07.09.2021 B: Arbeitsrecht Eberhardt: Beitrag B7-2021

Kündigung einer Auszubildenden während der Probezeit – Anmerkung zu ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 12. März 2019 – 5 Ca 1899/18

Der Autor bespricht eine Anmerkung zu einem Urteil des ArbG Gelsenkirchen vom 12. März 2019, in welchem die Kündigung einer schwerbehinderten Auszubildenden wegen einer unmittelbaren Benachteiligung i. S. d. Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) für unwirksam erklärt wird. Das Urteil enthält wichtige Hinweise zur Anwendbarkeit des AGG neben dem allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzrecht und setzt sich bemerkenswert ausführlich mit den Begrifflichkeiten der mittelbaren sowie der unmittelbaren Benachteiligung sowie Fragen der Beweislast auseinander - auch wichtige unionsrechtliche Bezüge sind enthalten.

(Zitiervorschlag: Eberhardt: Kündigung einer Auszubildenden während der Probezeit – Anmerkung zu ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 12. März 2019 – 5 Ca 1899/18; Beitrag B7-2021 unter www.reha-recht.de; 07.09.2021)

I. Thesen des Autors

  1. Der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Beschäftigte nach §§ 168 ff. SGB IX gilt ebenso für Auszubildende.
  2. Kündigungen, die innerhalb der sechs Monate vor Anwendbarkeit von allgemeinem und besonderem Kündigungsschutzrecht erfolgen, sind unmittelbar am Benachteiligungsverbot des AGG zu überprüfen.
  3. Innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses vermittelt ebenso die Unwirksamkeitsfolge § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX schwerbehinderten Beschäftigten einen Kündigungsschutz, sofern die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt wurde.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Das Vorliegen einer unmittelbaren Benachteiligung durch die Kündigung einer schwerbehinderten Auszubildenden ist zu vermuten, wenn die Arbeitgeberin nicht darlegen kann, dass ausschließlich andere Gründe als die Behinderung zur Erklärung der Kündigung geführt haben.
  2. Die Bestimmungen des AGG sind auf eine Kündigung des Berufsausbildungsverhältnisses in der Probezeit anzuwenden.
  3. Im Rahmen eines Bündels möglicher Kündigungsmotive stellt schon die nicht behinderungsgerechte Gestaltung des Arbeitsumfelds u. U. ein hinreichendes Indiz für behinderungsbedingte Diskriminierung dar, sodass dem Arbeitgeber die Beweislast nach § 22 AGG zuzuweisen ist.
  4. Aus Art. 21. Abs. 1 GRCh ergibt sich ein subjektives unmittelbares Recht auf diskriminierungsfreie Behandlung.

III. Der Sachverhalt

Die 1995 geborene schwerbehinderte Klägerin (GdB 100, festgestellte Merkzeichen G, aG, H, B) war bei der Beklagten seit dem 3. August 2018 als Auszubildende beschäftigt. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Beklagte, eine kommunale Arbeitgeberin, setzte die Klägerin in ihrer Stadtverwaltung ein, die mehr als zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt. Ein Personalrat, eine Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie eine Schwerbehindertenvertretung sind vorhanden. Der erste praktische Ausbildungsabschnitt sollte von Beginn der Ausbildung Anfang August bis Ende November 2018 andauern; hieran hätte sich eine Phase mit Blockunterricht in der Schule angeschlossen.  

