28.01.2021 D: Konzepte und Politik Rosenow: Beitrag D1-2021

Kumulation der Missverständnisse – Zu § 28a SGB VIII in der Fassung des Regierungsentwurfs für ein neues Kinder- und Jugendstärkungssetz (KJSG)

Der Autor Roland Rosenow beschäftigt sich in diesem Beitrag mit einer geplanten Neuregelung im SGB VIII zur Versorgung von Kindern in Notsituationen. Mit der Änderung sollen Familien mit einem psychisch- oder suchterkrankten Elternteil bei der Alltagsbewältigung in Situationen, in denen die Betreuung und Versorgung des Kindes vorübergehend nicht sichergestellt werden kann, unterstützt werden. Der Autor begrüßt das Ziel des Entwurfs, kritisiert aber, dass die Regelung systematisch an falscher Stelle platziert und nicht mit Regelungen zur Haushaltshilfe nach § 38 SGB V oder Elternassistenz nach § 78 Abs. 3 SGB IX abgestimmt ist.

(Zitiervorschlag: Rosenow: Kumulation der Missverständnisse – Zu § 28a SGB VIII in der Fassung des Regierungsentwurfs für ein neues Kinder- und Jugendstärkungssetz (KJSG); Beitrag D1-2021 unter www.reha-recht.de; 28.01.2021)


„Etwa 3,8 Millionen Kinder leben in Deutschland mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil zusammen.“[1] Wenn Eltern aufgrund einer psychischen oder einer Suchterkrankung nicht in der Lage sind, ihre Kinder angemessen zu versorgen, kann darin eine Behinderung liegen, aus der Ansprüche auf Teilhabeleistungen erwachsen. Mit dem Regierungsentwurf (RegE) für ein KJSG wird ein anderer Weg beschritten. Den Empfehlungen der von der Bundesregierung beauftragten Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern (AG KIPKE) folgend sollen mit einem neuen § 28a SGB VIII im Rahmen des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) bessere und niedrigschwellig zugängliche Hilfen geschaffen werden, die nicht an eine mögliche Behinderung der Eltern, sondern an die Bedarfe der Kinder anknüpfen. Die bisherige Regelung in § 20 SGB VIII würde aufgehoben.

Der Autor beleuchtet die Hintergründe dieses Vorschlags. Er unterstützt das Ziel, infrastrukturelle Leistungen zur Verfügung zu stellen, um Kinder psychisch kranker Eltern zu unterstützen, meint aber, dass das, was mit dem Entwurf beabsichtigt ist, auf diesem Wege nicht erreicht werden kann, weil die Regelung systematisch an falscher Stelle platziert und nicht mit anderen Regelungen abgestimmt ist.

I. § 28a SGB VIII RegE

Am 2. Dezember 2020 hat die Bundesregierung den Kabinettsentwurf für ein Gesetz zur Reform des SGB VIII beschlossen.[2] Wie bereits der Entwurf, der in der vergangenen Legislaturperiode noch vom Bundestag beschlossen wurde,[3] aber nicht Gesetz wurde, weil der Bundesrat sich nicht mehr damit befasste, soll das Reformgesetz Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) heißen. Der neue Entwurf sieht vor, dass § 20 SGB VIII (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen) gestrichen und durch einen neuen § 28a SGB VIII ersetzt wird, der lautet:

㤠28a Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen

Die Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes soll Familien unterstützen, bei denen

  1. ein Elternteil, der für die Betreuung des Kindes verantwortlich ist, aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen ausfällt,
  2. das Wohl des Kindes nicht anderweitig, insbesondere durch Übernahme der Betreuung durch den anderen Elternteil, gewährleistet werden kann,
  3. der familiäre Lebensraum für das Kind erhalten bleiben soll und
  4. Angebote der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege nicht ausreichen.

