16.08.2023 B: Arbeitsrecht Kohte: Beitrag B3-2023

Die SBV als Akteur betrieblicher Teilhabe – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/21

Der Autor stellt eine Grundsatzentscheidung des BAG für die Schwerbehindertenvertretung als eigenständige Interessenvertretung aus dem Jahr 2022 vor. Der 7. Senat sowie auch der Autor betonen, dass im Vergleich zu anderen Interessenvertretungen in bestimmten Konstellationen auch eigenständige rechtliche Lösungen möglich und geboten sind. Dies gelte insbesondere für das Fortbestehen der SBV im Fall des Absinkens der Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb unter den Schwellenwert von fünf Personen, da die SBV als einen wichtigen Zweck auch die Eingliederung von schwerbehinderten Menschen in den Betrieb und den Arbeitsmarkt zu stärken habe.

(Zitiervorschlag: Kohte: Die SBV als Akteur betrieblicher Teilhabe – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/21; Beitrag B3-2023 unter www.reha-recht.de; 16.08.2023)

I. Thesen des Autors

  1. Mit dem Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/21 – hat der 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die Eigenständigkeit der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und deren spezifische Konstruktion überzeugend geklärt. Für die SBV ist kennzeichnend, dass sie eine Interessenvertretung schwerbehinderter Beschäftigter ist, die auf die Integration schwerbehinderter Menschen in den Betrieb angelegt ist und daher auch zuständig ist für Beschäftigte, die noch nicht als schwerbehinderte Menschen anerkannt sind, und für schwerbehinderte Personen, die sich um einen Arbeitsplatz im Betrieb beworben haben.
  2. Damit erhält die SBV im Vergleich zu anderen Interessenvertretungen einen eigenständigen Charakter, so dass in bestimmten Konstellationen auch eigenständige rechtliche Lösungen möglich und geboten sind. Damit ist sie ein spezifisches Organ der Betriebsverfassung.
  3. Aus ihrer Eingliederungsfunktion ergeben sich Beratungs- und Unterstützungsaufgaben, die vor allem in § 178 Abs. 1 SGB IX genannt sind. Diese können erfolgreich nur realisiert werden, wenn die SBV effektiv von den Arbeitspflichten freigestellt sind. Hier ist eine gesetzliche Stärkung der SBV geboten.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

In der Entscheidung war zu klären, ob eine SBV fortbesteht, wenn die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb auf weniger als fünf Personen gesunken ist. Dies hat der 7. Senat des BAG in Abgrenzung zur Rechtslage im BetrVG überzeugend aus der Systematik des SGB IX bejaht und sich dazu auf den Eingliederungszweck der SBV-Arbeit bezogen. Ausdrücklich betont der Senat für die SBV „die Einbindung in die besonderen Bestimmungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“.

III. Der Sachverhalt

Die Beteiligten streiten darüber, ob das Amt der antragsstellenden SBV vorzeitig beendet worden ist. Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen der klinischen Forschung mit zwei Betrieben; der größere Betrieb befindet sich am Sitz des Unternehmens in L.; in dem Betrieb in Köln werden 120 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. In diesem Betrieb sind ein Betriebsrat sowie seit 2019 eine SBV gebildet. Am 1. August 2020 sank die Zahl der im Kölner Betrieb beschäftigten schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Menschen von fünf auf vier. Die Arbeitgeberin teilte der dort gewählten SBV darauf mit, dass diese aus ihrer Sicht nicht mehr existiere und die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten im Kölner Betrieb von der SBV im weiter entfernten Betrieb in L wahrgenommen würden (§ 180 SGB IX). Die SBV lehnte diese Position ab und leitete darauf das Beschlussverfahren ein, das im Oktober 2022 letztlich vom 7. Senat des BAG entschieden wurde.

Das LAG Köln (31.8.2021 – 4 TaBV 19/21) bestätigte im Beschwerdeverfahren die Entscheidung des ArbG Köln, wonach die SBV wegen zu geringer Beschäftigtenzahl nicht mehr existiere. Das Gericht berief sich dabei auf die Rechtsprechung des BAG zu § 1 BetrVG. Danach führt das Absinken der Zahl der ständig beschäftigten Arbeitnehmer auf weniger als fünf zum Erlöschen des Betriebsrats.[1] Gegen diesen Beschluss, der mit seiner Parallele zu § 1 BetrVG in der juristischen Literatur auf deutliche Kritik gestoßen war,[2] hatte die SBV Rechtsbeschwerde beim BAG eingelegt.

IV. Die Entscheidung

Einleitend klärte der Senat die prozessrechtlichen Voraussetzungen und orientierte sich an früheren Entscheidungen, wonach eine Interessenvertretung, um deren Existenz gestritten wird, in diesem Verfahren auf jeden Fall beteiligungsbefugt ist. Eine weitere prozessrechtliche Vertiefung ist hier nicht erforderlich.

