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Die Autorinnen Eva Nachtschatt und Angelice Falk berichten in ihrem zweiteiligen Beitrag vom 6. Deutschen Sozialgerichtstag, der am 17. und 18. November 2016 vom Deutschen Sozialgerichtstag e.V. in Potsdam veranstaltet wurde. Die Veranstaltung widmete sich dem Thema „Brückenschlag von der Integration zur Inklusion“. Der erste Teil gibt einen Überblick über die gesamte Tagung. In diesem zweiten Beitragsteil berichten die Autorinnen ausführlich aus den Kommissionen zum SGB III/XII und SGB IX.
Die Kommission zum SGB III/XII zum Thema Inklusion, Arbeitswelt, Eingliederungshilfe befasste sich u.a. mit der Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben und mit bedürftigkeitsunabhängigen Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Kommission zum SGB IX widmete sich Themen wie inklusiver Beschäftigung und Bildung, der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sowie der Entwicklung des Behindertenbegriffs. In der abschließenden Podiumsdiskussion wurde der BTHG-Entwurf hinsichtlich der zu erreichenden Ziele betrachtet und von den Teilnehmenden kritisch bewertet.
(Zitiervorschlag: Nachtschatt/Falk: Tagungsbericht 6. Deutscher Sozialgerichtstag am 17./18.11.2016 in Potsdam – Teil 2; Beitrag D10-2017 unter www.reha-recht.de; 15.03.2017.)
Am 17. und 18. November 2016 fand in Potsdam der 6. Deutsche Sozialgerichtstag (DSGT), veranstaltet durch den Deutschen Sozialgerichtstag e. V., statt.[1] Thema der zehnjährigen Jubiläumsveranstaltung war der Brückenschlag von der Integration zur Inklusion. In diesem Beitrag berichten die Autorinnen ausführlich aus den Kommissionen zum SGB III/XII und SGB IX und ergänzen somit den ersten Teil des Tagungsberichts[2].
Die Kommission SGB III/XII wurde von Elke Roos (Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht [BSG], Kassel) geleitet. Die Teilnehmenden befassten sich vor dem Hintergrund der Neuauflage des Nationalen Aktionsplans (NAP 2.0.) sowie den Gesetzgebungsverfahren des BGG und BTHG mit dem Thema Inklusion, Arbeitswelt, Eingliederungshilfe. Susanne Jaritz (Bundeskanzleramt) beleuchtete mit ihrem Referat „Inklusion im Arbeitsförderungsrecht – Utopie oder Realität“ zunächst den rechtlichen Rahmen und die Praxis der Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben. Dabei ging sie auf die Dynamik des Behinderungsbegriffs ein, der von gesellschaftlichen Entwicklungen und Kontextfaktoren abhängig ist und die selbstbestimmte Lebensführung in den Fokus stellt. Die Ausübung einer den Lebensunterhalt sichernden Tätigkeit beschrieb Jaritz als Schlüssel zur Eröffnung von Teilhabe. Trotz zunehmender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahren, ist die Zahl von Menschen mit Behinderungen unter den Arbeitslosen nach wie vor höher als die derjenigen ohne Behinderung.[3] Besonders für Menschen mit geistigen Behinderungen gestalte sich der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt schwierig. Eine Ursache sah Jaritz in der oft mangelnden Kenntnis vieler Arbeitgeber von Fördermöglichkeiten. Zudem sei auch der Umstand, dass Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt meist eher an ihren Beeinträchtigungen gemessen würden als an ihren Qualifikationen, verantwortlich. Kritik übte die Referentin an der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)[4], es entstehe ein Sonderarbeitsmarkt, der die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt eher erschwere. Sie forderte daher eine stärkere Vernetzung der WfbM mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt, z. B. durch Schaffen von gesetzlich festgeschriebenen Anreizen für den Übergang. Als erste positive Ansätze nannte sie die Unterstützte Beschäftigung, das Budget für Arbeit (BfA)[5], die Integrationsbetriebe und das neue Instrument der Assistierten Ausbildung[6]. Die Ausgleichsabgabe für Unternehmen sei hingegen ein Fehlanreiz, da hierdurch ein „Freikaufen“ der Arbeitgeber von der Beschäftigungspflicht (§ 154 SGB IX-E, bis 31.12.2016 § 71 SGB IX) ermöglicht werde. Insgesamt seien die rechtlichen Rahmenbedingungen für gelingende Inklusion bereits gut, Defizite bestünden hingegen bei deren praktischer Umsetzung. Hier müssten das Fachkräftepotenzial von Menschen mit Behinderung stärker in den Fokus rücken, Arbeitgeberängste abgebaut, Fördermöglichkeiten und Unterstützungsangebote besser bekannt gemacht und die Vorteile der Digitalisierung der Arbeitswelt genutzt werden. In der anschließenden Diskussion wurde kritisiert, dass die Bedürfnisse von Arbeitgebern bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bisher unzureichend berücksichtigt würden, es fehle an hinreichender