08.12.2023 B: Arbeitsrecht Kohte: Beitrag B5-2023

Unterlassenes BEM-Verfahren kann Schadensersatzanspruch begründen – Anmerkung zu ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.12.2021 – 5 Ca 1321/21

Der Autor diskutiert anhand eines Urteils des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 10. Dezember 2021 (Az. 5 Ca 1321/21) die Schadensersatzmöglichkeiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Fall eines unterlassenen Betrieblichen Eingliederungs­managements (BEM). Im konkreten Fall war zusätzlich wegen der Verweigerung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes nach § 164 Abs. 4 SGB IX eine Verschlech­terung des Gesundheitszustandes der Arbeitnehmerin eingetreten. Der Autor stellt die Voraussetzungen und Fallstricke der Geltendmachung eines solchen Schadensersatz­anspruches dar und gibt Hinweise für die Praxis.

(Zitiervorschlag: Kohte: Unterlassenes BEM-Verfahren kann Schadensersatzanspruch begründen – Anmerkung zu ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.12.2021 – 5 Ca 1321/21; Beitrag B5-2023 unter www.reha-recht.de; 08.12.2023)

I. Thesen des Autors

  1. In einer beachtlichen Zahl von Betrieben wird die Pflicht zu einem BEM-Verfahren (Betriebliches Eingliederungsmanagement) nicht beachtet. Bundestag und Bundesarbeitsgericht (BAG) haben bisher effektive Antworten der Beschäftigten nicht geklärt; eine passende Antwort ist von ihnen in nächster Zeit nicht zu erwar­ten. Daher ist nach geeigneten schadensersatzrechtlichen Wegen zu suchen.
  2. Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen zeigt einen in letzter Zeit wenig beachteten Weg: Bei schuldhafter Pflichtverletzung des Arbeitgebers können Beschäftigte das Arbeitsverhältnis außerordentlich kündigen und Auflösungsschadensersatz nach § 628 Abs. 2 BGB verlangen. Dieser wird nach Abfindungsregeln berechnet, der bei einem länger dauernden Arbeitsverhältnis in der Regel fünf bis zehn Monatseinkommen umfassen kann.
  3. Dieser Weg setzt eine sorgfältige Rechtsberatung voraus, denn durch die Eigen­kündigung wird das Arbeitsverhältnis beendet; Schadensersatz wird aber nur bei schweren Pflichtverletzungen geschuldet. Das Urteil ist zugleich ein Ansporn, andere schadensersatzrechtliche Möglichkeiten zu suchen, die weniger riskant für die Beschäftigten sind.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Arbeitgeber sind nach § 167 Abs. 2 SGB IX verpflichtet, Beschäftigten nach ins­gesamt sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit innerhalb von zwölf Monaten ein BEM-Verfahren anzubieten. Wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen, können Beschäftigte Ansprüche auf Schadensersatz realisieren.
  2. Eine mögliche Form des Schadensersatzes bietet § 628 Abs. 2 BGB. Danach schuldet der Arbeitgeber Schadensersatz, wenn der Arbeitnehmer/die Arbeitneh­merin das Arbeitsverhältnis wegen schuldhaft vertragswidrigen Verhaltens außer­ordentlich gekündigt hat.
  3. Wenn eine langfristig beschäftigte schwerbehinderte Arbeitnehmerin auf einen gesundheitlich ungeeigneten Arbeitsplatz versetzt wird und deswegen die Gefahr einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit besteht, dann ist die nachhaltige Nichtbeachtung eines BEM-Verfahrens eine schwerwiegende Pflichtverletzung, die die Arbeitnehmerin zur außerordentlichen Kündigung berechtigt. Als Schadens­ersatz ist eine Abfindung analog §§ 9, 10 KSchG in Höhe von 45.000 € zu zahlen.

III. Der Sachverhalt

Die 1972 geborene Klägerin war seit dem 1. Oktober 1990 im Betrieb der jetzigen Beklagten als Krankenschwester tätig. Ihr ist ein Grad der Behinderung von 50 an­erkannt; sie war seit dem 30. September 2019 arbeitsunfähig krank.

