I. Zugang zu Geldleistungen und betriebliche Wiedereingliederung nach Arbeitsunfall: Quebec und Ontario im Vergleich
Tabelle 1 gibt einen Überblick über Rechte und Pflichten im Rahmen der Arbeitnehmerentschädigung der Provinzen Quebec und Ontario. Wendet man diese Rechte und Pflichten auf die Fallstudien[1] an, zeigt sich, dass in Ontario alle außer Stephanie theoretisch Versicherungsschutz genießen. In Ontario wurde erst 2017 Versicherungsdeckung wegen chronischem Stress gewährt, obwohl bereits etliche Berufungsgerichte den Ausschluss für verfassungswidrig erklärt hatten[2]. Die in Ontario gewährten Leistungen sind durchgehend geringer als die in Quebec, da das Entgeltersatzleistungsniveau lediglich 85% des Nettoeinkommens beträgt. Es gibt keine Mindestleistung in Ontario, so dass Omar 85% seines zum Unfallzeitpunkt tatsächlich verdienten Entgelts erhält (s. Tabelle 3); langfristig kann eine Anpassung und Kürzung erfolgen. Dies würde auch die Ausgaben für seine Rehabilitation bestimmen. Da Mary zum Unfallzeitpunkt eine Studentin war, wird ihr Durchschnittseinkommen unter Heranziehung des Durchschnittseinkommens einer Marys voraussichtlichen Beruf ausübenden Person oder des Durchschnittseinkommens (unter Ausschluss der Landwirtschaft) des Jahres, in dem sich ihr Arbeitsunfall ereignet hat, neu berechnet (Workplace Safety and Insurance Board [WSIB], 2013). Diese Grundsätze gelten auch für die Festlegung ihres Rehabilitationsplans (Wiedereingliederungsplan), da vorteilhaftere Regelungen für Beschäftigte im Alter zwischen 15 und 24 Jahren Anwendung finden (WSIB, 2012). Daher wird Marys angenommenes Einkommenspotential ihr Einkommen zum Unfallzeitpunkt wahrscheinlich wesentlich überschreiten. Was Marc anbelangt, so würde er in Ontario, da seine Einkünfte den Höchstversicherungsbetrag nicht überschreiten, im Gegensatz zu Quebec nicht als Spitzenverdiener bestraft werden.
Im Gegensatz zu Quebec sind Arbeitgeber aller Beschäftigten, die unter den Anwendungsbereich des Arbeits- und Versicherungsschutzgesetz der Provinz Ontario (Workplace Safety and Insurance Act (WSIA)) fallen, zur Mitwirkung im Rahmen des Wiedereingliederungsprozesses verpflichtet und setzen sich andernfalls den in § 40 WSIA aufgeführten Sanktionen aus. Sie sind verpflichtet, angepasste Arbeit anzubieten.
Beschäftigte, die diese Arbeit aus von dem Träger der Arbeitnehmerentschädigung (Workplace Safety and Insurance Board, WSIB) nicht gebilligten Gründen verweigern, müssen mit Sanktionen und der Einstellung ihrer Leistungen rechnen. Auch die Meinung der betreuenden Mediziner zur Annehmbarkeit der geänderten Arbeit ist für den Träger der Arbeitnehmerentschädigung im Gegensatz zur Lage in Quebec nicht bindend (Lippel u. a., 2016). Trotz der in der Gesetzgebung vorgesehenen Sanktionen haben zwei Schlüsselinformanten mit umfangreicher Erfahrung in der Vertretung von Arbeitgebern bzw. Beschäftigten aus Ontario mitgeteilt, sie hätten noch nie einen Fall gesehen, in dem ein Arbeitgeber wegen unterbliebener Mitwirkung tatsächlich sanktioniert wurde. Allerdings geben die Regelungen zur Erfahrungstarifierung in Ontario den Arbeitgebern wirtschaftliche Anreize zur Bereitstellung von angepasster Arbeit (MacEachen u. a., 2012). In Ontario haben die Unternehmen immer eine Verpflichtung zur Unterbringung von Arbeitnehmern mit Behinderungen gehabt, anders als in Quebec, wo diese Verpflichtung erst seit Februar 2018 besteht. Obwohl die Unternehmer in Ontario das Recht haben, Entschädigungsansprüche der Beschäftigten zu bestreiten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies auch tun, wesentlich geringer als bei ihren Pendants in Quebec (Lippel u. a., 2016)
Tabelle 1 Bestimmung von Leistungen (in CAN$) nach Arbeitsunfall für Gering- und Spitzenverdiener
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Quebec
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Ontario
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Omar
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Vermutete Bruttoeinkünfte 2017 Single, keine Angehörigen
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$23.463,20 (Quebec Mindestleistung= Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn, siehe a)
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$6.240 (Ontario verfügt nicht über eine Mindestleistung. Der Anspruch besteht in Höhe des effektiv bezogenen Entgelts)
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Leistungen
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90% Netto = $17.878,86 (siehe b)
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100% Netto = $6.002,36 (siehe c)
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„geeignete Beschäftigung“: In Quebec kann für ein Vollzeitjob im Sitzen mindestens der Mindestlohn gezahlt werden = vermutetes Einkommen
In Ontario kann für einen Voll- oder Teilzeitjob (siehe d) im Sitzen mindestens der Mindestlohn gezahlt werden = vermutetes Einkommen
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$23.000,00 Brutto oder $19.539,60 Netto (siehe e)
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Mindestlohn von $11,60/Std.