Unter der Voraussetzung, dass eine Vereinbarung nach § 36a Absatz 2 Satz 4 abgeschlossen wurde, können hierbei auch ehrenamtlich tätige Patinnen und Paten zum Einsatz kommen. Der zeitliche Umfang der Betreuung und Versorgung des Kindes soll sich nach dem Bedarf im Einzelfall richten.“

Durch die Verlagerung aus dem 2. Abschnitt des 2. Kap. des SGB VIII (§§ 16 bis 21) in den ersten Unterabschnitt des vierten Abschnitts (§§ 27 bis 35) wird die neue Leistung Teil der Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII. Wenn sie durch eine Erziehungsberatungsstelle vermittelt wird, soll sie niedrigschwellig (i. S. v. § 36a Abs. 2 SGB VIII) zugänglich sein. Das ergibt sich aus § 36a Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB VIII-RegE. Niedrigschwellige Zugänglichkeit in diesem Sinne bedeutet, dass die Leistung unmittelbar in Anspruch genommen werden kann, ohne dass es dafür einer Bewilligung durch das Jugendamt bedürfte. Anders als die Erziehungsberatung, die in § 36a Abs. 2 SGB VIII ausdrücklich genannt ist und die in der Regel unmittelbar in Anspruch genommen werden kann, soll die Leistung nach § 28a SGB VIII RegE aber nur dann niedrigschwellig zugänglich sein, wenn Leistungsberechtigte zuvor eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen und wenn diese die Hilfe vermittelt.

II. Derzeitige Rechtslage

Bislang normiert § 20 SGB VIII einen Anspruch auf Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen. Voraussetzung ist, dass „der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen ausfällt“ (§ 20 Abs. 1 SGB VIII). § 20 Abs. 2 SGB VIII enthält einen entsprechenden Anspruch für den Fall, dass Alleinerziehende oder beide Elternteile ausfallen. Der Anspruch ist nachrangig im Verhältnis zur Haushaltshilfe nach § 38 SGB V, der jedoch auf höchstens 26 Wochen begrenzt ist (§ 38 Abs. 1 S. 4 SGB V). Daher kommt es vor allem dann zur Inanspruchnahme von Leistungen nach § 20 SGB VIII, wenn ein Elternteil wegen einer schweren Krankheit länger als 26 Wochen lang ausfällt. Aus der Praxis wird berichtet, dass der Übergang von der Leistung der Krankenkasse zum Jugendamt gut eingespielt sei und oft reibungslos funktioniere. Da die Leistung nach § 20 SGB VIII nicht zu den Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) gehört, ist § 36 SGB VIII nicht einschlägig. Das für die Hilfen zur Erziehung obligatorische Hilfeplanverfahren ist nicht erforderlich. Das ist auch sachgerecht, denn der Bedarf wird im Fall von § 20 SGB VIII regelmäßig nicht durch einen erzieherischen Bedarf i. S. v. § 27 SGB VIII, sondern durch eine Notlage begründet.

III. Folgen der Verlagerung in den Katalog der Hilfen zur Erziehung

§ 27 Abs. 1 SGB VIII normiert die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung. Gem. § 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII sind insbesondere die in den §§ 28 bis 35 SGB VIII aufgeführten Leistungen Hilfen zur Erziehung. Auch nicht in diesem offenen Katalog genannte Leistungen können als Hilfen zur Erziehung zu erbringen sein, wenn das im Einzelfall erforderlich ist. Die Verlagerung der Betreuung von Kindern in Notsituationen in die Hilfen zur Erziehung kann so verstanden werden, dass neben den tatbestandlichen Voraussetzungen, die § 28a SGB VIII RegE enthält, auch ein erzieherischer Bedarf i. S. v. § 27 SGB VIII Tatbestandsmerkmal wird. Damit würde der Rechtsanspruch auf Betreuung und Versorgung in Notsituationen in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Neben das zusätzliche Tatbestandsmerkmal aus § 27 SGB VIII tritt das obligatorische Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII, das Familien durchlaufen müssen, um Hilfen zur Erziehung zu erhalten. Das ist nicht nur eine zusätzliche prozessuale Hürde, sondern führt nach der Rechtsprechung des BVerwG auch dazu, dass der Rechtsanspruch sich darauf beschränkt, dass das Hilfeplanverfahren sachgerecht durchgeführt wird.[4] Unabhängig von der Frage, ob man diese Rechtsprechung für zutreffend hält, bewirkt sie jedenfalls empirisch eine weitreichende Schwächung des an sich gebundenen Anspruchs auf Leistungen nach §§ 27 ff. SGB VIII.

