19.12.2022 C: Sozialmedizin und Begutachtung Weber: Beitrag C2-2022

Zur Feststellung eines Einzel-GdB von 50 bei einem Diabetes mellitus – Voraussetzungen für eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung – Besprechung LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 14.02.2020 – 9 SB 54/18A

Der Autor bespricht das Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 14. Februar 2020 - 9 SB 54/18 zur Feststellung eines Einzel-GdB von 50 bei einem Diabetes mellitus. Er stimmt dem Berufungsgericht zu, das, so der Autor, im Rahmen einer umfassenden Abwägung im Einzelfall die konkret vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers und deren Wechselwirkungen hinreichend berücksichtigt. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung geht der Autor ausführlich auf die GdB-Feststellung bei Stoffwechselerkrankungen und insbesondere Diabetis mellitus ein.

(Zitiervorschlag: Weber: Zur Feststellung eines Einzel-GdB von 50 bei einem Diabetes mellitus – Voraussetzungen für eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung – Besprechung LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 14.02.2020 – 9 SB 54/18A; Beitrag C2-2022 unter www.reha-recht.de; 19.12.2022)

I. Thesen des Autors

  1. Die Feststellung eines Einzel-Grades der Behinderung (GdB) von 50 für eine Diabeteserkrankung kommt nur dann in Betracht, wenn durch erhebliche Einschnitte aufgrund der Behinderung, die Lebensführung gravierend beeinträchtigt ist.
  2. Teilhabebeeinträchtigungen, die regelmäßig und grundsätzlich mit einer Diabeteserkrankung einhergehen, können nicht als GdB erhöhende gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung bewertet werden. Hierfür sind vielmehr weiter­gehende individuelle Beeinträchtigungen der betroffenen Person erforderlich.
  3. Durch den Diabetes mitverursachte Folgeerkrankungen in anderen Funktionssystemen des Körpers können solche erheblichen Einschnitte, durch die die Lebensführung gravierend beeinträchtigt wird, darstellen.
  4. Die Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) eröffnet Beurteilungsspielräume, die eine besondere Berücksichtigung der individuellen Teilhabebeeinträchtigungen ermöglichen.

II. Wesentliche Aussagen des Urteils

Nach den in der Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) in Teil B Nr. 15.1 zum Diabetes mellitus festgelegten Grundsätzen sind für die Vergabe eines GdB von 50 neben mindestens vier Insulininjektionen täglich sowie einer entsprechenden Dokumentation der Blutzuckermessungen und angepassten Insulindosen auch eine zusätzliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung mit einem entsprechend erhöhtem Therapieaufwand erforderlich. Die durch die allgemein erforderliche Diabetestherapie verursachten Einschränkungen bei Reisen oder dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen begründen allein noch keine gravierenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung.

Diese Einschränkungen können darüber hinaus im Zusammenwirken mit weiteren durch den Diabetes hervorgerufenen Einschnitten in der Lebensführung im Rahmen einer umfassenden Gesamtbetrachtung die Annahme einer gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung rechtfertigen. Die Berücksichtigung von Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus im Rahmen des Teil B Nr. 15.1 der Anlage zur VersMedV erfordert nicht, dass die Folgeerkrankungen isoliert mit einem GdB zu bewerten sind.

III. Zum Fall

Im Berufungsverfahren stritten die Beteiligten um die Zuerkennung eines GdB von 50 und damit um die Feststellung eines Schwerbehindertenstatus, insbesondere für eine bestehende Diabetes mellitus Erkrankung des Klägers und den damit einhergehenden Teilhabebeeinträchtigungen.

Das zuständige Versorgungsamt hatte bei dem im Jahr 1960 geborenen Kläger mit Feststellungsbescheid vom Juli 2012 einen Gesamt-GdB von 20 festgestellt. Bei dieser Feststellung wurde folgende Funktionsbeeinträchtigung mit einem Einzel-GdB in die Bildung des Gesamt-GdB einbezogen:

  • Diabetes mellitus                                           GdB 20
  • Schulterfunktionsstörung rechts                   GdB 10
  • Funktionsstörung im Knie                             GdB 10

