21.12.2020 B: Arbeitsrecht Rabe-Rosendahl: Beitrag B9-2020

Anspruch des stellvertretenden Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung auf Teilnahme an einer BEM-Fortbildung für Fortgeschrittene – Anmerkung zu ArbG Kaiserslautern, Beschluss v. 06.10.2020 – 3 BV 14/20

Die Autorin Cathleen Rabe-Rosendahl bespricht in dem vorliegenden Beitrag den Beschluss des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 6. Oktober 2020, Az. 3 BV 14/20. Das Arbeitsgericht erkannte in dieser Entscheidung den Anspruch der Schwerbehindertenvertretung – hier in Person des ersten Stellvertreters der Vertrauensperson – auf die Teilnahme und Kostenübernahme an einer Fortgeschrittenenveranstaltung (Teil III) zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (§ 167 Abs. 2 SGB IX) an.

Die Autorin stimmt der Entscheidung zu und erläutert anhand des Beschlusses die nicht zu unterschätzende Bedeutung von Fortbildungen zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement für die Schwerbehindertenvertretung sowie die wichtige Stellung der stellvertretenden Mitglieder und das Recht auf Fortbildung für diese.

(Zitiervorschlag: Rabe-Rosendahl: Anspruch des stellvertretenden Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung auf Teilnahme an einer BEM-Fortbildung für Fortgeschrittene – Anmerkung zu ArbG Kaiserslautern, Beschluss v. 06.10.2020 – 3 BV 14/20; Beitrag B9-2020 unter www.reha-recht.de; 21.12.2020)

I. Thesen der Autorin

  1. Die Schwerbehindertenvertretung (SBV) darf im und vor dem Verfahren des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM-Verfahren) eigenständig, d. h. unabhängig vom Arbeitgeber, beratend und begleitend tätig werden.
  2. Die hierfür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sind insbesondere bei größeren Betrieben auch beim ersten stellvertretenden Mitglied der SBV notwendig. Es besteht daher gegebenenfalls ein entsprechender Schulungsanspruch.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Die SBV hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Schulung, deren Inhalte für ihre Arbeit erforderlich sind. Ihr steht ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Schulung zu.
  2. BEM-Fortgeschrittenenschulungen mit den Inhalten „Gesprächsführung, verantwortungsvolle Beratung, gute BEM-Öffentlichkeitsarbeit“ gehören bei einem betrieblichen Bedarf zu den erforderlichen Schulungen für die SBV.
  3. Die Schulung kann auch vom stellvertretenden Mitglied der SBV beansprucht und besucht werden.

III. Der Sachverhalt

Antragstellerin im Beschlussverfahren vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Kaiserslautern war die SBV eines Klinikums mit über 4.000 Beschäftigten, wobei hiervon ca. 330 schwerbehindert sind. Jährlich werden im Klinikum ca. 100 BEM-Verfahren durchgeführt. Im gegenständlichen Verfahren stritten die Schwerbehindertenvertretung als Antragstellerin und das Klinikum als Antragsgegnerin um die Teilnahme der SBV in Person des ersten Stellvertreters an einer Schulungsmaßnahme zum BEM Teil III sowie die Kostenübernahme. Das Seminar beinhaltete die folgenden Themenschwerpunkte:

  • Gute BEM-Öffentlichkeitsarbeit
  • Gesprächssituation im BEM
  • Wie gute BEM-Gespräche gelingen
  • Verantwortungsvolle Beratung
  • Gezieltes Praxistraining

Die Seminare BEM I und II wurden zuvor bereits von der SBV besucht. An den BEM-Gesprächen nahm bisher der erste Stellvertreter teil, daher sollte er auch an der Schulungsmaßnahme teilnehmen. Im Betrieb existieren eine BEM-Betriebsvereinbarung sowie ein Flyer der Antragsgegnerin, welcher die Beschäftigten über das BEM-Verfahren informiert. Die Antragsgegnerin lehnte die Teilnahme als nicht erforderlich ab und versagte eine Kostenübernahme. Die SBV beantragte mithilfe des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes die Feststellung der Erforderlichkeit der Seminarteilnahme sowie die Kostenübernahme beim zuständigen ArbG. Die Antragsgegnerin argumentierte vor Gericht, dass die Gesprächsführung den BEM-Koordinatorinnen und -koordinatoren auf Arbeitgeberseite obliege und ein solches Seminar für die SBV daher nicht notwendig sei. Auch sei das BEM-Verfahren im Betrieb hinreichend bekannt und eine Beratung im BEM-Verfahren nicht Aufgabe der SBV.

