden (§ 43 Abs. 1 Nr. 2 BBiG) und ferner, wenn das Ausbildungsverhältnis nicht in das Verzeichnis (§ 34 BBiG) eingetragen worden ist, gleichgültig aus welchem Grund (§ 43 Abs. 1 Nr. 3 BBiG).

IV. Zusammenfassung und Ausblick auf den zweiten Teil dieses Beitrags

Zusammenfassend lassen sich folgende Merkmale der anerkannten Berufsausbildung festhalten:

  • Berufsausbildungsvertrag – Eintragung in das Verzeichnis der Berufsausbildungs­verhältnisse (bzw. in die Lehrlingsrolle) bei der zuständigen Kammer
  • Grundlage: Ausbildungsordnung = Rechtsverordnung des zuständigen Bundes­ministeriums
  • Abschlussprüfung vor der Kammer
  • erleichterte Zulassungsvoraussetzungen für behinderte Menschen
  • außerdem: Gewährung von Nachteilsausgleichen zur Sicherstellung eines gleich­berechtigten Zugangs zur anerkannten Berufsausbildung.

Es zeigt sich, dass das Berufsbildungsrecht eine inklusive Berufsausbildung durch die Verankerung des Regel-Ausnahme-Prinzips verwirklicht. Das deutsche Berufsbildungs­system stellt die Ausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen in den Mittel­punkt, was die §§ 1 Abs. 3, 4 Abs. 1, 2 und 3 BBiG sowie § 5 BBiG verdeutlichen. Die §§ 64, 65 BBiG (42k, 42l HwO) haben eine behinderungsgerechte Berufsausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen zum Ziel und stellen folglich keine Ausnahme vom Grundsatz der Ausbildung in anerkannten Berufen dar.Die Vorschriften verdeut­lichen zum einen, dass behinderte Menschen grundsätzlich in gleicher Weise wie nicht behinderte Menschen ausgebildet werden und so zu einem qualifizierten Berufsab­schluss gelangen sollen. Zum anderen verdeutlichen sie, dass im Rahmen der „üblichen“ Berufsausbildung Anpassungen i. S. v. Nachteilsausgleichen vorzunehmen sind. So sollen nach den §§ 65 Abs. 1 S. 1, 47, 9 BBiG, 209 SGB IX bereits alle „regulären“ Ausbildungs- und Prüfungsordnungen die besondere Situation behinderter Auszubil­dender berücksichtigen.[14]

Die Nachteilsausgleiche wirken sich dabei grundsätzlich nicht auf die in der Ausbildungs­ordnung festgelegten inhaltlichen Anforderungen aus. Zum einen darf wegen § 4 Abs. 2 BBiG in anerkannten Ausbildungsberufen ausschließlich nach Maßgabe der Ausbil­dungsordnung ausgebildet werden und zum anderen geht es nicht um die Gewährung eines Vorteils, sondern um die Herstellung gleicher äußerer Bedingungen. Nachteils­ausgleiche sind als angemessene Vorkehrungen i. S. v. Art. 24 Abs. 5 BRK i. V. m. Art. 2 Abs. 4 BRK zu verstehen, deren Versagung eine Diskriminierung wegen der Behinde­rung darstellen würde. Die hier beschriebene „angepasste Vollausbildung“ stellt selbst keinen Sonderweg in der Berufsausbildung dar, kann aber dazu beitragen, Sonderwege für behinderte Menschen zu vermeiden.

Im nächsten Beitrag soll im Rahmen des Berufsbildungsrechts die Ausbildung nach besonderen Ausbildungsregelungen gem. §§ 66 BBiG, 42m HwO als „Sonderweg“ für behinderte Menschen erläutert werden. Hierbei gilt es vor allem, die Unterschiede zur Vollausbildung herauszuarbeiten und die besonderen Anforderungen an ausbildende Personen aufzuzeigen.

Beitrag von Dr. Doreen Kalina, Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven

Fußnoten

[1] Die revidierte Fassung der ESC, die bislang von Deutschland zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert worden ist; die revidierte Fassung geht in Art. 15 in ihrer Formulierung über den ursprünglichen Text hinaus, indem sie den Integrationsgedanken deutlicher hervorhebt.

[2] Leinemann/Taubert, BBiG, 2. A. 2008, § 1 Rn. 18; Wohlgemuth in HK-BBiG, 1. A. 2011, § 1 Rn. 3.