Das Erlöschen des Amtes der SBV ist in § 177 Abs. 7 SGB IX normiert. Dort findet sich keine Aussage, dass bei Absinken der Zahl der Beschäftigten die Existenz der SBV beendet sei. Die Arbeitgeberin berief sich vor allem auf die Rechtsprechung des BAG zum BetrVG. Zwar findet sich eine solche Aussage in § 24 BetrVG nicht, doch hatte das BAG bei Absenken der Zahl der Beschäftigten im Betrieb die Fortexistenz des Betriebsrats verneint. Dies wird allerdings mit § 1 BetrVG begründet, wonach die Betriebsratsfähigkeit eines Betriebes mit der Zahl von fünf Beschäftigten vorausgesetzt sei. Die Größe des Betriebs ist danach für die Bildung eines Betriebsrats eine zentrale Voraussetzung.

Für die Existenz der SBV ist jedoch in § 177 Abs. 1 SGB IX eine andere Konstruktion gewählt worden. Ihre Existenz hängt nicht von der Größe des Betriebs ab, sondern von der Beschäftigung von wenigstens fünf schwerbehinderten Menschen; dies ist bereits möglich in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten. Es kann aber auch sein, dass – wie hier – im Betrieb mehr als 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt werden. Daher spielt die Betriebsgröße für die Existenz der SBV keine Rolle; sie ist vielmehr ein gruppenorientiertes Gremium, das die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten wahrnehmen und deren Eingliederung sichern soll.

Der Senat begründete die Aussage, dass die Existenz der SBV nicht an die Größe des Betriebs gekoppelt sei, nicht nur mit dem unterschiedlichen Wortlaut beider Gesetze, sondern orientierte sich auch an der Teilhabefunktion der SBV. Die SBV habe als wichtigen Zweck auch die Eingliederung von schwerbehinderten Menschen in den Betrieb und den Arbeitsmarkt zu stärken. Sie ist daher nach § 178 SGB IX auch zuständig für die Beratung von Beschäftigten, die noch nicht als schwerbehinderte Menschen anerkannt sind und unterstützt sie sowohl bei der Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 als auch bei der Gleichstellung, wenn ein GdB von 30 oder 40 festgestellt worden ist. Insoweit greifen die Aufgaben einer SBV deutlich über die Interessenvertretung der aktuell schwerbehinderten Beschäftigten hinaus.

In diesem Zusammenhang weist der Senat ausführlich auf die Beteiligung der SBV nach § 164 SGB IX im Einstellungsverfahren hin. Hier soll die SBV auch die Interessen von schwerbehinderten Bewerberinnen und Bewerbern wahrnehmen, die noch nicht zu den Beschäftigten im Betrieb gehören. Gerade wenn die Beschäftigungsquote – wie im vorliegenden Fall – auf weniger als 5 % absackt – hat die SBV weitergehende Rechte nach § 164 Abs. 1 S. 7 bis 9 SGB IX.[3] Auch aus diesem Grund ist es nach Ansicht des 7. Senats des BAG verfehlt, wenn das zeitweilige Absinken der Beschäftigungsquote dazu führt, dass eine vorhandene SBV nicht mehr besteht. Daher hat der Senat der Rechtsbeschwerde stattgegeben.

Schließlich hatte die Arbeitgeberin noch auf § 180 SGB IX verwiesen. Danach sollte im konkreten Fall die weiterbestehende SBV im größeren, weit entfernten Betrieb L die Rechte der SBV im aus ihrer Sicht SBV-losen Betrieb in Köln wahrnehmen. Dabei wird nicht bedacht, dass eine betriebsnahe Vertretung vorrangig ist. Die in § 180 SGB IX normierte Mandatserstreckung der größeren SBV setzt einen vertretungslosen Zustand voraus, sie vermag ihn jedoch nicht zu begründen.

V. Würdigung/Kritik

Diese Entscheidung des 7. Senats des BAG ist eine wichtige Grundsatzentscheidung zu den Strukturen des SBV und zu ihrem Zweck, die in der juristischen Literatur auf Zustimmung gestoßen ist.[4] Der Senat geht grundsätzlich davon aus, dass die SBV eine spezifische Interessenvertretung ist und dass es daher auch möglich ist, sich auf parallele Strukturen im Recht der Betriebsverfassung zu beziehen, wenn es keine gegenteiligen Regelungen im SGB IX gibt[5]. Diese müssen vorrangig beachtet werden, daher hatte der 7. Senat bereits vor mehr als 15 Jahren in einem anderen Fall einige Besonderheiten der SBV herausgearbeitet und für das SBV-Wahlverfahren eine spezifische Lösung herausgearbeitet.[6]

Daran orientiert sich auch der neue Beschluss. Er bekräftigt die Existenz der SBV bei einem Absinken der Zahl der Schwerbehinderten unter fünf mit systematischen Argumenten und mit einer genauen Analyse des Normzwecks. Die systematischen Argumente orientieren sich an der unterschiedlichen Struktur. Während für § 1 BetrVG die Zahl der fünf beschäftigten Personen eine wichtige Grundlage für die Betriebsratsfähigkeit des Betriebs ist, ist im § 177 Abs. 1 SGB IX die Zahl der fünf schwerbehinderten Beschäftigten nur eine Voraussetzung für das Wahlverfahren und zeigt, dass es hier um die Interessenvertretung einer spezifischen Gruppe geht.