Diese Einschränkung wird durch die Möglichkeit der unmittelbaren Inanspruchnahme allenfalls zum Teil kompensiert, denn § 36a Abs. 2 SGB VIII RegE sieht vor, dass diese nur dann möglich sein soll, wenn eine Erziehungsberatungsstelle (§ 38 SGB VIII) die Hilfe vermittelt. Zum Ersten dürften viele Familien, die heute Leistungen nach § 20 SGB VIII erhalten, weder Interesse noch Bedarf an einer Erziehungsberatung haben. Dieser Umweg wäre für solche Familien eine zusätzliche Hürde in einer ohnehin sehr belasteten Situation. Zum Zweiten ist offen, inwieweit und wie schnell die Erziehungsberatungsstellen Hilfen nach § 28a SGB VIII RegE selbst anbieten oder vermitteln werden.[5] Zum Dritten erscheint es unwahrscheinlich, dass gerade diejenigen Familien, die mit der neuen Regelung erreicht werden sollen (s. u.), künftig vermehrt Erziehungsberatungsstellen aufsuchen werden.

Systematisch käme § 28a SGB VIII RegE insofern eine Sonderstellung innerhalb der §§ 28 bis 35 SGB VIII zu, als die übrigen Vorschriften ausschließlich Leistungen und damit die Rechtsfolgenseite zum Gegenstand haben. Einzig § 28a SGB VIII RegE enthielte neben einer Leistung auch besondere Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistung.

IV. Intention des Entwurfs

Die Bundesregierung führt in der Begründung zu § 28a SGB VIII RegE aus:

„Insbesondere auch vor dem Hintergrund des von der Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch- und suchterkrankter Eltern‘ festgestellten Handlungsbedarfs im Hinblick auf die Unterstützung von Familien mit einem psychisch- oder suchterkrankten Elternteil bei der Alltagsbewältigung in Situationen, in denen die Betreuung und Versorgung des Kindes vorübergehend nicht sichergestellt werden kann […], wird die Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen damit in den Grundbestand des Spektrums erzieherischer Hilfen der §§ 28-35 SGB VIII aufgenommen und die Empfehlungen Nummer 1 und 3 dieser Arbeitsgruppe umgesetzt.“[6]


Die AG KIPKE geht auf einen Beschluss des Bundestages vom 22. Juni 2017 zurück,[7] mit dem dieser die Bundesregierung aufforderte, eine AG einzusetzen, die u. a. damit beauftragt wurde, Vorschläge „zur Schaffung der Voraussetzungen für eine Verbesserung der Zusammenarbeit und Vernetzung an den Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern für komplexe, multiprofessionelle Hilfen für Familien innerhalb des geltenden Zuständigkeits- und Finanzierungsrahmens, wobei insbesondere auch die Auswirkungen der jüngeren Sozialgesetzgebung zu berücksichtigen sind“[8] zu erarbeiten. Im Dezember 2019 legte die AG ihren Abschlussbericht vor.[9]

Die Empfehlung Nr. 1 lautet:

„Wir empfehlen daher, die Alltagsunterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe verbindlicher als einklagbaren Rechtsanspruch auszugestalten.[10] Dies könne „durch Integration des Normgehalts von § 20 SGB VIII in den Katalog der Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII als neue Hilfeart erreicht werden“.