Im Januar 2015 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag bei dem beklagten Versorgungsamt, insbesondere wegen einer erheblichen Verschlechterung seiner Diabeteserkrankung. Auf der Grundlage von unterschiedlichen ärztlichen Befundberichten stellte der Beklagte bei dem Kläger mit Bescheid vom März 2015 einen höheren GdB fest. Es wurde wegen einer Verschlechterung der Diabeteserkrankung ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt, wobei verwaltungsintern ein Einzel-GdB von 30 allein für die Diabeteserkrankung angesetzt wurde. Gegen diesen Neufeststellungsbescheid erhob der Kläger im März 2015 Widerspruch. Es wurden durch den Beklagten im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ergänzende aktuelle Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt, und im Ergebnis der Auswertung der neuen Befundberichte wurde der Widerspruch im April 2016 als unbegründet zurückgewiesen.

Im anschließenden Klageverfahren hatte der Kläger im Wesentlichen vorgetragen, dass der zuerkannte Gesamt-GdB von 30 seinen Beeinträchtigungen nicht hinreichend gerecht werde. Insbesondere sei seine Zuckererkrankung zu niedrig bewertet. Anders als vom Beklagten behauptet, käme es häufig zu Unterzuckerungen, die sich in Müdigkeit und Erschöpfung ausdrückten. Die Unterzuckerungen, aber auch die erhöhten Zuckerwerte, wirkten sich auf sein körperliches Wohlgefühl aus. Es komme zu Augenbrennen, Schwindelgefühl und Schweißausbrüchen.

Das Sozialgericht hatte im Laufe des Verfahrens weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte und ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige schlug in seinem Gutachten für die Diabeteserkrankungen einen Einzel-GdB von 50 vor und begründete dies insbesondere mit den häufigen Blutzuckermessungen des Klägers. Infolge des Sachverständigengutachtens erklärte sich der Beklagte bereit, für die Diabeteserkrankung einen Einzel-GdB von 40 anzuerkennen und gab insoweit ein Teilanerkenntnis ab. Dieses Teilanerkenntnis nahm der Kläger an. In einer darauffolgenden vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen kam dieser, abweichend von seinem vorherigen Gutachten, zu dem Ergebnis, dass ein GdB von 40 für die Diabeteserkrankung angemessen sei. Dem folgend wies das Sozialgericht Kiel die weitergehende Klage ab.

Gegen diese Entscheidung richtete sich die Berufung des Beklagten. Im Rahmen des Berufungsverfahrens trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er neben den üblichen Einschränkungen, die ein Diabetiker im täglichen Leben habe, auch auf Reisen immer Insulin mit sich führen müsse, was diese Aktivitäten und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten erheblich einschränke. Es bestünden bei ihm bereits Folgeschäden an anderen Organen. So läge bei ihm eine koronare Herzerkrankung und eine erektile Dysfunktion vor. Er habe bereits einen Herzinfarkt erlitten. Dies könne schwerlich geringer zu bewerten sein als eine fremde Hilfe erforderlich machende hypoglykämische Entgleisung (Unterzucker). Er habe auch zwei Zähne verloren.

IV. Die Entscheidung

Das LSG Schleswig-Holstein sah die Berufung des Klägers als begründet an. Die Diabeteserkrankung des Klägers ist entgegen der Ansicht des Sozialgerichts Kiel mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten.