Befähigung und finanzieller Unterstützung. Besonders wichtig sei eine einzelfallorientierte Beratung der Arbeitgeber, da diese von der Komplexität und Fülle von Fördermöglichkeiten oft überfordert seien. Weiterhin sei problematisch, dass eine selbständige Tätigkeit von Menschen mit Behinderung häufig nicht förderungsfähig sei, obwohl für viele (besonders Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen) eine Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit einer selbständigen Beschäftigung ermöglicht werden könne. Viele könnten dem Leistungsdruck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht Stand halten und flüchteten in WfbM. Aufgegriffen wurde zudem der Vorschlag aus der Stellungnahme des Bunderates vom 23. September 2016, den Anwendungsbereich des BfA auf die Ausbildung auszuweiten.[7] Dieser Vorschlag wurde von der Bundesregierung jedoch abgelehnt.[8] Grundsätzlich sei man sich einig, das BfA auch für junge Menschen mit Behinderungen einzurichten, ungeklärt sei hingegen die Frage der Finanzierung, erläuterte Jaritz.
Anschließend referierte Stephan Gutzler (Landessozialgericht [LSG] Rheinland-Pfalz, Mainz) zu „Inklusion in der Eingliederungshilfe – eine kritische Bestandsaufnahme“. Er ging zunächst auf die Begriffe der EGH, der Teilhabe sowie die Unterschiede von Integration und Inklusion ein und regte an, den Begriff der (Eingliederungs-) “Hilfe“ durch „Teilhabe“ zu ersetzen, um den Inklusionsprozess begrifflich zu begleiten. Ferner widmete er sich der Frage nach einer bedürftigkeits(un)abhängigen Förderung. Die bisherige starke Differenzierung der EGH zwischen bedürftigkeitsunabhängigen Sonderbereichen (z. B. Schule, Arbeit) und dem bedürftigkeitsabhängigen allgemeinen Bereich der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft müsse zur vollständigen Inklusion zu einer insgesamt von Bedürftigkeit unabhängigen Leistung ausgebaut werden. Weiter thematisierte er den Anschauungswandel im Leistungsrecht. Hier sollten individuelle Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen im Fokus stehen und die Leistungserbringung personenzentriert, bis zur Grenze der Finanzierbarkeit erfolgen. Diese Grenze sei nur dann erreicht, wenn die Geeignetheit und Zumutbarkeit einer durch den Leistungsträger vorgeschlagenen Alternativmaßnahme zweifelsfrei festgestellt ist. Wann das in der Praxis der Fall ist, wurde unter den Teilnehmenden stark diskutiert, auch hier komme es entscheidend auf den Einzelfall an. Akzeptiert wurde weitgehend, dass die Anschaffung eines eigenen Kraftfahrzeugs (Kfz) unter Umständen nur erforderlich ist, wenn die Teilhabe nicht durch das Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel oder Fahrdienste genauso gut erreicht werden kann. Für unzumutbar erachtet wurde hingegen eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG), nach der es Menschen mit Behinderung zumutbar sein soll, ihre Termine so zu koordinieren, dass stets ein bereits im Familien- oder Bekanntenkreis vorhandenes Fahrzeug genutzt werden kann[9]. Hinsichtlich der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts kritisierte der Referent, dass durch das Auswahlermessen der Krankenkassen das Wirtschaftlichkeitsgebot und die regionale Verfügbarkeit über das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen gestellt würden. Als Maßstab für die Wirtschaftlichkeit sei stets ein Durchschnitt aller Angebote heranzuziehen, um Billigangebote auszuschließen und keinem verfälschten Maßstab zu verfallen. Kritisch äußerte sich der Referent zur Ausgestaltung des persönlichen Budgets im BTHG[10]. Es fehle zum einen an der Einklagbarkeit dieses wichtigen Instruments, auch bei behördlich verweigerten Bedarfsfeststellungen und Zielvereinbarungen, sowie zum anderen an einer Regelung zur Übernahme von Budgetverwaltungskosten. Abschließend bewertete Gutzler den BTHG-Entwurf als begrüßenswert, positiv sei vor allem die ab 2020 geplante Nichtberücksichtigung von Partnereinkommen und -vermögen[11]. Kritikwürdig seien hingegen § 7 SGB IX-E, dem es für ein Leistungsgesetz noch immer an Abweichungsfestigkeit fehle, § 8 SGB IX-E, der das Wunsch- und Wahlrecht nach wie vor unter den Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit stelle sowie die Regelungen zur Koordinierung der Leistungsträger (§§ 14 bis 22 SGB IX-E) und die Neufassung des leistungsberechtigten Personenkreises in § 99 SGB IX-E[12]. Ein für alle Leistungsbereiche einheitliches Teilhaberecht gelinge mit dem aktuellen Entwurf noch nicht. In der anschließenden Diskussion wurde die Befürchtung geäußert, dass es durch die neuen Regelungen der EGH zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand komme.