Von besonderer Bedeutung ist der Normzweck der Eingliederung schwerbehinderter Beschäftigter in den Arbeitsmarkt. Diese Aufgabe der SBV reicht deutlich über die Interessenvertretung der bereits im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Menschen hinaus. Sie gibt der SBV wichtige Rechte im Einstellungsverfahren nach § 164 Abs. 1 SGB IX und der innerbetrieblichen Beratung nach § 178 SGB IX von noch nicht anerkannt schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb. Hier hat die SBV eine wichtige Eingliederungsaufgabe, die über die Zahl der wahlberechtigten schwerbehinderten Beschäftigten hinausgeht. Damit wird die Existenz der SBV eng angelehnt an ihre teilhaberechtliche Funktion. Dies ist nicht nur rechtssystematisch zutreffend, sondern entspricht auch den sozialen Erfahrungen. Eine neue sozialwissenschaftliche Untersuchung hat nachgewiesen, dass in Betrieben mit Interessenvertretungen eine höhere Beschäftigungsquote erreicht wird, dass diese aber am höchsten in Betrieben mit einer SBV ist.[7]

Es war daher verfehlt, dass die Beratungen zum Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts in diesem Jahr nicht genutzt worden sind, um in Fortsetzung der Bundesteilhabegesetz-Gesetzgebung aus dem Jahr 2016 weitere Maßnahmen zur Stärkung der SBV zu treffen. Über einige dieser Maßnahmen besteht jedoch weitere Klarheit.

Ein erstes Beispiel sind die unzutreffenden Regelungen zur Freistellung und Heranziehung, die durch eine Grenze von 100 schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb beschränkt sind. Dies ist ein rechtssystematischer Bruch, denn der Senat hat deutlich herausgearbeitet, dass in §§ 164, 178 SGB IX wichtige und zeitintensive Aufgaben der SBV normiert sind, die sich an nicht oder noch nicht schwerbehinderte Personen richten. Da die typisierende Berechnung für die betriebliche Praxis hilfreich ist, könnte als denkbarer Kompromiss die Freistellungsgrenze auf 50 Beschäftigte herabgesetzt werden; denkbar ist auch eine Typisierung der Teilfreistellung bei wenigstens 20 schwerbehinderten Beschäftigten. Ebenso kann die Regelung zu möglichen Sprechstunden im Gesetz verdeutlicht werden. § 179 Abs. 9 SGB IX enthält die Aussage, dass auch die SBV Sprechstunden durchführen kann, doch wäre hier eine Klarstellung nach dem Vorbild des § 39 BetrVG erforderlich,[8] die für alle Zwecke des § 178 SGB IX genutzt werden kann.

Solange der Bundestag untätig bleibt, lassen sich diese Verbesserungen auch in einer Inklusionsvereinbarung nach § 166 SGB IX regeln.[9] Die gemeinsame Auswertung des BAG-Beschlusses vom 19. Oktober 2022 kann den betrieblichen Akteuren einen erfolgreichen Anstoß zu solchen Verbesserungen geben.

Beitrag von Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Zentrum für Sozialforschung Halle

Fußnoten

[1] BAG 07.04.2004 – 7 ABR 41/03; so auch die Literatur Richard/Maschmann, BetrVG 17. Aufl. 2022, § 1, Rn. 144; Fitting BetrVG 31. Aufl. 2022 § 1 Rn. 358.

[2] Schäfer, JurisPR-ArbR 48/2021 Anm. 3; HaKo-BetrVG/Düwell 6. Aufl. 2022 § 32 Rn. 15.

[3] Dazu Faber/Rabe-Rosendahl in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol SGB IX, 5. Aufl. 2023 § 164 Rn. 23.

[4] Sdorra, JurisPR-ArbR 22/2023 Anm. 1; Gün in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 5. Aufl. 2023, § 177 Rn. 32; vgl. Borgaes, AuR 2023, 302.

[5] Dazu ausführlich Paul, Die SBV als ein Organ der Betriebsverfassung, 2018.

[6] BAG 16.11.2005 – 7 ABR 9/05, dazu Kohte/Pick, JurisPR-ArbR 12206 Anm. 1.

[7] Blank/Brehmer, Beschäftigung von Schwerbehinderten und ihre Interessenvertretung im Betrieb, Policy-Brief WSI, 9/2022,

[8] Dazu auch Paul, S. 149 ff.

[9] Dazu Kohte/Liebsch, RP-Reha 2/2017, 14, 16; LPK-SGB IX/Düwell, § 179 Rn. 38.


Stichwörter:

Schwerbehindertenvertretung (SBV), Schwerbehinderung, Interessenvertretung


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.