Unter Berücksichtigung des Teil B Nr. 15.1 der Anlage zur VersMedV und der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)[1] hierzu besteht bei dem Kläger eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung. Der Kläger hat ausführlich und glaubhaft dargelegt, dass bei ihm Einschränkungen bei Reisen, aber auch privaten Besuchen im Freundeskreis oder bei der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen bestehen. Diese Einschränkungen erreichen für sich allein betrachtet, noch nicht das Ausmaß einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung, wohl aber das Ausmaß einer stärkeren Beeinträchtigung, wie sie für die Annahme eines GdB von 30–40 erforderlich ist. Hinzu kommen bei dem Kläger aber noch Schädigungen an anderen Organen und Funktionssystemen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Diabeteserkrankung zurückzuführen sind. Dazu zählen der Verlust von zwei Zähnen und die Wundheilstörungen im Mundhöhlenbereich, das erhöhte Risiko für Durchblutungs­störungen sowie koronare Herzerkrankungen und Herzinfarkte. Gleiches gilt für die erektile Dysfunktion. Die Berücksichtigung von Folgeerkrankungen, die mit Wahrscheinlichkeit durch den Diabetes mitverursacht worden sind, erfordert nicht, dass die Folgeerkrankung selbst mit einem GdB zu bewerten ist, der sich erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirken kann. Würde dies gefordert werden, dann bliebe für die Berücksichtigung von Folgeerkrankungen im Rahmen des Teil B Nr. 15.1 der Anlage zur VersMedV kaum ein eigener Anwendungsbereich, weil die Folgeerkrankung selbst im Rahmen der Gesamt-GdB-Bildung Berücksichtigung finden würde. Auch ein Vergleich zu anderen Fallgruppen erheblicher Einschränkungen im Sinne der streitigen Norm legt dies nahe, denn wenn mit der Rechtsprechung des BSG schon ein zeitlicher Mehraufwand für die notwendigen Injektionen aufgrund persönlicher Defizite die Annahme erheblicher Einschränkungen rechtfertigt, ist ein allzu restriktiver Maßstab bei der Berücksichtigung von Folgeerkrankungen nicht indiziert.

V. Rechtliche Würdigung

Nach dem angenommenen Teilanerkenntnis des Beklagten (Einzel-GdB 40 für den Diabetes mellitus) in der Vorinstanz, musste sich der Senat im Wesentlichen noch mit der Fragestellung befassen, ob die Funktionsbeeinträchtigungen durch die Diabeteserkrankung des Klägers und die daraus folgenden Teilhabebeeinträchtigungen so erheblich sind, dass die Feststellung eines GdB von 50 möglich ist.[2]

Die Bewertung des LSG Schleswig-Holstein überzeugt, da der Senat im Rahmen einer umfassenden Abwägung im Einzelfall die konkret vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers und deren Wechselwirkungen hinreichend berücksichtigt.

Nach § 152 Abs. 1 SGB IX soll die zuständige Behörde auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung feststellen. Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn sie körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (§ 2 Abs. 1 Satz 1). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Da es sich bei dem GdB um einen rechtlichen Begriff handelt, beruht seine Feststellung nicht auf medizinischen Erfahrungen, sondern auf einer rechtlichen Wertung von Tatsachen, wobei medizinischer Sachverstand einbezogen werden muss.[3] Im Klageverfahren obliegt die Feststellung des GdB damit auch originär den Gerichten.[4] Soweit Sachverständige eigene GdB-Werte angeben, handelt es sich um für das Gericht bzw. die Verwaltung unverbindliche Vorschläge.[5]

Auf der Ermächtigungsgrundlage des § 30 Abs. 17 BVG trat zum Januar 2009 die VersMedV[6] in Kraft, die zur Konkretisierung der Einzel-GdB und der Bildung des Gesamt-GdB – soweit mehrere Behinderungen vorliegen – herangezogen wird. Ausschlaggebend für die Bewertung sind dabei insbesondere die mersorgungsmedizinischen Grundsätze, die in der Anlage[7] der VersMedV enthalten sind.[8]

Die Feststellung eines GdB wegen einer Stoffwechselerkrankung, insbesondere in Form eines Diabetes mellitus, ist eine der häufigsten Fragestellungen, mit der sich die zuständigen Versorgungsbehörden und Sozialgerichte beschäftigten müssen. Lange Zeit war der Umgang mit Diabeteserkrankungen im Rahmen von GdB-Feststellungsverfahren umstritten. Das BSG hatte die früheren Kategorien zur Einordnung der Diabeteserkrankung als unzureichend qualifiziert.[9] Vor diesem Hintergrund wurden die Kriterien für diese Stoffwechselerkrankung im Jahr 2012 durch den Verordnungsgeber überarbeitet.

Die Vorschrift in Teil B Nr. 15.1 der Anlage zu § 2 VersMedV hat inzwischen folgenden Inhalt:

15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS (GdB)[10] rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.

Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.

Soweit es die Feststellung eines GdB von 50 betrifft, enthält Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 Anlage zu § 2 VersMedV seinem Wortlaut nach drei Beurteilungskriterien:

    • täglich mindestens vier Insulininjektionen,
    • selbstständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie
    • eine (durch erhebliche Einschnitte) gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung.