In einem dritten Vortrag thematisierte Leander Palleit die „UN-BRK und berufliche Inklusion – Inhalte und künftige Entwicklungen“. Er ging zunächst auf den völker- und verfassungsrechtlichen Kontext der UN-BRK ein, zeigte die Bezüge beruflicher Inklusion in Art. 9, 24 und 27 UN-BRK auf und betonte die Bedeutung völkerrechtsfreundlicher Auslegung bei der Anwendung deutschen Rechts. Die Umsetzung der UN-BRK sei eine systematische Herausforderung, die Gewissenhaftigkeit, Zeit und Selbstreflektion verlange. In diesem Zusammenhang ging Palleit näher auf die Umsetzungsprobleme bei Art. 27 UN-BRK ein. Hier werde die Forderung nach einem inklusiven und zugänglichen Arbeitsmarkt (Art. 27 UN-BRK) häufig als unerreichbare Utopie gesehen. Tatsächlich werde die Regelung falsch verstanden, von der Konvention sei entgegen vieler Annahmen nicht ein inklusiver Arbeitsmarkt gemeint, der sich im privaten Sektor selbst tragen soll. Vielmehr müsse Art. 27 Abs. 1 UN-BRK wie folgt gelesen werden: „…die in einem mit Hilfe staatlicher Leistungen offen, inklusiv und für Menschen mit Behinderungen zugänglich gestalteten Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.“ Die Kriterien zur Beurteilung ob und inwiefern der Arbeitsmarkt diesen Anforderungen bereits entspricht, ergäben sich weiter aus Art. 27 Abs. 1 Buchstaben a) bis k). Im Anschluss diskutierten die Teilnehmenden die Frage, inwieweit die UN-BRK mit dem BTHG umgesetzt werde. Kritisiert wurde diesbezüglich vor allem die Herangehensweise, im BTHG würden nur einzelne Aspekte der UN-BRK aufgegriffen, ein schrittweises Vorgehen und Umsetzen der Konvention erfolge nicht, sei aber ausdrücklich wünschenswert.
Zusammenfassend formulierten die Teilnehmenden der Kommission folgende vier Forderungen für die Beschlussfassung des BTHG:
Die Kommission SGB IX, SER/SB, befasste sich mit der Thematik „Versorgungsmedizinverordnung und Inklusion – Teilhabe gestern, heute und morgen“ und wurde von Renate Holst (Direktorin des Sozialgerichts Bremen a. D.) geleitet. Einführend referierte Helga Seel (Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, BAR) über den Begriff der Teilhabe. Die Referentin ging insbesondere auf die inklusive Beschäftigung und die Bildung ein. Seel hielt die Abkehr von einer hierarchischen Steuerung für erforderlich. Für das Individuum bedeute die Teilhabe im Rahmen des geplanten BTHG einen vielschichtigen Prozess. Dieser umfasse die Bedarfserkennung, die Bedarfsfeststellung, die Teilhabeplanung, die Durchführung von Teilhabeleistungen u. v. m. Wesentlich dabei seien fließende Übergänge sowie Maßnahmen, welche die Betroffenen über die gesetzlich vorgesehenen Verfahren hinaus vor Verlust der Unterstützungsleistungen bewahren. Die Referentin ging abschließend auf die größten Problemfelder des BTHG-Entwurfes ein, wie z. B. die Regelung „5 aus 9“ und die verwirrende Regelung des § 14 SGB IX-E (Zuständigkeiten). Für viele Betroffenen wäre es sehr hilfreich, Informationen in Leichter Sprache zu erhalten, um sich in der Fülle von neuen Bestimmungen zurecht zu finden. Die angedachten Neuerungen seien trotz Schwachstellen zu begrüßen und „Fürsorge“ sei trotz allem kein Unwort.