Die Beklagte, die Klägerin und die Schwerbehindertenvertretung (SBV) hatten bereits am 16. Mai 2018 ein grundlegendes Gespräch über die Ausbildungsbedingungen geführt, in welchem u. a. die Einsatzorte während der praktischen Ausbildung und die Arbeitsplatzausstattung erörtert wurden. Eine im März durchgeführte Einstellungs­untersuchung hatte der Auszubildenden zuvor eine uneingeschränkte Berufstauglichkeit bescheinigt. Nach einem längeren Klinikaufenthalt unmittelbar vor Beginn ihrer Ausbildung im Juli und August 2018 stellte sich die Klägerin aufgrund eines erneuten Untersuchungsauftrages bei der Betriebsärztin vor. Die abschließende Beurteilung der Betriebsärztin vom 10. September 2018 kam zu dem Ergebnis, dass für die Erledigung der Arbeitsaufgaben ein um 50 % erhöhter Arbeitszeitanteil anzusetzen sei. Eine Durchführung der Ausbildung ohne die Begleitung durch eine Arbeitsassistenz sei nicht möglich. Die Betriebsärztin begründet dieses Ergebnis u. a. damit, dass die Klägerin die schweren Türen auf dem Flur des Rathauses nicht alleine öffnen könne und insbesondere Toilettengänge sehr beschwerlich seien, weil das WC eine Etage über ihrem Arbeitsplatz gelegen sei (ein Aufzug existiert wohlgemerkt). Für den Wechsel zwischen Rollstuhl und Rollator sei eine weitere Person erforderlich, sodass die Klägerin an dem zugewiesenen Arbeitsplatz nicht allein beschäftigt werden könne. Die empfohlene Begleitung durch eine Arbeitsassistenz verweigerte die Klägerin zunächst, stimmte dieser dann aber noch vor Ausspruch der Kündigung zu.

Im September 2018 – wenige Wochen nach Beginn des Arbeitsverhältnisses – wurde die Klägerin an ihrem Arbeitsplatz schlafend angetroffen, was diese in einem darauffolgenden Personalgespräch auch bestätigte.

In einem Schreiben an den Personalrat vom 17. Oktober 2018, das diesem noch am selben Tag zuging, führte die Beklagte aus, dass die Gesundheitseinschränkungen der Klägerin gravierender seien, als dies aus der Einstellungsuntersuchung hervorgegangen sei. Aus der Einschätzung der Fähigkeiten der Klägerin ergebe sich eine negative Prognose dahingehend, dass die Ausbildung höchstwahrscheinlich nicht abgeschlossen werden könne; das Einschlafen am Arbeitsplatz sei insofern symptomatisch als Belastungsreaktion einzuordnen. Der Personalrat begegnete der Kündigung am 23. Oktober 2018 mit Bedenken und begründete diese auch damit, dass die Klägerin der Inanspruchnahme einer Arbeitsassistenz letztlich zugestimmt habe.

Mit gleichem Schreiben wurden SBV und Gleichstellungsbeauftrage informiert – diesen ging es allerdings jeweils erst am 24. Oktober 2018 zu. Erstere nahm zu der Kündigung Stellung und verwies darauf, dass die von der Beklagten dargelegten Probleme arbeitsplatz- bzw. arbeitsumfeldbezogen seien und nicht in die Verantwortung der Klägerin fielen. Im Übrigen seien der Arbeitgeberin zum Zeitpunkt der Einstellung mindestens die Merkzeichen bekannt gewesen.

Zum 31. Oktober 2018 erklärte die Beklagte die Kündigung – innerhalb der tarifvertraglich festgelegten dreimonatigen Probezeit für Berufsausbildungsverhältnisse. Eine Kündigungsfrist war in der Probezeit nach der einschlägigen Regelung des Tarifvertrags nicht einzuhalten. Gegen diese Kündigung wandte sich die Klägerin und beantragte die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung sowie die Verurteilung der Beklagten zur Weiterbeschäftigung über 31. Oktober 2018 hinaus.

In der Klagebegründung führt die Klägerin aus, dass Personalrat und SBV nicht inhalts- und zeitgleich beteiligt worden seien. Zum Zeitpunkt der Stellungnahme durch die SBV (24.10.2018) sei das personalvertretungsrechtliche Beteiligungsverfahren bereits beendet gewesen. Zudem ginge aus der Stellungnahme des Personalrates hervor, dass dieser besser informiert gewesen sei als die SBV.

Die Beklagte habe nicht hinreichend darlegen können, dass sie sämtliche erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Ausbildung zu ermöglichen – sie habe keinen behinderungsgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt, insbesondere keine technischen Hilfen angeschafft. Das Einschlafen am Arbeitsplatz erklärte die Klägerin mit ihrer Spastizität. Der seitens der Arbeitgeberin angemahnte allgemeine Überforderungszustand stehe im Zusammenhang mit der gesamten Gebäudesituation und dem beschwerlichen Weg zu den Toiletten – dass die Fortbewegung im Gebäude für sie anstrengender sei als für eine Auszubildende ohne körperliche Einschränkungen sei für die Arbeitgeberin von Anfang an offenkundig gewesen.