Diese Kriterien sind nach der Rechtsprechung des BSG nicht gesondert für sich genommen starr anzuwenden.[11] Für die Vergabe eines GdB von 50 genügt danach nicht, dass der behinderte Mensch eine Insulintherapie mit mindestens vier variierenden Insulininjektionen abhängig vom Blutzuckerspiegel durchführen und dies dokumentieren muss, wodurch sich bereits eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung ergibt. Sondern die betreffende Person muss vielmehr durch die Auswirkungen des Diabetes mellitus insgesamt gesehen erheblich – d. h. über das allgemeine Maß einer mit dem Therapieaufwand verbundenen Beeinträchtigung – in der Lebensführung beeinträchtigt sein.[12] Vergleichsmaßstab ist in diesem Zusammenhang nicht ein Mensch ohne Diabetes mellitus, sondern vielmehr eine Person mit vergleichbarer Diabeteserkrankung. Das kommt nach den Ausführungen des BSG in Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 Anlage zu § 2 VersMedV durch die Verwendung des Wortes „und“ deutlich zum Ausdruck.

Es ist nach Ansicht des BSG auch nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber davon ausgegangen ist, dass bei einem entsprechenden Therapieaufwand immer eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt. Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung ist nur unter strengen Voraussetzungen anzunehmen. Dies ergibt sich insbesondere aus der Formulierung des Verordnungstextes, der eine seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält („erheblich“, „gravierend“, „ausgeprägt“), was eine wesentliche Steigerung der Anforderungen verdeutlichen sollte.[13] Je nach den persönlichen Fähigkeiten und Umständen der betreffenden Person kann sich die Anzahl der Insulininjektionen und die Anpassung der Dosis unterschiedlich stark auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Abgesehen davon ist für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam, die im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden kann.[14]

Die durch erhebliche Einschnitte bewirkte gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung kann mithin auf Besonderheiten der Therapie beruhen, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als ein anderer im Umgang mit den Injektionsutensilien versierter Mensch. Einschnitte in der Lebensführung zeigen sich daneben auch bei einem unzulänglichen Therapieerfolg, also an der Stoffwechsellage des erkrankten Menschen.[15]

Vor diesem Hintergrund ist das Erreichen eines Einzel-GdB von 50 für eine Diabeteserkrankung in der Regel nicht ohne weiteres möglich. Das LSG Schleswig-Holstein hat sich bei der hier vorgenommenen Abwägung im Rahmen des vorhandenen Beurteilungsspielraums, systematisch zutreffend an den Vorgaben einer GdB-Bildung orientiert.

Inhalt des GdB sind die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Er ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens.

Die GdB-Werte in Teil B der Anlage zur VersMedV sind aus langer Erfahrung gewonnene, altersunabhängige Mittelwerte, wobei die mit der Behinderung verbundenen regelmäßigen seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen bereits berücksichtigt und in den GdB-Wert eingeflossen sind.[16]

Bei konsequenter Berücksichtigung dieser Grundsätze können die vom Kläger angeführten grundsätzlich mit einer Diabeteserkrankung einhergehenden Lebenseinschränkungen, z. B. bei der Planung und Gestaltung von Reisen bzw. der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, nicht als weitergehende erhebliche Beeinträchtigungen herangezogen werden. Diese allgemeinen Einschränkungen bestehen bei allen Personen, die in dieser Form an Diabetes erkranken.

Anders verhält es sich mit den konkreten vom Kläger vorgetragenen weitergehenden Erkrankungen, die bereits in anderen Funktionssystemen aufgetreten sind und mit einer Diabeteserkrankung regelmäßig im Zusammenhang stehen. Insbesondere eine koronare Herzerkrankung ist nicht im grundsätzlichen GdB-Mittelwert enthalten. Solche Erkrankungen können in der Systematik der VersMedV im Funktionssystem „Stoffwechsel“ mitunter erhöhend berücksichtigt werden.

Dass solche GdB-Erhöhungen möglich sind, zeigt sich insbesondere bei einem Blick auf den Bereich der Wirbelsäulenschäden nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zur VersMedV. Hier ist ausdrücklich festgelegt, dass bei einem außergewöhnlichen Schmerzsyndrom mit einer spezifischen Schmerztherapie eine GdB-Erhöhung vorgenommen werden kann.