IV. Die Entscheidung

Das ArbG Kaiserlautern bestätigte die Erforderlichkeit des Seminars sowie die Pflicht zur Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin und entschied somit zugunsten der Antragstellerin. Für die SBV, hier in Person der stellvertretenden Vertrauensperson, bestehe ein Anspruch aus § 179 Abs. 4 S. 3 und 8 SGB IX. Danach seien im Wesentlichen die Grundsätze von Schulungen für Personalrat und Betriebsrat anwendbar. Nach ständiger Gerichtspraxis sind Grundlagenschulungen regelmäßig erforderlich; für Aufbauschulungen wird verlangt, dass diese nach dem jeweiligen betrieblichen Bedarf erforderlich sind. Der Schwerbehinderungsvertretung werde dabei, so das Gericht, ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, welche Schulungen sie für erforderlich halten dürfe. Hier war angesichts der hohen Zahl von BEM-Verfahren im Klinikum eine Aufbauschulung zu BEM-Verfahren (§ 167 Abs. 2 SGB IX) grundsätzlich erforderlich.

Die Antragstellerin meinte jedoch, dass Gesprächsführung im BEM nur den von der Antragsgegnerin benannten Koordinatorinnen und -koordinatoren obliege. Das war aus der Sicht des Gerichts verfehlt. Das Seminar sollte zur Beratung im und vor dem BEM-Verfahren qualifizieren. Eine solche Beratung gehöre zu den Aufgaben der SBV. Insbesondere sei es wichtig, dass die SBV „arbeitgeberfern“ über den Sinn und die Zwecke eines BEM-Verfahrens kommunizieren und beraten könne. Für die wichtigen Ziele des BEM-Verfahrens, Krankheiten zu reduzieren und Kündigungen zu vermeiden, müssten den Betroffenen in den vorbereitenden Besprechungen auch Menschen zur Seite gestellt werden, die nicht gleichzeitig über die Kündigung entscheiden, auch um den Betroffenen die Angst vor der Beteiligung am BEM-Verfahren zu nehmen. Die BEM-Fortgeschrittenenschulung mit den Inhalten u.a. „Gesprächsführung, verantwortungsvolle Beratung, gute BEM-Öffentlichkeitsarbeit“ gehöre somit zu den erforderlichen Schulungen für die SBV.

Dass bereits eine BEM-Betriebsvereinbarung im Betrieb existiere und die Arbeitgeberin selbst mit Hilfe eines Flyers auf das BEM aufmerksam mache, spreche nicht gegen eine Schulung der SBV in BEM-Öffentlichkeitsarbeit.

V. Würdigung/Kritik

Das vor dem ArbG Kaiserslautern geführte Verfahren war eine organschaftliche Streitigkeit, denn es betraf ein Recht der SBV aus § 179 Abs. 4 S. 3 und 8 SGB IX. Solche Beschlussverfahren finden auch bei Dienststellen des öffentlichen Dienstes vor dem Arbeitsgericht statt. Ratsam ist stets eine Rechtsvertretung der SBV, z. B. wie im dargestellten Fall durch die Gewerkschaft.

Auf zwei zentrale Aspekte des Beschlusses soll im Folgenden eingegangen werden: Die nicht zu unterschätzende Bedeutung von Fortbildungen zum BEM für die SBV sowie die wichtige Stellung der stellvertretenden Mitglieder der SBV und ihre Rechte.

1. BEM-Fortbildungen für die notwendige Kompetenz der SBV im BEM-Verfahren

Die SBV hat gemäß § 179 Abs. 4 S. 1 und 3 SGB IX einen Anspruch auf Teilnahme an und Kostenübernahme von Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit der SBV erforderlich sind. Zur verantwortungsvollen Begleitung des komplexen BEM-Verfahrens bedarf es regelmäßig einer Teilnahme an Einführungs- und Aufbauschulungen, die die verschiedenen Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten insbesondere der Interessenvertretungen thematisiert.[1] Denn auch wenn bereits – wie im vom ArbG Kaiserslautern entschiedenen Fall – eine BEM-Betriebsvereinbarung besteht, kann und darf die SBV eigenständig im und vor dem BEM-Verfahren beratend tätig werden. Das Gesetz sieht für die SBV wichtige Rechte, wie z. B. das Initiativrecht zum BEM-Verfahren, vor (§ 167 Abs. 2 S. 6 SGB IX).[2] Insbesondere für (schwer)behinderte Beschäftigte, die dem Arbeitgeber die Behinderung aus Angst vor Benachteiligung nicht offenbaren, ist die SBV eine wichtige Ansprechpartnerin. Oftmals kann die SBV hier durch sensible und umsichtige Aufklärungsarbeit wichtige Beratungshilfe leisten.