Die Empfehlung Nr. 3 lautet:

„Wir empfehlen daher, eine dem Bedarf der Familie im Einzelfall entsprechende Ausgestaltung der Hilfe sicherzustellen. In der Beschreibung der Hilfeart sollte eine im Wesentlichen gleichmäßige Aufgabenteilung der Elternteile statt das überkommene Bild der ‚Einversorger-Familie‘ zugrunde gelegt und klargestellt werden, dass die Hilfe sowohl über Nacht als auch als stundenweise Betreuung möglich ist und dass ‚Ausfall‘ nicht gleichbedeutend mit der physischen Abwesenheit eines für die Betreuung des Kindes verantwortlichen Elternteils ist.“[11]


Mit der Erwähnung der „Einversorger-Familie“ und der Bezugnahme auf den „Ausfall“ eines Elternteils zielt auch die Empfehlung Nr. 3 auf § 20 SGB VIII. Die AG KIPKE kam zu dem Ergebnis, dass Familien mit einem psychisch oder suchterkrankten Elternteil in vielen Fällen keine „intensiven oder hinsichtlich des Familienlebens stark intervenierenden“ Hilfen benötigen, um „ihr Alltags- und Familienleben gut und ohne gravierende Belastungen für die Kinder“ zu gestalten. „Auch und gerade Unterstützung bei der Alltagsbewältigung, wie Haushaltsorganisation, kurzfristige bzw. überbrückende Kinderbetreuung, Fahrdienste o. ä.“ habe eine stabilisierende Wirkung und trage zur Verbesserung der Lebenslage der betroffenen Kinder bei. Rechtsgrundlage für diese Leistungen fänden sich in § 38 SGB V (Haushaltshilfe), § 74 SGB IX (Haushalts- oder Betriebshilfe und Kinderbetreuungskosten) und § 20 SGB VIII. Dass Leistungen nach § 74 SGB IX zu den unterhaltssichernden und anderen ergänzenden Leistungen zur Teilhabe (Leistungsgruppe 3, § 5 SGB IX) gehören und daher von keinem Rehabilitationsträger unabhängig von anderen Leistungen zur Teilhabe zu bewilligen sind, wird nicht angesprochen.[12]

Nach § 20 SGB VIII seien „zwar grundsätzlich wirksame alltagsunterstützende Hilfen für betroffene Familien möglich“. Doch die Vorschrift sei nur als objektiv-rechtliche Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ausgestaltet. Der oben zitierten Empfehlung Nr. 1 ist zu entnehmen, dass die AG KIPKE in der Verlagerung in den Katalog der Hilfen zur Erziehung eine Möglichkeit sah, um einen gebundenen Rechtsanspruch auf Leistungen nach § 20 SGB VIII zu schaffen.

Außerdem bestünden Einschränkungen „mit Blick auf die zu erfüllenden Tatbestandsmerkmale der ‚überwiegenden Betreuung‘[,] des ‚ausfallenden‘ Elternteils und der ‚berufsbedingten Abwesenheit‘ des anderen Elternteils“, die auf der Annahme fußten, dass ein Elternteil die häusliche Versorgung sicherstelle, während der andere berufstätig sei. Das sei „angesichts der mittlerweile weit verbreiteten mehr oder weniger paritätischen Aufgabenteilung bei Elternpaaren“ nicht mehr zeitgemäß.[13]