Die Beklagte führte vor dem Arbeitsgericht aus, sie habe aus ihrer Sicht alles für die Einrichtung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes getan – das Rathausgebäude sei eingedenk des vorhandenen Aufzugs barrierefrei. Die Feststellungen der Betriebsärztin vom 10. September 2018 bezüglich der Einschränkungen seien der Beklagten zuvor nicht bekannt gewesen – insofern habe die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht verletzt, weil sie diese nicht mitgeteilt habe. Man habe auch wegen der steigenden Anforderungen im Verlauf der Ausbildung von einer negativen Prognose hinsichtlich ihres Abschlusses ausgehen dürfen. Zur Durchführung eines Präventionsverfahrens gem. § 167 Abs. 1 SGB IX sei sie vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht verpflichtet gewesen. Die Beteiligung der Interessenvertretungen sei ordnungsgemäß erfolgt.

IV. Die Entscheidung

Die Klage hatte Erfolg. Das Gericht stellte die Nichtigkeit der Kündigungserklärung nach §§ 7 Abs. 1, 1, 3 Abs. 1 AGG i. V. m. § 134 BGB fest, außerdem den Fortbestand des Ausbildungsverhältnisses über den 31. Oktober 2018 hinaus. Die von der Klägerin geltend gemachte Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung sei zu vermuten; die beklagte Arbeitgeberin habe im Gegenteil nicht hinreichend darlegen können, dass die Kündigung im Einklang stünde mit den besonderen Bestimmungen zum Schutz vor behinderungsbezogenen Diskriminierungen.

Das Gericht führt insoweit aus, dass eine Kündigung des Berufsausbildungsverhältnisses in der Probezeit ohne die Einhaltung einer Frist gem. § 22 Abs. 1 BBiG grundsätzlich zulässig sei. Ausnahmsweise könne auch nach den allgemeinen Regeln der §§ 134, 138, 242 BGB eine Unwirksamkeit der Kündigung in Betracht kommen.

Eine Kündigung könne gem. § 134 i. V. m. § 7 Abs. 1 AGG unwirksam sein, wenn sie eine Diskriminierung aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe darstelle. Das AGG finde Anwendung in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Kündigungsschutz (noch) nicht greift. § 2 Abs. 4 AGG, nach welchem für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten, sei insofern einschränkend auszulegen. Diese Regelung erfasse nur solche Kündigungen, auf die allgemeine und besondere Kündigungsschutzbestimmungen überhaupt anwendbar seien.[1] Im vorliegenden Fall sei das Kündigungsschutzgesetz allerdings schon wegen der sechsmonatigen Wartefrist aus § 1 Abs. 1 KSchG nicht anwendbar. Für die hier vorliegende Kündigung in der Probezeit des Ausbildungsverhältnisse könne insofern nichts anderes gelten als für die Kündigung eines regulären Arbeitsverhältnisses vor Ablauf der Wartefrist.

Nach § 7 i. V. m. § 1 AGG dürften Beschäftigte u. a. wegen einer Behinderung nicht benachteiligt werden – dies könne gem. § 3 AGG in Gestalt einer unmittelbaren oder einer mittelbaren Benachteiligung erfolgen. Eine unmittelbare Benachteiligung aufgrund einer Behinderung, wie sie vorliegend in Betracht kam, sei anzunehmen, wenn ein schwerbehinderter Mensch eine weniger günstigere Behandlung erfahren habe, als sie ein nicht schwerbehinderter Mensch erfährt, erfahren hat oder erfahren hätte (§ 3 Abs. 1 S. 1 AGG). Eine Form der unmittelbaren Benachteiligung sei auch die verdeckte unmittelbare Benachteiligung, bei welcher zwar an ein anderes Merkmal angeknüpft werde, dieses aber in untrennbarem Zusammenhang mit der Behinderung oder einem anderen Kriterium aus § 1 AGG stehe.

Eine mittelbare Benachteiligung liege dagegen gem. § 3 Abs. 2 vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Merkmals benachteiligen können – es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren seien durch ein rechtmäßiges Ziel sachliche gerechtfertigt und die Mittel zur Zielerreichung angemessen und erforderlich.