VI. Zusammenfassung

Die Entscheidung des LSG Schleswig-Holstein führt im Ergebnis die Rechtsprechung des BSG fort, ohne die Regelungen in Teil B Nr. 15.1 der Anlage zur VersMedV zu statisch und undifferenziert anzuwenden.[17] Bei der Prüfung, inwieweit eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt, ist im Rahmen des Feststellungsverfahrens zwischen den allgemeinen und grundsätzlich bestehenden Einschränkung durch die Diabeteserkrankung sowie den individuellen im konkreten Einzelfall darüber hinausgehenden Einschränkungen zu unterscheiden. Die mitunter schematische Bearbeitung von Diabeteserkrankungen durch die Behörden berücksichtigt in besonders gelagerten Einzelfällen die individuelle Teilhabebeeinträchtigung der betroffenen Menschen nicht hinreichend. Trotz der engen Vorgaben in der VersMedV sind den Behörden und Gerichten hinreichende Beurteilungsspielräume eröffnet. Dabei müssen die verfügbaren Beweismittel (z. B. Befundbericht und Sachverständigengutachten) hinreichend in den Abwägungsprozess einbezogen werden. Darüber hinaus müssen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und Sachverständigen bei der Erstellung von Befundunterlagen und Sachverständigengutachten hinreichend die Kategorien der VersMedV berücksichtigen, um bei den betroffenen Menschen mit Diabetes hinsichtlich der Feststellung eines Schwerbehindertenstatus nicht Erwartungshaltungen zu erzeugen, die von den zuständigen Behörden und Gerichten nicht erfüllt werden können.

Dieses Urteil ist auch von Bedeutung für Schwerbehindertenvertretungen, zu deren Aufgaben es gehört, Beschäftigte bei Anträgen auf Feststellung eines GdB zu unterstützen (§ 178 Absatz 1 Satz 3 SGB IX). Es zeigt, dass die VersMedV und vor allem ihr Anhang zum täglichen Handwerkszeug der SBV gehören und dass es erforderlich ist, die jeweiligen Einzelpunkte sehr genau zu prüfen. Oft ist es wichtig, bereits den Hausärztinnen und -ärzten eine Kopie aus den versorgungsmedizinischen Grundsätzen zukommen zu lassen, damit sie einen möglichst genauen Befundbericht erstellen können. Dieser Fall zeigt auch, wie wichtig es ist, dass die Betroffenen die Beeinträchtigungen für das Leben in der Gesellschaft dokumentieren.

Wer einen GdB von 50 erreichen will, benötigt oft Ausdauer und viel Zeit. Hier waren im Laufe des Verfahrens zuerst ein GdB von 20, dann von 30 und dann von 40 anerkannt worden. Sobald ein GdB von 30 anerkannt ist, sollte geprüft werden, ob ein Gleichstellungsantrag gestellt wird, damit am Arbeitsplatz nach § 164 SGB IX Vorkehrungen zu einer behinderungsgerechten Gestaltung der Arbeit (z. B. Verzicht auf Schichtarbeit) realisiert werden können.

Beitrag von Christian Weber

Fußnoten

[1] Vgl. u. a. BSG v. 25.10.2012 – B 9 SB 2/12 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 16; v. 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18.

[2] Vertiefend FKSB/Weber, SGB IX, § 153 Rn. 7.

[3] FKSB/Weber, SGB IX, § 152 Rn. 33.

[4] LSG Nordrhein-Westfalen - 06.10.2011 - L 6 SB 76/09, juris; BSG - 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R, BSGE 91, 205.

[5] LSG Nordrhein-Westfalen - 06.10.2011 - L 6 SB 76/09, juris; LSG Rheinland-Pfalz - 22.05.1996 - L 4 Vs 129/95, br 1996, 167 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen - 26.02.1998 - L 7 Vs 164/97, juris.

[6] Die VersMedV ist abrufbar unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Versorgungsmedizin/versorgungsmedizin.html, zuletzt abgerufen am 19.12.2022.

[7] In der Anlage 2 wurden die bis 2008 in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht (AHP) festgelegten Grundsätze, nach denen sich die Feststellung des GdB und des GdS bis dahin richtete, übernommen; Bundesrats-Drucksache 767/08, S. 3.