Während ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit wurde ihr bisheriger Arbeitsplatz in der proktologischen Ambulanz neu ausgeschrieben und mit einer anderen Pflegekraft be­setzt. Im April 2020 erfolgte ein Gespräch mit der Klägerin unter Beteiligung der Pflege­direktorin, der stellvertretenden Pflegedienstleitung und eines Mitglieds der Mitarbeiter­vertretung zur Wiedereingliederung. In diesem Gespräch bat die Klägerin um ein BEM­Verfahren. Dies wurde von der Pflegedirektorin mit der Begründung ablehnt, dass die Klägerin aktuell nicht krank sei. Die Klägerin wies darauf hin, dass die Auswirkungen ihrer Wirbelsäulenerkrankung dem von der Beklagten angeordneten Einsatz auf der neuen Station 6B entgegenstehen. Der Klägerin wurde angeraten, ein Rückenseminar bei der Berufsgenossenschaft zu belegen. Im Übrigen verblieb es bei der Zuweisung zu der neuen Station.

Die Klägerin wurde auf der neuen Station im Wege einer stufenweisen Wiedereinglie­derung vom 4. bis zum 31. Mai 2020 eingesetzt. Aufgrund erheblicher Schmerzen bei der Arbeit bat die Klägerin bereits nach wenigen Tagen um einen Termin beim Betriebs­arzt, der ihr mit Stellungnahme vom 14. Mai 2020 bescheinigte, dass die Klägerin nicht mehr als 5 bis 10 Kilo heben solle, was bei dem Einsatz auf der Station nicht einzuhalten sei, weshalb von ihm ein anderweitiger Einsatz empfohlen wurde. Am 24. Mai 2020 wurde ein vergleichbares Attest durch den Facharzt für Frauenheilkunde der Klägerin erstellt. Ein weiteres Attest ihres Orthopäden vom 27. Mai 2020, dass ihr die Hebe­leistungen auf der neuen Station nicht möglich seien, wurde von der Klägerin ebenfalls im Mai 2020 vorgelegt.

Nach dem Ende der Wiedereingliederung wurde die Klägerin erneut vollschichtig auf der Station 6B eingesetzt, allerdings in den ersten Tagen nur für wenige Stunden, danach jedoch vollschichtig in den verschiedenen Schichten. Vorschläge der Klägerin zur Rückversetzung an den früheren Arbeitsplatz wurden abgelehnt. Ein BEM-Verfahren wurde in Aussicht gestellt, ohne dass jedoch ein Termin festgelegt wurde. Im Juli 2020 war die Klägerin wieder arbeitsunfähig und erklärte noch einmal ausdrücklich die Bereitschaft zu einem BEM-Verfahren, das jedoch weiter nicht angesetzt wurde. Am 5. September 2020 nahm sie ihre Arbeit wieder auf, ohne dass sich die Arbeits­bedingungen geändert hatten.

Darauf erteilte ihr Rechtsanwalt der Beklagten am 14. September 2020 eine schriftliche Abmahnung. Er rügte, dass trotz des im Juli übermittelten Telefaxes seine Mandantin nicht behinderungsgerecht eingesetzt werde und dass kein BEM-Verfahren durchgeführt wurde. Ergänzend wurde eine orthopädische Stellungnahme beigefügt und dann dem Arbeitgeber eine Abmahnung erteilt wegen fortlaufender Verstöße gegen das arbeits­vertragliche Rücksichtnahmegebot und die Pflicht zur Durchführung eines BEM-Verfahrens, verbunden mit der Aufforderung, bis zum 23. September 2020 zeitnah Vor­schläge für die Durchführung des BEM-Verfahrens zu unterbreiten. Nach Fristablauf werde seine Mandantin das Arbeitsverhältnis sonst gegebenenfalls außerordentlich kündigen.

Als keine Reaktion der Beklagten innerhalb der gesetzten Frist erfolgte, kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit anwaltlichem Schreiben vom 25. September 2020  außerordentlich mit einer Auslauffrist zum 30. November 2020. In dem Kündigungs­schreiben hieß es auszugsweise, „die Kündigung wurde notwendig, weil sie trotz Abmah­nung vom 14. September 2020 kein Betriebliches Eingliederungsmanagement durch­geführt und auch keine leidensgerechte Beschäftigung organisiert haben“. Daher habe sich die Mandantin nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten umgesehen und könne ab dem 1. Dezember 2020 in einem anderen Unternehmen arbeiten, in dem auf ihren körperlichen Zustand Rücksicht genommen werde.