Hinsichtlich der Beweislast verweist das Gericht auf § 22 AGG: Beweise eine Partei Indizien, die eine Benachteiligung wegen einer Behinderung vermuten lassen,[2] so hat die andere Partei zu beweisen, dass kein Verstoß vorgelegen hat. Die Indizien, so das Gericht, müssten dabei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung vorliege.[3] Dass einer der Gründe in § 1 AGG dabei lediglich Teil eines Motivbündels und damit mitursächlich war, genüge für die Verschiebung der Beweislast.[4]

Im vorliegenden Falle sei eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung der Klägerin durch die Kündigungserklärung in der Probezeit zu vermuten. Die Umstände, mit denen die Arbeitgeberin ihre Entscheidung begründete, stünden in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Schwerbehinderung der Klägerin, zuvorderst das Einschlafen am Arbeitsplatz als Überlastungsreaktion. Auch die Gestaltung des Arbeitsumfelds legten eine Benachteiligung der Klägerin nahe – insbesondere die Öffnung der Türen und der Toilettengang in eine andere Etage bedeuteten für sie eine deutlich höhere Belastung als für eine nicht behinderte Auszubildende. Dieses nicht leidensgerechte Arbeitsumfeld treffe auf eine behinderungsbedingte reduzierte körperliche Belastbarkeit der Klägerin. Die Überlastung als Kündigungsgrund sei damit nicht von der Schwerbehinderung zu trennen und diese mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumindest zum Teil Grund für die Kündigung. Hieran könne auch der Umstand nichts ändern, dass nach der neuerlichen arbeitsmedizinischen Untersuchung aus Sicht der Arbeitgeberin möglicherweise bis dato unbekannte Krankheitsaspekte hinzugetreten sind. Die Beklagte habe nicht darlegen können, dass ausschließlich andere Gründe als die Behinderung zum Ausspruch der Kündigung geführt hätten.

Das Gericht habe bei seiner Würdigung auch europarechtliche Aspekte zu berücksichtigen. Insbesondere sei im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die eine Diskriminierung vermuten ließen, darauf Acht zu geben, dass das Ziel der Gleichbehandlungs­rahmenrichtlinie 2000/78/EG nicht beeinträchtigt werde. Im Übrigen ergebe sich aus dem primärrechtlichen Verbot der Diskriminierung gem. Art. 21 Abs. 1 GRCh aufgrund einer Behinderung ein subjektives unmittelbares Recht der Klägerin – das Gericht sei verpflichtet den hieraus resultierenden Rechtsschutz auch zu gewährleisten.

Wegen einer unmittelbaren behinderungsbedingten Benachteiligung sei die Kündigungserklärung nach §§ 7 Abs. 1, 1, 3 Abs. 1 AGG i. V. m. § 134 BGB unwirksam.

Das Gericht urteilte darüber hinaus, dass das Ausbildungsverhältnis auch fortbestehe. Hier sei die Rechtsprechung des BAG, wonach für die Dauer des Rechtsstreits eine Beschäftigungspflicht der Arbeitgeberin bestehe, wenn in erster Instanz das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses festgestellt wurde, auf das Berufsausbildungsverhältnis zu übertragen.[5]

V. Würdigung/Kritik

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen ist in mehrfacher Hinsicht beachtenswert: Zum einen wird hier in beispielhafter Weise eine arbeitgeberinnenseitige Kündigung am Benachteiligungsverbot des AGG gemessen, wobei die begrifflichen Unterschiede zwischen einer mittelbaren und einer unmittelbaren Benachteiligung erörtert werden und die wichtige Beweis- und Darlegungsregel des § 22 AGG Berücksichtigung findet. Zum anderen wird damit auch fallübergreifend deutlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Beschäftigungsverhältnissen, die nicht unter das KSchG fallen, nicht schutzlos gestellt sind.

