05.06.2015 C: Sozialmedizin und Begutachtung Ramm/Giese: Beitrag C4-2015

Nachträgliche Feststellung des Grades der Behinderung bei berechtigtem Interesse und das Merkzeichen „G“ – Bayerisches LSG, Urt. v. 10. September 2014, L 3 SB 235/13

Die Autorinnen beschäftigen sich mit einer Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG). In dem Fall begehrte ein intersexueller Mensch die rückwirkende Feststellung und Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „G“.

Das Gericht sah die Berufung des Klägers als zulässig und teilweise begründet an. Es wurde rückwirkend ein GdB von 60 zuerkannt, der Zuerkennung des Merkzeichens „G“ wurde nicht entsprochen. Das BayLSG führte aus, dass es zur rückwirkenden Feststellung eines GdB eines besonderen Interesses bedarf, wozu auch steuerrechtliche Nachteilsausgleiche zählen.

Die Autorinnen merken an, dass eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der UN-Behindertenrechtskonvention angebracht und notwendig gewesen wäre. Das BayLSG war hierauf nicht weiter konkret eingegangen.

(Zitiervorschlag: Ramm/Giese: Nachträgliche Feststellung des Grades der Behinderung bei berechtigtem Interesse und das Merkzeichen „G“ – Bayerisches LSG, Urt. v. 10. September 2014, L 3 SB 235/13; Forum C, Beitrag C4-2015 unter www.reha-recht.de; 05.06.2015)

 


I.       Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Bei berechtigtem Interesse kann die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) auch für einen Zeitraum vor Eingang des Erstantrages erfolgen. Ein berechtigtes Interesse ist zum Beispiel die Inanspruchnahme steuerrechtlicher Nachteilsaus­gleiche.
  2. Für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“[1] ist es nicht ausreichend, wenn zwar im Akutfall die Fortbewegung aufgrund starker Schmerzen unmöglich ist, dieser Zustand (hier zeitweise Verlagerung der Hoden) das Gehvermögen jedoch nicht dauerhaft einschränkt.

II.      Thesen der Autorinnen

  1. Ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, kann nur im konkreten Einzelfall entschieden werden. Ein Vergleichsmaßstab aus der Rechtsprechung oder aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen kann nur als Orientierung gelten.
  2. Um dem Recht auf Mobilität bzw. dem Sinn und Zweck des Merkzeichens „G“ gerecht zu werden, muss (auch) die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als Auslegungshilfe herangezogen werden.

III.    Der Fall

Der intersexuelle Mensch ist schwerbehindert und begehrte die rückwirkende Feststellung und Zuerkennung eines GdB von 80 ab dem 1. August 1994 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „G“.

Mit Bescheid vom 8. Mai 2008 stellte der Beklagte einen GdB von 40 zum 25. April 2008 fest. Dabei berücksichtigte der Beklagte erstens eine seelische Störung, Soma­tisierungsstörung sowie zweitens eine Gonadendysgenesie[2].

Hiergegen legte der intersexuelle Mensch Widerspruch ein. Mit einem Abhilfe-Bescheid stellte der Beklagte ab dem 25. April 2008 sodann einen GdB von 50 fest. Auf einen weiteren Widerspruch vom August 2008 wurde mit einem Teilabhilfe-Bescheid ein GdB von 50 ab dem 1. August 1994 durch den Beklagten festgestellt. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth begehrte der intersexuelle Mensch einen GdB von 80 rückwirkend ab dem 1. August 1994. In diesem sozialgerichtlichen Verfahren unterbreitete der Beklagte ein Vergleichsangebot. Demnach seien ein GdB von 60 ab dem 1. August 2006 und ein GdB von 70 ab dem 1. Dezember 2007 festzustellen.

Im Zuge dieses Verfahrens machte der intersexuelle Mensch dann Anfang November 2013 auch das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen „G“) aufgrund der Lage der Hoden- bzw. Eierstöcke in der Leiste, die temporär Quetschungen hervorruft, geltend.

Das SG Bayreuth hat Ende November 2013 entschieden, dass ab dem 1. August 2006 ein GdB von 60 und dem 1. Juni 2007 ein GdB von 80 zugrunde zu legen seien. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Hiergegen legte der intersexuelle Mensch im Dezember 2013 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) ein und begehrte weiterhin die Feststellung eines GdB von 80 ab dem 1. August 1994 und die Zuerkennung des Merkzeichens „G“.

IV.    Die Entscheidung

Die Berufung des Klägers ist zulässig und teilweise begründet.

Das BayLSG hat dem intersexuellen Menschen ab dem 1. Januar 1999 ein GdB von 60 zuerkannt (der Beklagte hat im Laufe des Verfahrens ein gleichlautendes Vergleichsangebot abgegeben). Den Forderungen der Feststellung eines GdB von 80 rückwirkend zum 1. August 1994 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ wurde nicht entsprochen.