[8] Grundlage für die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind die Beschlüsse des unabhängigen „Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin“; die Grundsätze werden nach § 2 VersMedV auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt; dazu und zur Ablösung der AHP Knittel, § 69 Rn. 63 ff.; LPK-Dau, § 69 Rn. 20 ff; dazu auch Nieder, Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze und die Einschätzung des Grades der Behinderung: Vom Einzel-GdB zum Gesamt-GdB; Forum C, Beitrag C15-2012 unter www.reha-recht.de; 22.10.2012; auch Weber, RP-Reha 2015, 15.

[9] BSG - 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R – juris; dazu Deinert/Welti-Ritz, Grad der Behinderung Rn. 11.

[10] Der hier angegebene GdS (Grad der Schädigungsfolgen) ist mit dem GdB gleichzusetzen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der GdB nicht kausal, sondern rein final – d. h. unabhängig von der Ursache – ermittelt wird.

[11] Grundlegend BSG – 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R, SGb 2013, 647; BSG - 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R, juris; BSG - 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R, SuP 2015, 60.

[12] FKSB/Weber, SGB IX, § 153 Rn. 7.

[13] Dazu u. a. LSG Nordrhein-Westfalen – 22.01.2021 – L 13 SB 29/20.

[14] Dazu LSG Sachsen-Anhalt - 15.07.2017 - L 7 SB 2/16, juris; LSG Nordrhein-Westfalen - 09.06.2017 - L 21 SB 400/15, juris; LSG Nordrhein-Westfalen – 22.01.2021 – L 13 SB 29/20 - juris.

[15] Vgl. BSG - 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R, SGb 2013, 647; BSG - 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R, juris; BSG - 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R, SuP 2015, 60.

[16] FKSB/Weber, SGB IX, § 152 Rn. 34

[17] Anders im Ergebnis LSG Nordrhein-Westfalen v. 22.01.2021 – L 13 SB 29/20 – juris.


Stichwörter:

Grad der Behinderung (GdB), Schwerbehinderung, Diabetes/Diabetiker, Teilhabebeeinträchtigung, Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)


Kommentare (2)

  1. nmt
    nmt 17.04.2024
    zu Beitrag 1:Das LSG unterscheidet doch in den Gründen zu DM I und II =>

    "Danach erleiden an Diabetes erkrankte Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdB rechtfertigt. Der GdB beträgt 0."
  2. Anonym
    Anonym 16.01.2023
    Aus Betroffenensicht kann mich die dem Urteil zugrundeliegende Argumentation leider nicht überzeugen. Zunächst wird im Urteil nicht zwischen einem Diabetes mellitus Typ I und einem Typ II unterschieden. Diese Unterscheidung ist jedoch maßgeblich für die Feststellung des GdS bzw. des GdB. (Vgl. dazu: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/diabetes.html)

    Weiterhin ist die Bedarfsfeststellung m.M.n. grundsätzlich zu defizitorientiert geprägt, indem sie die Manifestation von Folgeerkrankungen in die GdB-Beurteilung einfließen lässt – die aktive Verhinderung dieser und die daraus resultierenden Teilhabebarrieren aber nicht. Der eigene, ständig erforderliche Therapieaufwand, um einen möglichst gut eingestellten Diabetes mellitus Typ I und damit möglichst wenige Entgleisungen des Blutzuckers, respektive Unter- oder Überzuckerungen, und auch ein geringeres Risiko von Folgeerkrankungen zu haben, wird nicht berücksichtigt. Vielmehr erhalten diese Diabetiker:innen einen geringen GdS/GdB und kommen somit unter Umständen nicht in den Schutz des Schwerbehindertenrechts. Die möglichen Teilhabebarrieren im Arbeits- oder auch privaten, sozialen Leben, welche durch diese überdurchschnittliche – und die Anforderungen der VersMedV für einen GdS 50 weit übersteigende – Therapiearbeit überwunden werden, werden somit nicht gesehen und sogar noch bestraft. Dabei stellt dieser erhebliche Therapieaufwand eine eigene Teilhabebarriere dar, welche insbesondere im Hinblick auf den bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff in der Beurteilung des GdB stärker berücksichtigt werden sollte.

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