V. Bewertung und Ergebnis

Die Empfehlungen der AG KIPKE beruhen auf der fachlichen Annahme, dass „die ‚kontinuierliche Diskontinuität‘ der Bedarfslagen […] in Familien mit Kindern psychisch kranker Eltern […] flexible Hilfen jenseits der in den §§ 28 ff. SGB VIII für einzelne Bedarfslagen beschriebenen Leistungen“ erfordere.[14] Eine Rechtsgrundlage für solche Hilfen sah die AG in § 20 SGB VIII. Allerdings erkannte sie in dieser Vorschrift keine Rechtsgrundlage für einen Anspruch der leistungsberechtigten Person. Ausgehend vom Wortlaut von § 20 SGB VIII ist das nicht nachvollziehbar. Auch die Rechtsprechung erkennt in § 20 SGB VIII die Rechtsgrundlage eines gebundenen Anspruchs.[15] Allerdings richtet sich dieser Anspruch gerade nicht auf Leistungen die „auch mit schwankenden Bedarfen mitschwingen“,[16] sondern auf die Kompensation von Notsituationen, in denen ein Elternteil vorübergehend ausfällt.[17] Die Überlegungen der AG KIPKE treffen daher insofern zu, als § 20 SGB VIII einen Rechtsanspruch auf „mitschwingende Hilfen“, wie sie aus fachlicher Sicht überzeugend für erforderlich gehalten werden, nicht enthält. Das lässt sich aber nicht dadurch ändern, dass der Normgehalt als neue Hilfeart in die Hilfen zur Erziehung integriert wird. Vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung des BVerwG führt die Verlagerung darüber hinaus dazu, dass die Durchsetzbarkeit des Anspruchs konterkariert wird.

Damit beruht die vorgesehene Ersetzung von § 20 SGB VIII durch § 28a SGB VIII RegE auf einer Reihe von Missverständnissen:

  1. Entgegen der Annahme der AG KIPKE normiert § 20 SGB VIII einen Rechtsanspruch.
  2. Die Leistungen, für die eine ausdrückliche Rechtsgrundlage zu schaffen die AG KIPKE empfiehlt, sind entgegen ihrer Annahme nicht Gegenstand von § 20 SGB VIII.
  3. Wenn auf eine Leistung ein klagbarer Rechtsanspruch bestehen soll, ist das kein Grund, diese Leistung in den Katalog der Hilfen zur Erziehung aufzunehmen oder zu überführen. Seit seinem Inkrafttreten kennt das SGB VIII gebundene Rechtsansprüche außerhalb der Hilfen zur Erziehung. Und selbst wenn das nicht so wäre, könnte der Gesetzgeber das ändern.
  4. Solange die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte an der Entscheidung des BVerwG vom 24.6.1999 festhält, dass sich der Rechtsanspruch auf ein sachgerechtes Hilfeplanverfahren beschränkt, führt eine Verlagerung in die Hilfen zur Erziehung nicht etwa zu einer Stärkung, sondern tatsächlich zu einer deutlichen Schwächung eines Anspruchs.
  5. Für die Möglichkeit der unmittelbaren Inanspruchnahme ist die Verlagerung in die Hilfen zur Erziehung keineswegs erforderlich.[18]

Bereits das zeigt, dass die Ziele, die die Bundesregierung mit § 28a SGB VIII RegE verfolgt, mit der vorgesehenen Vorschrift kaum erreicht werden können.

Dazu kommt, dass das Problem der Normkonkurrenzen nicht hinreichend bedacht wurde. Normkonkurrenzen bestehen vor allem zu § 38 SGB V und zu § 78 Abs. 3 iVm § 113 SGB IX. § 74 SGB IX dürfte dagegen kaum eine Rolle spielen. Leistungen nach § 74 sind weder Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 2. Teil des SGB IX (§§ 6 Abs. 1 Nr. 7, 102 Abs. 1 SGB IX), noch gehören sie zu den Leistungen nach § 35a SGB VIII (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX, § 35a Abs. 3 SGB VIII). Sie sind nur von den Rehabilitationsträgern nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5, nur unter den jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen und nur i. V. m. einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen, was sich aus dem Wortlaut von § 74 Abs. 1 SGB IX ergibt.

An dem Vorrang der Haushaltshilfe nach § 38 SGB V ändert sich nichts, da § 28a SGB VIII RegE sich insoweit nicht von § 20 SGB VIII unterscheidet.