Als Schadensersatzanspruch gem. § 628 Abs. 2 BGB wurde angesichts der dreißig­jährigen Betriebszugehörigkeit ein Betrag in Höhe von 56.507,10 € geltend gemacht, der sich aus der Multiplikation des Bruttogrundentgelts mit der Betriebszugehörigkeit von dreißig Jahren ergibt.

Die Beklagte wies diese Ansprüche zurück und bestritt das Vorliegen einer Pflicht­verletzung. Als keine Zahlung erfolgte, wurde Klage erhoben mit dem Antrag die Beklag­te zu verurteilen, der Klägerin 56.507,10 € Schadensersatz zu zahlen. Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 45.000 € stattgegeben. In der Berufungsinstanz schlossen die Parteien einen Vergleich, mit dem die zu zahlende Summe auf 34.000 € festgesetzt wurde.

IV. Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 45.205,68 € gem. § 628 Abs. 2 BGB hat. Diese Norm ver­pflichtet denjenigen, der durch schuldhaftes vertragswidriges Verhalten (Auflösungs­verschulden) den anderen Teil zur Kündigung veranlasst, zum Ersatz des daraus ent­stehenden Schadens. Ein Auflösungsverschulden ist gegeben, wenn der Kündigungs­empfänger durch schuldhaftes vertragswidriges Verhalten den Anlass für die Beendi­gung des anderen Teils gegeben hat. Das vertragswidrige Verhalten muss dabei von solchem Gewicht sein, dass es einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darstellt und zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würde. Dies bejahte das Arbeitsgericht.

Voraussetzung ist zunächst ein pflichtwidriges Verhalten des Arbeitgebers; dieses pflichtwidrige Verhalten sah das Arbeitsgericht in der Nichtdurchführung eines BEM-Verfahrens. Allerdings berechtigt nicht jede Nichtdurchführung eines solchen Verfahrens zur fristlosen Kündigung. Das Arbeitsgericht sieht hier als Voraussetzung, dass die un­verändert ausgeübte Tätigkeit die Gefahr weiterer körperlicher Beeinträchtigungen mit sich bringt und dass der Arbeitgeber den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäf­tigung nach § 164 Abs. 4 SGB IX nicht beachtet hat. In dieser Nichtbeachtung sieht das Arbeitsgericht zugleich einen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Arbeitnehmerin gem. § 241 Abs.2 BGB.

Das Arbeitsgericht unterscheidet den konkreten Fall von der Konstellation des BAG, wonach Arbeitnehmer gegen ihre Arbeitgeber keinen einklagbaren Anspruch auf Durch­führung eines BEM haben.[1] Diese Entscheidung betrifft nur den Primäranspruch auf Durchführung des BEM-Verfahrens. In dem Verfahren des Arbeitsgerichts geht es jedoch um den Sekundäranspruch der Arbeitnehmerin auf Schadensersatz, weil ein BEM-Verfahren nicht durchgeführt worden ist. Dies ergibt sich bereits aus der Syste­matik des SGB IX. § 167 Abs. 2 SGB IX normiert das BEM-Verfahren als eine Verpflich­tung des Arbeitgebers, so dass sich daraus ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 241 Abs. 2 BGB ergeben kann, denn die Pflicht zur Durchführung eines BEM ist kein Selbstzweck, sondern dient der Erhaltung der Gesundheit der Arbeitnehmerin.

Nach dem Sachverhalt war eindeutig, dass der Arbeitgeber nach mehr als sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit verpflichtet war, ein BEM-Verfahren durchzuführen. Die erforderliche Einladung zu einem BEM-Verfahren ist vom Arbeitgeber nicht aus­gesprochen worden. Es war der Beklagten auch möglich, nach der Abmahnung vom 14. September innerhalb der gesetzten Frist von neun Tagen einen solchen Termin anzuberaumen. Die Klägerin hatte durch ihre Fristsetzung deutlich gemacht, dass sie auch zu diesem Zeitpunkt bereit war, sich zumindest auf eine baldige Terminverein­barung einzulassen. Damit waren die Einwendungen des Arbeitgebers hinfällig.