Karin Reinelt (Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, Hannover) referierte unter dem Titel „Begutachtungsansätze im Spiegel der Zeit“ über die geschichtliche Entwicklung der medizinischen Begutachtung. Dabei ging sie u. a. auf das Reichsversorgungsgesetz von 1920, das Bundesversorgungsgesetz von 1950, das Schwerbehindertengesetz von 1974, das SGB IX von 2001 und auf die Entstehung der Versorgungsmedizinverordnung ein. Erste Anhaltspunkte für die Entstehung und Vorläufer einer rechtlichen Regelung für die ärztliche Begutachtung ergaben sich aus der Frage nach der Dienstbeschädigung (Entschädigung) oder der Kriegsdienstentschädigung schon im Jahr 1916. Hier wurden erstmals psychische Beeinträchtigungen mitberücksichtigt. Im Verlauf des Vortrages erörterte Reinelt den weiteren Werdegang bis hin zur Versorgungsmedizinverordnung[16] mit ihren Änderungen.
Zwei weitere Referenten widmeten sich dem Thema „Was bedeutet Teilhabe künftig für die Versorgungsmedizinverordnung – aus Sicht eines Sozialverbandes und aus Sicht der Verwaltung?“ Reinhard Gelhausen (SoVD) referierte zu den Umsetzungsschritten hinsichtlich der Teilhabe im Sinne von Art. 27 UN-BRK und andererseits über das Feststellungsverfahren gemäß § 69 SGB IX und der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV). Fehlende Verwaltungsstrukturen würden die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen erschweren. Der Begriff der Behinderung müsse allgemein an den der UN-BRK angepasst werden, dies fördere die tatsächliche Gleichstellung im Alltag und ein umfassendes Teilhabeverständnis. Der Referent beschrieb drei unterschiedliche Handlungsansätze zur Umsetzung von Rechten aus der UN-BRK und erklärte die einzelnen Schritte am Beispiel des Art. 27. Bei allen Handlungsansätzen sei der Adressatenkreis ein anderer. Auf der ersten Stufe stehe die Barrierefreiheit als abstrakte Regelung. Auf der zweiten Stufe befinde sich die positive Maßnahme, welche sich auf eine spezielle Gruppe von Personen mit einer konkreten Behinderung bezieht. Auf der dritten und letzten Stufe stehe die angemessene Vorkehrung, die sich an dem individuellen, konkreten Einzelfall orientiert und sich nach dem persönlichen Bedarf richtet. Aus den unterschiedlichen Stufen ergäben sich auch verschiedene Teilhabeperspektiven. Am genannten Beispiel des Art. 27 UN-BRK beschrieb der Referent die derzeitige Umsetzung wie folgt: Die Barrierefreiheit werde in der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättVO)[17], die positive Maßnahme durch den vorhandenen Kündigungsschutz[18] und die angemessene Vorkehrung durch das Integrationsamt[19], umgesetzt. Die VersMedV, so auch die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB), seien auf der Stufe der positiven Maßnahme zu verorten. Die positive Maßnahme diene dem Nachteilsausgleich. Bei der Feststellung der Behinderung müsse die Funktionseinschränkung nach den ICF[20]-Maßstäben beurteilt werden. Das Feststellungsverfahren nach § 69 SGB IX werde pauschal und typisiert durchgeführt, wohingegen die ICF eine individuelle, konkrete Betrachtung vorsehe. Daraus ergebe sich ein Spannungsverhältnis zwischen der ICF und dem Recht auf Feststellung der Behinderung nach § 69 SGB IX. Nach Ansicht des SoVD müsse das Verfahren nach § 69 SGB IX dennoch beibehalten werden, um die Vielzahl an Fällen bewältigen zu können. Das Verfahren sei allerdings verbesserungsfähig und modernisierbar.