Der allgemeine Kündigungsschutz ergibt sich im deutschen Arbeitsrecht aus dem KSchG. Dessen Anwendungsbereich bestimmt sich nach §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG: Schutz erfahren Beschäftigte gegen ordentliche arbeitgeberseitige Kündigungen von Arbeitsverhältnissen, die ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden haben; in dem Betrieb müssen dabei in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt sein. Es findet keine Anwendung auf Berufsausbildungsverhältnisse.[6] Hier waren stattdessen die Regelungen des Tarifvertrags für die Auszubildenden des öffentlichen Dienstes nach BBiG aus dem besonderen Teil (TVAöD – BT BBiG) einschlägig, wonach das Ausbildungsverhältnis während der dreimonatigen Probezeit beidseitig ohne Einhaltung einer Frist gekündigt werden kann (§ 3 Abs. 1, 2 TVAöD – BT BBiG). Diese Regeln wiederholen die gesetzlichen Anforderungen in § 22 Abs. 1 BBiG.

Die Klägerin hätte sich im vorliegenden Fall also zweifellos weder auf den Schutz des KSchG noch des § 22 Abs. 2 BBiG berufen können. Mit Blick auf den § 2 Abs. 4 AGG stellte sich die Frage, ob dieser auch in solchen Konstellationen eine Anwendung des AGG versperrt, die nicht dem KSchG unterfallen.

Hier enthält die Entscheidung wichtige Hinweise zum Zusammenspiel von AGG und Kündigungsschutzrecht. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 4 AGG gelten für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen des allgemeinen sowie des besonderen Kündigungsschutzes. Dieser Satz ist nach Rechtsprechung des BAG allerdings nicht uneingeschränkt wortwörtlich zu verstehen, denn das hieße, dass eine Kündigung nicht wie im vorliegenden Falle aufgrund einer Benachteiligung i. S. d. AGG für unwirksam erklärt werden kann. Ein solches Verständnis aber wäre mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, denn die RL 2000/78/EG soll auch gegen diskriminierende Kündigungen schützen (EuGH 11.9.2019, C-397/18, NZA 2019, 1634). Allgemein wären Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG gekündigt wird, schutzlos gestellt, weil eine strenge Auslegung des § 2 Abs. 4 die Anwendung des AGG verhinderte. Das BAG hat daher klargestellt, dass § 2 Abs. 4 AGG Kündigungen während der Wartezeit sowie solche in Kleinbetrieben nicht erfasse[7] – solche also, die nicht in den Anwendungsbereich des KSchG fallen. Damit ist in Konstellationen wie der hier vorliegenden der Weg frei für eine unmittelbare Anwendung des AGG. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich dann – wie das Gericht zutreffend ausführt – aus § 134 BGB.[8]

Für die schwerbehinderte Arbeitnehmerin war die Anwendung des AGG günstig, weil die Beweislastregel des § 22 AGG der Arbeitgeberin bei entsprechender Indizienlage auferlegte, zu beweisen, dass eine Benachteiligung gerade nicht auf einem der in § 1 AGG aufgeführten Gründe fußte.[9]

Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz, der im Falle der Klägerin nicht anwendbar war, war angesichts der Schwerbehinderung der Klägerin auch an den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. SGB IX zu denken – es hätte bei Anwendbarkeit der Zustimmung durch das Integrationsamt bedurft. Schwerbehinderte Auszubildende sind insoweit schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gleichgestellt und genießen den besonderen Kündigungsschutz.[10] Das Zustimmungserfordernis gilt allerdings ebenfalls nicht solche Arbeitsverhältnisse, die weniger als sechs Monate bestehen (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Die Kündigung war der Klägerin am letzten Tag der Probezeit zugegangen; danach hätte ihr der Schutz nach § 22 Abs. 2 BBiG zugestanden. Es ist naheliegend, dass die Beklagte aus diesem Grund den Einsatz einer Arbeitsassistenz nicht abgewartet hatte.

Zu den Verpflichtungen der Arbeitgeberin hinsichtlich der behinderungsgerechten Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsumfeld musste das Gericht nicht Stellung beziehen, zumal sich die Unwirksamkeit der Kündigung schon aus der unmittelbaren behinderungsbedingten Benachteiligung ergab. Zur Begründung der Benachteiligung bezog es sich allerdings u. a. auf Versäumnisse in der barrierefreien Gestaltung des Arbeitsumfelds. Hier ist daran zu erinnern, dass die schwerbehinderte Klägerin gem. § 164 Abs. 4 SGB IX einen Anspruch hatte auf behinderungsgerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsumfeld (Nr. 4), ferner auf eine Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit erforderlichen technischen Arbeitshilfen (Nr. 5). Dies sind angemessene Vorkehrungen nach Art. 5 der RL 2000/78/EG; werden diese nicht beachtet, dann verstößt nach der Rechtsprechung des EuGH eine Kündigung gegen das Benachteiligungsverbot.[11]