Die Leistung, für die mit § 28a SGB VIII RegE laut Begründung der Bundesregierung eigentlich eine Rechtsgrundlage geschaffen werden soll, wäre darüber hinaus von der Eingliederungshilfe abzugrenzen. Die Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB IX umfasst auch die Elternassistenz, §§ 78 Abs. 3, 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX. Wenn Eltern wegen einer psychischen Erkrankung (einschließlich Suchterkrankungen) besondere Unterstützung brauchen, um ihrer Verantwortung für ihre Kinder gerecht zu werden, wird in der psychischen Erkrankung in aller Regel eine wesentliche Behinderung (§§ 20, 99 SGB IX) zu sehen sein. Daraus kann ein Anspruch auf Elternassistenz nach §§ 113, 78 Abs. 3 SGB IX[19] erwachsen, der Ansprüchen nach dem SGB VIII in bestimmten Fällen vorgeht und in weiteren schwer von einem Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII abzugrenzen ist.[20] Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Ausgaben in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Eingliederungshilfe ist zu erwarten, dass die Träger beider Leistungen bemüht sein werden, den Anspruch dem jeweils anderen Träger zuzuordnen – mit den bekannten negativen Folgen für die Leistungsberechtigten.

Im Ergebnis: Der Entwurf von § 28a SGB VIII ist nicht geeignet, um die mit ihm verbundenen Ziele zu erreichen. Ausweislich der Begründung der Bundesregierung soll eine neue Leistung in das SGB VIII aufgenommen werden. Diese wäre im Ergebnis etwas anderes als Leistungen nach § 20 SGB VIII. Das kann nur erreicht werden, wenn eine Norm erlassen wird, die die erwünschte Leistung in hinreichend bestimmter Weise beschreibt. Darüber hinaus sollten die Konkurrenzen eines solchen Anspruchs zur Haushaltshilfe nach § 38 SGB V und zur Elternassistenz nach § 78 Abs. 3 SGB IX gesetzlich geregelt werden. Hier könnte auch die alte Forderung nach einer Komplexleistung[21] aufgegriffen werden, die zumindest teilweise niedrigschwellig i. S. v. § 36a Abs. 2 SGB VIII zugänglich sein sollte. Eine solche Komplexleistung sollte nicht nur Leistungen nach dem SGB VIII und nach §§ 90 ff. SGB IX, sondern (wie die Frühförderung, § 46 SGB IX) auch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einbeziehen.

Beitrag von Roland Rosenow, Diakonie Deutschland

Fußnoten

[1] Trunk, J. (2013). Kinder psychisch kranker Eltern: Stand der Forschung und Implikationen für Empirie und Praxis. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 8(3), 353–358 <353>, abrufbar unter https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/39151, zuletzt abgerufen am 28.01.2021.

[2] Der Entwurf liegt noch nicht als Bundesrats- oder Bundestagsdrucksache vor. Das BMFSFJ hat ihn veröffentlicht unter https://www.bmfsfj.de/blob/162870/0a99cae2e3f9dfe12f6e6c281faba933/kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-data.pdf, zuletzt abgerufen am 28.01.2021.

[3] Dokumentation siehe http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/810/81081.html, zuletzt geöffnet am 28.01.2021.

[4] BVerwG, Urteil vom 24.06.1999, 5 C 24/98.

[5] Die Änderungen, die § 28a SGB VIII RegE im Verhältnis zu § 20 SGB VIII vornimmt, werden hier außer Acht gelassen. Die hier entscheidende Voraussetzung für die Leistung – Ausfall eines Elternteils – soll sich nicht ändern.

[6] Begründung der Bundesregierung (s. Fn. 1) S. 86.

[7] BT-Plenarprotokoll 18/240, S. 24.636C – 24.642A.

[8] Bundestags-Drucksache 18/12780, S. 4.

[9] Der Bundestag wollte den Abschlussbericht eigentlich schon zum 1.7.2018 erhalten, Bundestags-Drucksache 18/12780, S. 4. Der Abschlussbericht steht unter https://www.ag-kpke.de/arbeitsgruppe/berichte-und-expertisen/, zuletzt abgerufen am 28.01.2021, zur Verfügung.