Walter Oertel (Zentrum Bayern Familie und Soziales, Bayreuth) erörterte in seinem Vortrag die Entwicklung des Behindertenbegriffs in den vergangenen vierzig Jahren. Darüber hinaus stellte er fest, dass der Bewertungsmaßstab für die Feststellung des GdB und die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche in der VersMedV bereits seit langem teilhabeorientiert sind, bisher jedoch noch nicht vollständig umgesetzt wurden. Anhand der nun insgesamt sechs Änderungsverordnungen zur VersMedV beschrieb der Referent die Implementierung des psychosozialen Modells der ICF, gemeint sei das Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen. In der VersMedV erfolge dies schrittweise in den Änderungsverordnungen entsprechenden einzelnen Funktionsbereichen. In der Verwaltung unterlägen die Ergebnisse der versorgungsmedizinischen Begutachtung und des anschließenden Vollzugs einem fortlaufenden Anpassungsprozess. Mit der Einführung der sechsten Änderungsverordnung solle nun eine weitere Differenzierung vorgenommen werden, um verbesserte Therapiemöglichkeiten und prothetische Versorgung berücksichtigen zu können. Dieser neue Ansatz in der VersMedV, den Verlauf einer Gesundheitsstörung grundsätzlich hinsichtlich Dauer, Behandlung und Versorgung mit Hilfsmitteln mit einfließen zu lassen, hat zur Folge, dass die Zahl der Nachprüfungen von Amts wegen nach § 48 SGB X steigen werde. Es werden mehr Überprüfungstermine in kürzeren Abständen vorgemerkt werden müssen. Wünschenswert wäre, die zeitliche Befristung im Verwaltungsakt festzustellen. Die nach der Teilhabebeeinträchtigung differenzierten Bewertungen würden insgesamt einen hohen Verwaltungsaufwand bedeuten, insbesondere hinsichtlich aufwändiger Programmierarbeiten in den Anwenderprogrammen. Der Referent stellte fest, dass der Informations- und Beratungsbedarf der Bürger zunimmt, die Bewertungsmaßstäbe entsprechend neu ausgerichtet werden müssten, da sie sich fortlaufend verändern würden. Auch die Anforderungen an die Qualität sowie an die Quantität der medizinischen Unterlagen würden steigen. Aus diesen könnten die erforderlichen Einzelheiten hinsichtlich einer Teilhabebeeinträchtigung abgeleitet werden. Viele Grunderkrankungen würden aufgrund des medizinischen Fortschritts und der sich ständig verbessernden Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten nicht mehr auf Dauer auch eine gleichbleibende Teilhabebeeinträchtigung zur Folge haben. Sie werde tendenziell geringer. Ein neues, rein teilhabeorientiertes Bewertungssystem bringe also möglicherweise niedrigere GdB-Werte hervor. Wenn die durch eine Gesundheitsstörung bestehende Teilhabebeeinträchtigung aufgrund einer zwischenzeitlichen Änderung der VersMedV oder aufgrund einer Veränderung der tatsächlich bestehenden Teilhabebeeinträchtigung im Zeitpunkt der Entscheidung niedriger bewertet werden würde, müsse dies bei der Einzel- und Gesamt-GdB-Bildung ebenfalls berücksichtigt werden. Hinzu komme, dass die VersMedV bei der Bewertung der Teilhabebeeinträchtigung auf die Lebensverhältnisse einer standardisierten Umwelt abstelle und die konkreten Umweltbedingungen, unter welchen der behinderte Mensch lebt, unberücksichtigt blieben. Diese standardisierten Umweltbedingungen unterlägen gegenwärtig einem rasanten Wandel. Der Referent sah insgesamt keine Tendenzen, welche das Feststellungsverfahren nach § 69 SGB IX überflüssig machten. Eher werde die Richtung eines komplexeren Vollzuges eingeschlagen. Die differenzierte Einzelfallbetrachtung werde für den Betroffenen unvorhersehbarer.
Beitrag von Mag. iur. Eva Nachtschatt, Universität Kassel und Dipl. jur. Angelice Falk, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Fußnoten:
[1] Der Tagungsbericht des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. kann unter http://www.boorberg.de/sixcms/media.php/891/Tagungsbericht%206.%20DSGT%20v.%208.12.16_vollst%E4ndig.pdf abgerufen werden.
[2] Der erste Teil dieses Beitrags ist als Beitrag D9-2017: Nachtschatt/Falk: Tagungsbericht 6. Deutscher Sozialgerichtstag am 17./18.11.2016 in Potsdam – Teil 1 unter www.reha-recht.de erschienen.
[3] Vgl. hierzu: Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (NAP 2.0), S. 34 ff., abrufbar unter http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/inklusion-nationaler-aktionsplan-2.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Stand: 30.11.2016); sowie Bundesagentur für Arbeit. 2014. Kurzinformation: Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Der Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen. Veröffentlichung der Arbeitsmarktberichterstattung, Nürnberg November 2014, abrufbar unter https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen/Kurzinfo-Die-Arbeitsmarktsituation-schwerbehinderter-Menschen-Nov-2014.pdf; auch Kardorff/Ohlbrecht: Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen – Ergebnisse einer Expertise im Auftrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Forum D, Beitrag D16-2015 unter www.reha-recht.de, 20.05.2015.