Das BayLSG hat zur rückwirkenden GdB-Feststellung ausgeführt, dass es hierzu eines besonderen Interesses bedarf. Laut Gericht zählen hierzu auch steuerrechtliche Nachteilsausgleiche, die der intersexuelle Mensch im Laufe des Verfahrens geltend machte. Aus einer voraussichtlichen Lohn-/ Einkommenserstattung kann ein besonderes Interesse an der rückwirkenden Feststellung des GdB abgeleitet werden. Neben dem begründeten Interesse lagen die Voraussetzungen eines höheren GdB vor.

Für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ mangelte es an den entsprechenden Voraussetzungen.

Das BayLSG weist ferner darauf hin, dass sich unter Bezugnahme der UN-BRK keine weitergehenden Ansprüche ergeben.

V.     Würdigung/Kritik

Die Entscheidung des BayLSG verdient eine kritische Betrachtung und teilweise Zustimmung.

1.      Rückwirkende Feststellung

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wird auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung festgestellt, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX).

Dies ist zum einen Voraussetzung für die Anwendung des zweiten Teils des SGB IX sowie die Zuerkennung von Nachteils­ausgleichen und die Ausstellung des Schwerbehindertenausweises.[3] Um diese besonderen Rechte wahrnehmen zu können, ist insbesondere bei nicht offensichtlichen Behinderungen die (deklaratorische) Feststellung der Behinderung von Bedeutung.[4] Grundsätzlich ist die Feststellung des GdB auf die Zukunft gerichtet. In einzelnen Ausnahmefällen bzw. bei Vorliegen eines besonderen Interesses ist auch eine nachträgliche Feststellung des GdB zulässig.[5] Ein besonderes Interesse sei insbesondere dann anzunehmen, wenn dem behinderten Menschen aus der (rückwirkenden) Feststellung des GdB konkrete Vorteile erwachsen können.[6] Dazu gehört beispielsweise die grundsätzliche Möglichkeit der Inanspruchnahme einer gesetzlichen Altersrente für schwerbehinderte Menschen[7], die Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien Altersrente[8] oder, wie im vorliegenden Fall, die Inanspruchnahme von konkreten Steuervorteilen[9]. Dem BayLSG ist insofern bei der rückwirkenden Feststellung des GdB von 60 ab dem 1. Januar 1991 zuzustimmen.

2.      Zuerkennung des Merkzeichens „G“

Neben der Feststellung des GdB werden nach § 69 Abs. 4 SGB IX weitere gesundheitliche Merkmale festgestellt, wenn diese Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Dazu gehören insbesondere Nachteilsausgleiche, die die in § 3 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) aufgeführten Merkzeichen[10] voraussetzen. Im vorliegenden Fall begehrte der intersexuelle Mensch die Zuerkennung des Merkzeichens „G“, welches eine erhebliche Beeinträchtigung des schwerbehinderten Menschen in seiner Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr bescheinigt. Die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises mit diesem Merkzeichen führt zu einer unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (vgl. § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf diese Weise „sollen besonders schwer Behinderte von den finanziellen Belastungen freigestellt werden, die ihnen durch die behinderungsbedingte Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln (…) entstehen.“[11] Eine solche Beeinträchtigung liegt vor, wenn infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren Wegstrecken im Ortsverkehr zurückgelegt werden können, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (vgl. § 146 Abs. 1 SGB IX). Die Einschränkung kann auf innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit herrühren. Als üblicherweise zurücklegbare Wegstrecke gilt eine Strecke von zwei Kilometern bzw. 30 Minuten.[12] Das BayLSG bezieht sich auf die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“[13], die verschiedene Beispiele wie die Versteifung des Hüftgelenks oder chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie aufführen und lehnte hier eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ab. Das Gericht verkennt dabei jedoch, dass es sich bei dem Gehvermögen um keine statische Messgröße handelt, die auf jede Person uneingeschränkt angewendet werden kann. Vielmehr sind hier Aspekte wie örtliche Verhältnisse, anatomische Gegebenheiten und mögliche Beeinträchtigungen des Körpers, Witterungseinflüsse und die Motivation entscheidende Faktoren, die das Gehvermögen beeinflussen.[14] Die in Teil D Nr. 1d) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze aufgeführten Beispiele, auf die sich das BayLSG hier beruft, können nur als ebensolche Beispiele gewertet werden und der Orientierung bzw. als Maßstab dienen und stellen keineswegs einen abschließenden Katalog dar.[15] Wenn ein derartiges Regelbeispiel nicht vorliegt, aber gleichwohl eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit besteht, muss geprüft werden, ob eine wie oben beschriebene Einschränkung des Gehvermögens besteht.[16] Im vorliegenden Fall führen die Hoden- bzw. Eierstocklage in der Leiste und die daraus resultierenden Quetschungen zeitweise, im Fall akuter Schmerzepisoden dazu, dass das Gehvermögen der intersexuellen Person annähernd vollständig eingeschränkt ist. Individuell betrachtet ist es der intersexuellen Person zeitweise nicht möglich, die von der Rechtsprechung als üblich anerkannte Wegstrecke[17] bzw. Zeit zu Fuß zurückzulegen und die Beeinträchtigungen sind den Angaben des Sachverhalts zufolge auch erheblich. Dass diese Beeinträchtigung dauerhaft ständig vorliegen muss, ergibt sich weder aus § 146 SGB IX noch aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen.