Um diese Arbeit leisten zu können, ist die Teilnahme an BEM-Seminaren erforderlich, die auf BEM-Gesprächs- und Beratungssituationen eingehen und diese Inhalte mit einem gezielten Praxistraining verbinden. Ebenso sind in diesem Zusammenhang Kenntnisse des Datenschutzrechts für die SBV unabdingbar, denn es geht hier auch darum, sensible Daten zu schützen und Vertrauen aufzubauen. Auch ist eine eigene Öffentlichkeitsarbeit der SBV zum BEM-Verfahren z. B. in Form von Aushängen, Flyern, E-Mails oder Veranstaltungen legitim, um die Rolle der SBV im BEM-Verfahren bekannt zu machen. Wie das ArbG Kaiserslautern betont, ist es wichtig, dass die Beschäftigten auch auf der Ebene der SBV über das BEM-Verfahren und seine Möglichkeiten informiert werden und somit gerade nicht von einer Akteurin, die später ggf. über eine krankheitsbedingte Kündigung entscheidet.

Diese Aspekte finden in qualifizierten BEM-Fortbildungsangeboten Berücksichtigung. Durch die Vielzahl von Aspekten der SBV-Arbeit im Rahmen des BEM wird bereits deutlich, dass eine Einführungsschulung regelmäßig erforderlich ist. Damit besteht für jede neu ins Amt gewählte Vertrauensperson stets ein Anspruch auf Kostenübernahme und Freistellung für eine BEM-Grundlagenfortbildung. Zusätzlich darf die SBV, ebenso wie der Betriebsrat, auch Schulungen besuchen, die weiterführende Inhalte behandeln,[3] wenn diese nach dem betrieblichen Bedarf erforderlich sind. Hinsichtlich der Erforderlichkeit steht der SBV ein Beurteilungsspielraum zu. Parallel zur Rechtsprechung zum Erforderlichkeitskriterium bei der Schulungsteilnahme von Betriebsräten[4] kann von der SBV verlangt werden, im Streitfall darzulegen, weshalb die SBV die in der gewünschten Schulung vermittelten Kenntnisse benötigt, damit sie ihre gegenwärtigen oder in naher Zukunft anstehenden gesetzlichen Aufgaben sach- und fachgerecht wahrnehmen kann.[5] In der Begründung sollte dabei auch auf den konkreten betrieblichen Bedarf eingegangen werden. Dies war hier erfolgreich dargelegt worden, denn im BEM-Verfahren ist Beratung und Begleitung der Beschäftigten durch die SBV erforderlich.

2. Fortbildungsanspruch des stellvertretenden Mitglieds der SBV

Im geschilderten Fall wollte der erste Stellvertreter der Vertrauensperson an der BEM-Schulung für Fortgeschrittene teilnehmen. Dies lag in dem Umstand begründet, dass die Vertrauensperson aufgrund ihrer Hörbeeinträchtigung nicht selbst an BEM-Gesprächen teilnahm und für diese Aufgabe ihren Stellvertreter herangezogen hatte. Hier zeigt sich die Bedeutung der stellvertretenden SBV-Mitglieder und wie wichtig auch deren Fortbildung ist. Die Stellung der stellvertretenden Mitglieder hat mit der Reform des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) zu Recht eine bedeutende Aufwertung erfahren.[6] Das erste stellvertretende Mitglied hat dasselbe Recht auf eine Freistellung und Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen wie die Vertrauensperson, denn es kann jederzeit Aufgaben der SBV im Wege der Stellvertretung oder Heranziehung übernehmen müssen.[7] Hierfür ist es notwendig, dass es die erforderlichen Kenntnisse für die Arbeit der SBV besitzt.