Wird vermutet, dass er in der Lage ist, 15 Wochenstunden zu arbeiten, wird vermutet, dass er ein Einkommen von $9.048,00 hat
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Entgeltausfall infolge eines Unfalls nach maximaler gesundheitlicher Genesung, wenn eine geeignete Beschäftigung ohne Umschulung möglich ist
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$0. Es wird vermutet, dass er in der Lage ist, in einer gering qualifizierten Vollzeitbeschäftigung um Mindestlohn zu arbeiten, so dass 100% seines Nettoeinkommens auf seine Leistungen angerechnet wird.
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$0. Es wird vermutet, dass er, je nach den persönlichen Umständen zum Unfallzeitpunkt, in der Lage ist, in einer gering qualifizierten Voll- oder Teilzeitbeschäftigung zum Mindestlohn zu arbeiten.
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Leistungen während der Suche nach geeigneter Arbeit
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$17.878,86 für die Dauer von 12 Monaten während der Arbeitssuche nach der Rehabilitation
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Keine gewährleistet
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Fortsetzung Tabelle 1 (Marc):
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Quebec
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Ontario
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Marc
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Vermutetes Bruttoeinkommen 2017, Single, keine Angehörigen
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$72.500 (Quebec verfügt über eine niedrigere Entgeltdeckelung als Ontario)
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$80.000,00
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Gesamtleistungen
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$45.182,01 (90% netto gemäß Verordnung, siehe b)
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$80.000 brutto = $60.166 NAE, 85% NAE = $51.141 (siehe f)
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„geeignete Beschäftigung“:
Vollzeitjob im Sitzen, unter Anwendung von Kompetenzen = vermutetes Nettoeinkommen
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$44.897,97 (siehe e)
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$45.000 NAE
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Entgeltausfall infolge eines Unfalls nach vollständiger gesundheitlicher Genesung, wenn eine geeignete Beschäftigung ohne Umschulung möglich ist.
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$284,04 (siehe g)
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85% der Differenz zwischen NAE vorher (60.166) und nachher ($45.000)
85% von $15.166 = $12.891 (siehe f)
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Während der Suche nach geeigneter Arbeit zu zahlende Leistungen
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$45.182,01 für die 12-monatige Arbeitssuche nach geeigneter Arbeit im Anschluss an die Rehabilitation (siehe g)
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Keine gewährleistet
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Anmerkungen:
Omars Durchschnittseinkommen vor dem Unfall betrug $120/Woche = $6.240/Jahr. Marc Durchschnittseinkommen vor dem Unfall betrug $1.583/Woche = $80.000/Jahr.
a: Quebec, Industrial Accidents and Occupational Disease Act (Arbeitsunfall- und Berufskrankheitsgesetz der Provinz Quebec), CQLR c. A-3001, §§ 6 und 65, http://www.csst.qc.ca/employeurs/accidents-maladies-lesionsfindemnites/Pages/remplacement-revenu.aspx.
b: (Regulation respecting the table of income replacement indemnities payable under the Act respecting industrial accidents and occupational diseases and of indemnities payable under the Worker’s Compensation Act 2017 (Verordnung über die Tabelle zur Einkommensersatzentschädigungsleistungen gemäß Gesetz über Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie über Entschädigungszahlungen gem. Arbeitnehmerentschädigungsgesetz 2017), CQLR c. A-3001, r. 15 (2017).