Das Bayerische LSG meinte, dass sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention nichts anderes ergeben könnte. Es ist dabei aber nicht hinreichend auf die Möglichkeiten einer konventionskonformen Auslegung des Schwerbehindertenrechts eingegangen. Ziel der Konvention ist die gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Dazu gehört auch die Mobilität (Art. 20 UN-BRK). Die deutschen Gerichte sind verpflichtet, auch völkerrechtliche Normen bei der Auslegung nationalen Rechts zu beachten.[18] Im vorliegenden Fall hätten diese Aspekte vom Gericht beachtet und ausführlicher geprüft werden müssen. Ob dies im Ergebnis zu einer Zuerkennung des Merkzeichens „G“ geführt hätte, vermag hier nicht abschließend beurteilt werden. In jedem Fall wäre hier jedoch eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der UN-BRK angebracht und notwendig gewesen, um den Ansprüchen der intersexuellen Person gerecht zu werden und ihre Teilhabe auch im Bereich Mobilität zu ermöglichen bzw. zu verbessern.

Beitrag von Diana Ramm, M. A. und Dipl. jur. Maren Giese, beide Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung.

[2] Fehlentwicklung der Keimdrüsen (Gonaden), also der Hoden bzw. der Eierstöcke.

[3] FKS-SGB IX-Stevens-Bartol, 2. Auflage, § 69 Rn. 1.

[4] Dau in LPK-SGB IX, § 69 Rn. 4.

[5] BSG 07.04.2011 – B 9 SB 3/10 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 13; BSG, Urt. v. 16.02.2012 – B 9 SB 1/11 R.

[6] BSG, Urt. v. 16.02.2012 – B 9 SB 1/11 R, juris Rn. 38.

[7] BSG, Urt. v. 05.07.2007 – B 9/9a SB 2/06 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 5; BSG, Urt. v. 05.07.2007 – B 9/9a SB 2/07 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 6.

[8] BSG 7.04.2011 – B 9 SB 3/10 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 13.

[9] BSG, Urt. v. 16.02.2012 – B 9 SB 1/11 R, juris Rn. 41.

[10] So z. B. „aG“ für eine außergewöhnliche Gehbehinderung (Nr. 1), „H“ für Hilflosigkeit im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes (Nr. 2) oder „Gl“ für Gehörlosigkeit (Nr.4).

[11] BSG, Urt. v. 10.12.1987 – 9a RVs 11/87, juris Rn. 15.

[12] BSG, Urt. v. 10.12.1987 – 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273.

[13] Abrufbar unter www.gesetze-im-internet.de/normengrafiken/bgbl1_2008_ab/j2412_0010.pdf.

[14] Dau in LPK-SGB IX, § 146 Rn. 6; Bieritz-Harder in HL-SGB IX, § 146 Rn. 3.

[15] BSG, Urt. v. 13.08.1997 – 9 RVs 1/96, BSG, Urt. v. 24.04.2008 – B 9/9a SB 7/06 R, eine Vergleichsbetrachtung mit den aufgeführten Regelbeispielen sogar verneinend SG Dresden, Urt. v. 13.05.2014 – S 13 SB 590/12.

[16] Löbner, Feststellungsvoraussetzungen und aktuelle Rechtsprechung zum Merkzeichen „G“, Sozialrecht Aktuell 1/2015, 5 (7).

[17] Eine Wegstrecke von 2 Kilometer in einer Zeit von 30 Minuten.

[18] Vgl. dazu z. B. BVerfG (Görgülü) vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111,307; BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12 („HIV-Entscheidung“) als Konsequenz der Entscheidung des EuGH v. 11.04.2013 – C-335/11 (Ring & Skouboe Werge).


Stichwörter:

Grad der Behinderung (GdB), UN-BRK, Nachteilsausgleich, Rückwirkende Anerkennung, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Merkzeichen G


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