Eine außerordentliche Kündigung setzt nach § 626 BGB eine schwerwiegende Pflicht­verletzung voraus und bedarf einer zusätzlichen Interessenabwägung. Das Gericht sah das Gewicht der Pflichtverletzung besonders darin, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin in den letzten zwei Jahren, in denen sie auf der Station 6B gearbeitet hatte, verschlechtert hatte. Der Betriebsarzt hatte mit seiner Bescheinigung auf diese Gefahr einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit hingewiesen. Zudem konnte die Klägerin den Dienst nur unter Einnahme von Schmerzmitteln verrichten. Daraus ergibt sich das Gewicht einer schweren Pflichtverletzung.

Im Rahmen der Interessenabwägung war weiter zu beachten, dass die Beklagte trotz mehrfacher Bitten der Klägerin untätig geblieben war, obgleich die Initiativlast für die Einführung eines BEM-Verfahrens bei ihr lag. Nachdem die Beklagte ein Formblatt einer BEM-Erstinformation im Juli 2020 versandt hatte, hatte die Klägerin am 3. August 2020 ausdrücklich einem BEM-Verfahren zugestimmt, doch war die Beklagte weiter untätig geblieben. Die Tatsache, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig war, ist rechtlich ohne Bedeutung, denn nach der Systematik des § 167 Abs. 2 SGB IX kann ein BEM-Verfahren grundsätzlich auch während einer Arbeitsunfähigkeit durchgeführt werden. Die Klägerin war auch nicht wegen Bettlägerigkeit oder Ortsabwesenheit durch Aufenthalt in einem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung am Verfahren gehindert. Als letzte Voraussetzung stellte das Arbeitsgericht fest, dass hier eine hinreichend kon­krete Abmahnung erteilt worden war, die der Beklagten einen Zeitraum von neun Tagen eröffnet hatte, in dem sie trotzdem weiter untätig geblieben war. Damit waren alle Voraussetzungen gegeben, so dass die Klägerin legitimiert war, am 23. September eine außerordentliche Kündigung auszusprechen. Sie hatte diese Kündigung mit einer Aus­lauffrist zum 31.10. versehen; dies ist nach der Rechtsprechung des BAG möglich.[2] Für den Schadensersatz bei einem Auflösungsverschulden orientieren sich die Gerichte an der Höhe einer Abfindung nach § 9, 10 KSchG. Das Arbeitsgericht setzte daher eine Abfindung in Höhe von zwölf Monatseinkommen fest.

Die Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung am LAG Hamm ein. Dort wurde der Rechtsstreit durch einen Vergleich beendet, in dem sich die Beklagte verpflichtete, 34.000 € zu zahlen.

V. Würdigung/Kritik

Dieser Entscheidung des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen ist nachhaltig zuzustimmen. Sie zeigt einen interessanten, juristisch allerdings anspruchsvollen Weg auf, wie Beschäf­tigte reagieren können, wenn Arbeitgeber die Pflicht verletzen, ihnen ein BEM-Verfahren anzubieten. Der einfachste Weg würde darin bestehen, dass dem Beschäftigten ein klagbarer Anspruch auf Durchführung des Verfahrens gegeben ist. Diesen Weg hat das BAG 2021 ausdrücklich abgelehnt. Diese Entscheidung wird in der Fachliteratur über­wiegend abgelehnt,[3] im Moment ist aber kaum davon auszugehen, dass eine kurzfristige Korrektur dieser Entscheidung durch das Bundesarbeitsgericht oder den Bundestag zu erwarten ist.