[4] Vgl. §§ 219–227 SGB IX; Schreiner, Wirkungen der Teilhabe am Arbeitsleben in Werkstätten für behinderte Menschen – Perspektiven von Beschäftigten, Beitrag D50-2016.
[5] Vgl. § 61 SGB IX-E. Nebe/Schimank, Das Budget für Arbeit im Bundesteilhabegesetz; Teil 1: Darstellung der Entwicklung und kritische Betrachtung bis zur Befassung im Bundesrat Beitrag D47-2016; Schimank, Das Budget für Arbeit im Bundesteilhabegesetz – Teil 2: Öffentliche Anhörung und abschließende Beratung im Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie 2. und 3. Lesung im Bundestag, Beitrag D60-2016 unter www.reha-recht.de; 09.12.2016.
[6] Zur Assistierten Ausbildung: Schimank: Assistierte Ausbildung für junge Menschen mit Behinderung – Teil 1 – Ausgangspunkt und rechtliche Grundlagen; Beitrag D25-2016 unter www.reha-recht.de; 13.07.2016 und Schimank: Assistierte Ausbildung für junge Menschen mit Behinderung – Teil 2 – Aufbau und Ausgestaltung; Beitrag D26-2016 unter www.reha-recht.de; 15.07.2016.
[7] BR-Drs. 428/16 (Beschluss), S. 21 f.
[8] Siehe S. 12 der Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vom 23.09.2016 zum Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG), BR-Drs. 428/16 (Beschluss), vom 12.10.2016.
[9] BSG Urteil vom 12.12.2013 Az. B 8 SO 18/12 R.
[10] Vgl. § 29 SGB IX-E, BT-Drs. 18/9522.
[11] Vgl. BT-Drs: 18/9522 Seite 5 und 328. Rickli/Wiegmann, Begründung einer einkommens- und vermögensunabhängigen Eingliederungshilfe anhand der UN-BRK (2013).
[12] Diese Regelung wird noch verändert und am 01.01.2023 in Kraft treten. Frehe, Kritik am Behinderungsbegriff des Bundesteilhabegesetzentwurfes; Beitrag D27-2016 unter www.reha-recht.de; 18.07.2016.
[13] Dementgegen verbleibt es in der Beschlussfassung des BTHG vom 16.12.2016 (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/105/1810523.pdf, S. 9) bei der Formulierung aus dem Gesetzesentwurf vom 22.06.2016 (abrufbar unter http://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/BTHG/Gesetzentwurf_BTHG.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 24).
[14] Nach dem am 16.12.2016 beschlossenen Gesetzesentwurf BTHG verbleibt es bei einem „Budget für Arbeit“, dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/105/1810523.pdf, S.24.
[15] Derartige Änderungen an der Ausgestaltung des persönlichen Budgets ergeben sich jedoch aus der Beschlussfassung des BTHG nicht, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/105/1810523.pdf, S. 14.
[16] Nähere Informationen siehe http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710-versorgundsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile .
[17] Vgl. Arbeitsstättenverordnung vom 12. August 2004 (BGBl. I S. 2179), zuletzt geändert durch BGBl. I S. 2681. Siehe auch Düwell, Barrierefreie Arbeitsstätten – Änderung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV 2015) Beitrag B3-2015; 25.03.2015 und Nebe, Anmerkung zum Diskussionsbeitrag B3-2015 „Barrierefreie Arbeitsstätten – Änderung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV 2015)“ von Franz Josef Düwell; Beitrag B4-2015 unter www.reha-recht.de; 27.03.2015.
[18] Vgl. bisher §§ 85–92 SGB IX; §§ 168–175 SGB IX-E, BT-Drs. 18/9522. Beitrag zu § 85 SGB IX Gagel, Bedeutung des § 85 SGB IX und das Verhältnis zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz; Diskussionsforum B, Diskussionsbeitrag 6/2003 unter www.reha-recht.de.
[19] Vgl. § 171 SGB IX-E, BT-Drs. 18/9522.
[20] ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health.
Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), Ausgleichsabgabe, Wunsch- und Wahlrecht, Arbeitslosigkeit, Tagungsberichte, Inklusion, Arbeitsmarkt, Bundesteilhabegesetz (BTHG), UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Eingliederungshilfe, Inklusive Bildung
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