[10] Abschlussbericht AG KPKE S. 8.

[11] ebd.

[12] ebd.

[13] Die AG nennt für diese Annahme keine Quelle. Tatsächlich sind nur in 35% der Paarfamilien mit einem Kind unter 3 Jahren beide Eltern erwerbstätig. „Bei zwei erwerbstätigen Eltern herrscht das Modell ‚Vater in Vollzeit, Mutter in Teilzeit‘ vor.“ Siehe https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/12/PD19_473_122.html, zuletzt abgerufen am 28.01.2021.

[14] Abschlussbericht S. 41.

[15] OVG Lüneburg, 13.9.2019, 10 LA 321/18: „Nach § 20 Abs. 1 SGB VIII besteht ein Anspruch auf Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung eines im Haushalt lebenden Kindes, wenn der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen ausfällt und der andere Elternteil wegen berufsbedingter Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen.“ (Rn. 19) Im Ergebnis ebenso VGH Hessen, 20.12.2016, 10 A 1895/15 und OVG NRW, 6.5.2013, 12 B 423/13; s. a. Struck in: Münder et. al, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 20 Rn. 2 ff.

[16] Abschlussbericht S. 41.

[17]Die Vorschrift regelt ein spezifisches Angebot der Jugendhilfe für familiäre Notsituationen, wenn Eltern vorübergehend in der Kinderbetreuung ausfallen. Die Leistung soll sicherstellen, dass Kindern bei krankheitsbedingten oder auf anderen zwingenden Gründen beruhendem Ausfall der Hauptbetreuungsperson der familiäre Lebensraum erhalten bleibt, wenn keine erzieherischen Gründe für eine Unterbringung außerhalb der Familie vorliegen […]. Ziel der Vorschrift ist es dementsprechend, den familiären Erziehungs- und Versorgungsbereich zu erhalten, bis die Eltern wieder in der Lage sind, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Dementsprechend ist Voraussetzung für eine Hilfegewährung auf Grundlage des § 20 SGB VIII, dass dieses Ziel auch erreichbar ist. Demzufolge ist für einen Elternteil, der auf Grund einer Erkrankung oder Behinderung ein Kind von Geburt an nicht versorgen kann und auf absehbare Zeit nicht versorgen können wird, § 20 SGB VIII nicht einschlägig […]“. OVG Lüneburg, 13.09.2019, 10 LA 321/18, Rn. 19.

[18] Der Regierungsentwurf KJSG enthält mit § 8 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 SGB VIII RegE eine Regelung, die das bestätigt.

[19] Sind die Eltern selbst noch junge Menschen i. S. v. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII (noch nicht 27 Jahre alt), kommt auch Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Betracht, wenn der Bedarf seine Ursache in einer seelischen Behinderung hat (§ 10 Abs. 4 SGB VIII).

[20] Zinsmeister: Zum Anspruch behinderter Eltern auf staatliche Unterstützung bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder („Elternassistenz“) im eigenen Haushalt – Anmerkung zu LSG NRW, Urteil v. 23.02.2012 – L 9 SO 26/11 (nicht rechtskräftig); Forum A, Beitrag A29-2012 unter www.reha-recht.de; 04.12.2012; Zinsmeister unterscheidet hier vier Fallgruppen. Die Situationen, die die Bundesregierung mit § 28a SGB VIII RegE in den Blick nimmt, können den Fallgruppen 2, 3 oder 4 zuzurechnen sein. Der Beitrag bezieht sich zwar auf die Rechtslage vor dem Bundesteilhabegesetz. Durch den mit dem BTHG eingefügten § 78 Abs. 3 SGB IX könnte die Abgrenzung dieser Fallgruppen sich etwas verschieben, aber grundsätzlich besteht das Problem unverändert.

[21] siehe Fn. 19.


Stichwörter:

Kinder- und Jugendhilfe, Jugendamt, Eltern, psychische Erkrankung, Abhängigkeitserkrankung Sucht, SGB VIII


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