Für weitere arbeitsgerichtliche Maßnahmen ist daher zu prüfen, welche anderen Wege noch möglich sind. Für die juristische Systematik ist zu beachten, dass der neunte Senat des BAG ausschließlich den „Primäranspruch“ auf unmittelbare Durchführung des BEM abgelehnt hat. Daneben sind Sekundäransprüche möglich, dies sind in der Regel Schadensersatzansprüche. Diese sind seit einigen Jahren in der Gerichtspraxis an­erkannt; das BAG räumt sie ein, wenn nicht das BEM-Verfahren, sondern konkrete Schutzmaßnahmen unterlassen werden. Ein anschauliches Beispiel für einen solchen Sekundäranspruch hat das LAG Berlin-Brandenburg vor wenigen Jahren geliefert.[4] Hier hatte die Schulverwaltung des Landes Berlin ein BEM-Verfahren mit stufenweiser Wiedereingliederung erst nach mehrfacher Mahnung durchgeführt. Daher konnte das BEM-Verfahren erst verspätet erfolgen. Dieses Verfahren war erfolgreich. Die stufen­weise Wiedereingliederung führte zur – allerdings verspäteten – vollen Arbeitsfähigkeit. Die Klägerin klagte daher die Differenz zwischen dem Krankengeld und dem regulären Entgelt als Schadensersatz ein und war damit erfolgreich. Grundsätzlich war dieser Weg schon 2011 anerkannt worden[5]

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin einen anderen schadensersatzrechtlichen Weg beschritten. Sie hat auf die Pflichtverletzung des Arbeitgebers mit einer fristlosen Kündi­gung des Arbeitsverhältnisses nach § 628 Abs. 2 BGB geantwortet. In diesem Fall hat der Arbeitgeber eine Abfindung zu zahlen, die bei einem längeren Arbeitsverhältnis – wie hier – schnell eine deutlich fünfstellige Höhe erreicht. Einen solchen Weg werden nur diejenigen gehen, die bereits einen neuen Arbeitsplatz in Aussicht haben bzw. so gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dass sie bald einen anderen Arbeitsplatz finden. In solchen Fällen kommen hohe Abfindungssummen zusammen, die für den un­tätigen Arbeitgeber schmerzlich sind. Ein solches Vorgehen ist allerdings riskant, weil das Arbeitsverhältnis danach mit Sicherheit beendet ist. In den letzten Jahren hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt deutlich geändert. Für bestimmte Beschäftigten­gruppen führt der Fachkräftemangel dazu, dass sie relativ schnell eine Anschluss­beschäftigung finden. § 628 Abs. 2 BGB ist daher eine Norm, die in dieser Konstellation sehr wirksam ist. Es ist daher nicht überraschend, dass die wichtigsten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zu dieser Norm aus der Zeit zwischen 1960 und 1975 stammen, als ein deutlicher Mangel an Arbeitskräften bestand.

Damit ist § 628 Abs. 2 BGB eine Norm, die in bestimmten Konstellationen wirksam ist und zu beachtlichen Konsequenzen führen kann. Es ist allerdings wichtig, hier gut beraten zu sein. Die Norm stellt auch an die anwaltliche Beratung gewisse Anforde­rungen. Der Fall des ArbG Gelsenkirchen zeigt, dass bei guter Beratung hier eine effektive Reaktion auf Untätigkeit von Arbeitgebern möglich ist. Zum andern ist er ein Ansporn weniger riskante Wege des Schadensersatzrechts nach §§ 280, 618 BGB bzw. § 823 BGB auszuloten, die auch in der Fachliteratur bereits anerkannt sind.[6]

Fußnoten

[1] BAG v. 07.09.2021 – 9 AZR 571/20, NJW 2021, S. 1697.

[2] BAG vom 08.08.2002 – 8 AZR 574/01, NZA 2002, S. 1323.

[3] Z. B. Schunder, NJW 2021, S. 1700; Nebe, Reha-Recht.de, Fachbeitrag D3-2023.

[4] LAG Berlin-Brandenburg vom 23.05.2018 – 15 Sa 1700/17.

[5] LAG Hamm 04.07.2011 – 8 Sa726/11, dazu Nebe/Kalina, RP-Reha 1/2014, 31.

[6] Ausführlich Wullenkord, Arbeitsrechtliche Kernfragen des BEM in der betrieblichen Praxis, 2017. S. 212; LPK-SGB IX/Düwell, 6. Aufl. 2022 § 167 Rn. 136 f; Deinert, NZA 2010, S. 969, 974 f.


Stichwörter:

BEM, Eingliederungsmanagement, Behinderungsgerechter Arbeitsplatz, Angemessene Vorkehrungen, Behinderung, Schadensersatz


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