Auch wenn das Gericht zur klägerinnenseitig vorgebrachten unzulänglichen Beteiligung der Interessenvertretungen keine Stellung beziehen musste, hätte die Klägerin wohlgemerkt möglicherweise auch über § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX Schutz erfahren können. Hiernach ist die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen unwirksam, wenn ihr keine ordnungsgemäße Beteiligung der SBV vorausging. Die Beteiligungspflichten gelten auch innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses – also vor Anwendbarkeit des KSchG – das hat zuletzt das ArbG Braunschweig im Falle einer nicht hinreichenden Beteiligung des Betriebsrates bekräftigt.[12]

VI. Fazit

Das Arbeitsgericht Gelsenkirchen zeigt auf, auf welchem Wege Beschäftigte auch schon vor dem Greifen des Kündigungsschutzes nach KSchG sowie – bei Vorliegen einer Schwerbehinderung – des besonderen Kündigungsschutzes nach §§ 168 ff. SGB IX vor diskriminierendem Verhalten geschützt sein können. Im Rahmen dessen zeigt es gewinnbringend die entscheidenden Begrifflichkeiten der Benachteiligung auf und erörtert die entsprechenden Beweis- und Darlegungsregeln.

Bemerkenswert ist insbesondere die Bedeutung, die das Gericht den entsprechenden europarechtlichen Vorschriften beimisst. Zum einen kommt es mit Blick auf die Vorgaben der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG zu einer richtlinienkonformen Auslegung der Beweisregeln, zum anderen mit Blick auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 Abs. 1 GRCh.

Beitrag von Dipl.-jur. Constantin Eberhardt, LL.M., Zentrum für Sozialforschung Halle e. V.

Fußnoten

[1] BAG, Urteil v. 26.03.2015 – AZR 237/14, NZA 2015, S. 734 ff.

[2] Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Klägerin die volle Darlegungslast trifft bezüglich des vom Diskriminierungsverbot umfassten Sachverhalts, insbesondere bezüglich der Benachteiligung gegenüber anderen Personen, Wendtland, in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 22 AGG Rn. 2, 58. Edition Stand: 01.05.2021.

[3] BAG, Urteil v. 23.11.2017 – Az. 8 AZR 372/16; Urteil v. 26.06.2014 – Az. 8 AZR 547/13.

[4] BAG, Urteil v. 23.11.2017 – Az. 8 AZR 372/16; Urteil v. 23.07.2015 – Az. 6 AZR 457/14, Urteil v. 26.06.2014 – Az. 8 AZR 547/13.

[5] mit Verweis auf LAG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 20.11.2018 – Az.8 Sa 24/18.

[6] BAG, Urteil v. 16.07.2013 – 9 AZR 784/11 Rn. 37.

[7] BAG, Urteil v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12 Rn. 21 f.; zustimmend etwa: Broy, in: jurisPK BGB, § 2 AGG Rn. 63 f., 9. Auflage (Stand: 01.02.2020); Oetker, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt, ErfK ArbR, § 1 KSchG Rn. 32 a, 21. Auflage 2021.

[8] Düwell, jurisPR-ArbR 47/2006, Anm. 6.

[9] hierzu näher: Wendtland, in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 22 GG Rn. 2 ff., 58. Edition Stand. 01.05.2021.

[10] Vossen, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 168 SGB IX Rn. 7, 6. Auflage 2021.

[11] EuGH, Urteil v. 11.09.2019 – C-397/18, NZA 2019, S. 1634 ff.; EuGH, Urteil v. 15.07.2021, C-795/19 Rn. 48 ff.

[12] ArbG Braunschweig, Urteil v. 16.03.2021 – 2 Ca 383/20 Ö Rn. 22


Stichwörter:

Kündigung, Besonderer Kündigungsschutz, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Kündigungsschutz, Benachteiligung, Benachteiligungsverbot, Benachteiligung wegen Behinderung, Diskriminierung, § 22 AGG


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