[3] Vgl. bspw. der zum 01.08.2018 neu eingeführte staatlich anerkannte Ausbildungsberuf zum/zur Kaufmann/frau im E-Commerce, BGBl. 2017 I, 3926, BGBl. 2013 I, 4125; die Ausbildungsordnungen werden durch die Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz für die Berufsschule ergänzt.

[4] Ein sog. „Anlernvertrag“ für einen Beruf, für den es eine Ausbildungsordnung gibt, ist gem. §§ 4 Abs. 2 BBiG, 134 BGB nichtig und führt zu einem Arbeitsverhältnis auf fehlerhafter Vertragsgrundlage mit Anspruch auf die übliche Vergütung gem. § 612 Abs. 2 BGB, vgl. BAG, Urt. v. 27.07.2010 – 3 AZR 317/08 – Rn. 21 ff., juris = BAGE 135, 187; Lakies/ Malottke, BBiG, 6. A. 2018, § 4 Rn. 5; Wohlgemuth in HK-BBiG, 1. A. 2011, § 4 Rn. 8.

[5] Verzeichnis vom 19.06.2018; ein Download des aktuellen Verzeichnisses ist abrufbar unter https://www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/publication/show/10575.

[6] Ausführlich §§ 34 ff. BBiG.

[7] Einzelheiten in §§ 37 ff. BBiG; es ist mit § 3 Abs. 1 BBiG vereinbar, dass Gegenstand der Abschlussprüfung auch der in der Berufsschule vermittelte Stoff ist, vgl. Wohlgemuth in HK-BBiG, 1. A. 2011, § 3 Rn. 3 und § 38 Rn. 5.

[8] Eine Ausnahme besteht nach der Vorschrift allerdings dann, wenn die Berufsausbildung auf den Besuch weiterführender Bildungsgänge vorbereitet (z. B. Praktika vor einem Fach-/Hochschulstudium); § 4 Abs. 3 BBiG ist ebenfalls ein Verbotsgesetz i. S. v. § 134 BGB mit der Folge, dass mit Minderjährigen geschlossene Ausbildungs- oder Anlernverträge nichtig sind und ein faktisches Arbeitsverhältnis mit Anspruch auf die übliche Arbeitsvergütung gem. § 612 BGB (nicht Ausbildungsvergütung) entsteht; vgl. Ausschussbericht BT-Drs. 5/4260, S. 15 (zu § 28 Abs. 2 a. F.); Schlachter in ErfK, 20. A. 2020, BBiG, § 4 Rn. 1.

[9] Zu Regelungen in Bezug auf die Ausbildungszeit im Allgemeinen, vgl. Wohlgemuth in HK-BBiG, 1. A. 2011, § 9 Rn. 11 ff.; Einzelfallregelungen sind insbesondere bei den Prüfungen denkbar, z. B. durch Öffnungsklauseln in den Prüfungsordnungen, vgl. § 16 der BIBB-Rahmenordnung, abgedruckt bei Lakies/Malottke, BBiG, 6. A. 2018, § 47 Rn. 19 ff.

[10] Dazu Faber/Rabe-Rosendahl in FKS-SGB IX, 4. A. 2018, § 209 Rn. 8.

[11] Vollmer in Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP) 2/2015, S. 36 f.; Leinemann/Taubert, BBiG, 2. A. 2008, Anhang zu § 65 BBiG; Proyer-Popella in HK-BBiG, 1. A. 2011, § 65 Rn. 12; Faber/Rabe-Rosendahl in FKS-SGB IX, 4. A. 2018, § 209 Rn. 8.

[12] In diesem Sinne auch Vollmer in Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP) 2/2015, 36 f.; Hechler/Plischke, Beitrag A12-2015, S. 4 ff., www.reha-recht.de.

[13] Zum unionsrechtlichen Begriff in Art 5 RL 2000/78/EG und der Umsetzung durch die §§ 164 Abs. 4 und 5 SGB IX sowie §§ 618 BGB, 12 AGG, vgl. Faber/Rabe-Rosendahl in FKS-SGB IX, 4. A. 2018, § 164 Rn. 108 ff.

[14] Und nicht nur die nachrangigen Ausbildungsregelungen nach den §§ 66 BBiG, 42m HwO.

Beitrag von Dr. Doreen Kalina, Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven


Stichwörter:

Inklusive Ausbildung, Nachteilsausgleich, Angemessene Vorkehrungen


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.