In Konstellationen wie im vom ArbG Kaiserlautern entschiedenen Fall, d. h. in einem Betrieb mit über 100 schwerbehinderten Beschäftigten, kann die Vertrauensperson zur Erfüllung der SBV-Aufgaben (hierzu gehört der gesamte Rechte- und Pflichtenkatalog der §§ 178 ff. SGB IX) das mit der höchsten Stimmzahl gewählte stellvertretende Mitglied heranziehen (§ 178 Abs. 1 S. 4 SGB IX).[8] Die dauerhafte Heranziehung für einen bestimmten Aufgabenbereich kommt gerade auch für Fälle wie den vom ArbG Kaiserlautern entschiedenen in Betracht, d. h. wenn die Vertrauensperson aufgrund ihrer Beeinträchtigung diesen Arbeitsbereich nicht übernehmen kann. Die Vertrauensperson sollte jedoch insbesondere in großen Betrieben ihre Stellvertreterinnen bzw. Stellvertreter auch unabhängig von einer solchen Konstellation regelmäßig einbinden, denn mit der demographischen Entwicklung wachsen die Aufgaben und Belastungen der SBV.[9] Auch die Heranziehung eines stellvertretenden Mitglieds für einen bestimmten Aufgabenbereich – z. B. die dauerhafte Beteiligung an BEM-Verfahren wie im obigen Fall – macht die SBV nicht zu einem Kollegialorgan.[10] Letztlich bleibt eine Abstimmung zwischen den Mitgliedern aber essenziell und sie ist in § 178 Abs. 1 S. 6 SGB IX auch explizit vorgesehen.

VI. Fazit

Für das stetig an Bedeutung zunehmende BEM-Verfahren dürfte eine auf die konkrete betriebliche Situation eingehende Begründung der Erforderlichkeit für die SBV auch für die Teilnahme an BEM-Aufbauschulungen (sofern sie für die SBV notwendige Kenntnisse vermittelt) auch die Arbeitsgerichte überzeugen. Dies gilt nicht nur für die Vertrauensperson, sondern gerade in größeren Betrieben auch für das erste stellvertretende Mitglied[11].

Beitrag von Dr. iur. Cathleen Rabe-Rosendahl, LL.M. (Nottingham), Zentrum für Sozialforschung Halle

Fußnoten

[1] Vgl. zur Notwendigkeit solcher Schulungen für den Betriebsrat: LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 16.01.2020 – 26 TaBV 865/19 m. Anm. Kohte, Gute Arbeit 1/2021, S. 36.

[2] Feldes in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl., 2018, § 167 Rn. 53b.

[3] Hierzu ArbG Berlin, Urteil v. 28.08.2019 – 51 BV 6433/19, juris; Eberhardt: Besuch einer Fachmesse als „erforderliche“ Teilnahme an einer Schulungs- oder Fortbildungsveranstaltung i. S. d. § 179 Abs. 4 S. 3 SGB IX– Anmerkung zu ArbG Berlin, Beschluss vom 28.08.2019 – 51 BV 6433/19; Beitrag B7-2020.

[4] Pahlen, in: Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, SGB IX, 14. Aufl. 2020, § 179 Rn. 15; Krämer in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 4. Aufl., 2018, § 179 Rn. 24.

[5] ArbG Berlin, Urteil v. 28.08.2019 – 51 BV 6433/19, juris.

[6] Hierzu ausführlich: Kohte/Liebsch, Gute Arbeit 1/2019, S. 13ff.

[7] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 315.

[8] Zur Unterscheidung zwischen Heranziehung und Vertretung siehe: Düwell in LPK-SGB IX, 5. Aufl., 2019, § 178 Rn. 22; Kohte/Liebsch, Gute Arbeit 2019, 13 (14).

[9] Kohte/Liebsch, Gute Arbeit 1/2019, 13 (14).

[10] Düwell in LPK-SGB IX, 5. Aufl., 2019, § 178 Rn. 22.

[11] Zum Schulungsanspruch der nach § 178 Abs. 1 S. 5 SGB IX herangezogenen stellvertretenen Mitglieder: Düwell in LPK-SGB IX, 5. Aufl., 2019, § 179 Rn. 117.


Stichwörter:

Schwerbehindertenvertretung (SBV), Fortbildung, BEM, Beratung, Schwerbehindertenarbeitsrecht


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