c: In Ausnahmefällen gewährt Ontario Entgeltersatz für bis zu 100% des Nettodurchschnittseinkommens für Personen mit einem geringeren Jahreseinkommen als $15.312,51 im Jahr 2017. Quellen: Workplace Safety and Insurance Act, 1997 (Arbeitsschutz- und Versicherungsgesetz, 1997), § 43(2); Workplace Safety and Insurance Board (2013).
d: Workplace Safety and Insurance Board (2012).
e: Regulation respecting the table of gross annual income from suitable employment for 2017 (Verordnung über die Tabelle zum Bruttoeinkommen aus angemessener Beschäftigung für das Jahr 2017), CQLR c. A-3001, r.16 (2017), www.canlii.org/en/qc/laws/regu/cqlr-c-a-3.001-r-16-2017/latest/cqlr-c-a-3.001-r-16-017.html; Quebec, Industrial Accidents and Occupational Disease Act (Arbeitsunfall- und Berufskrankheitsgesetz der Provinz Quebec), CQLR c. A-3001, § 50.
f: Workplace Safety and Insurance Board (2011); Rechner der Arbeitnehmerentschädigung zur Ermittlung des Nettodurchschnittseinkommens (NAE).
g: Quebec, Industrial Accidents and Occupational Disease Act (Arbeitsunfall- und Berufskrankheitsgesetz der Provinz Quebec), CQLR c. A-3001, § 49.
II. Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass der Zugang zu Leistungen zur Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung (work disability prevention[3]) sowohl von dem Grund der Verletzung oder der Erkrankung als auch der geografischen Lage abhängt. Zunächst werden die Systeme in Quebec besprochen, dann rückt der Vergleich der gesetzlichen Unfallversicherung in Quebec und Ontario in den Fokus.
Der Grund der Arbeitsbeeinträchtigung ist ein entscheidender Gesichtspunkt bei der Bestimmung der Leistungen zur beruflichen Wiedereingliederung. In Quebec, wo drei Entschädigungssysteme Leistungen auf der Grundlage der früheren Einkünfte gewähren, gestaltet sich der Eingliederungsprozess in jedem System sehr unterschiedlich. Arbeitgeber sind bei der Entschädigung wegen KfZ-Unfällen oder wegen Verbrechen nicht beteiligt und die Leistungsträger haben im Rahmen dieser Systeme keine Handhabe, den Arbeitgeber zur Weiterbeschäftigung des Antragstellers zu zwingen. Und dennoch bleibt die Beteiligung der Arbeitgeber und anderer Akteure des Wiedereingliederungsprozesses der Schlüssel zu einer erfolgreichen Wiedereingliederung (Loisel & Côté, 2013).
Obwohl die Pflicht zur Unterbringung von Beschäftigten, die außerhalb der Arbeit verletzt wurden, im Rahmen der Menschenrechtsgesetzgebung in Quebec Anwendung findet, handelt es sich um ein System, das auf Beschwerde basiert (complaint-based system), und dessen Anwendung nicht in den Kompetenzbereich der Träger, die Versicherungen bei Arbeitsbeeinträchtigungen verwalten, fällt. Andererseits wurde bis zur Entscheidung des Supreme Court (Obersten Gerichtshofs) im Falle Caron im Februar 2018 von Seiten des Trägers der Arbeitnehmerentschädigung (CNESST[4]) nicht auf die Erfüllung der Pflicht des Arbeitgebers bestanden, Beschäftigten bis zur Zumutbarkeitsgrenze behinderungsgerechte Arbeit bereitzustellen. Der Arbeitgeber hat im Falle eines Arbeitnehmerentschädigungsfalles einen enormen Anreiz, den Beschäftigten schnellstmöglich angepasste Arbeit anzubieten, da Erfahrungstarifierungsregeln die Prämien insbesondere großer Arbeitgeber bis zu dem Vierfachen der Kosten für die Entschädigung des Gesundheitsschadens hochtreiben können (Lafond, Lussier, & Mercier, 2008). Allerdings war der Arbeitgeber im Rahmen des in Quebec bestehenden Arbeitnehmerentschädigungssystems bis 2018 gesetzlich nicht verpflichtet, angepasste Arbeit anzubieten oder geeignete Beschäftigung zu schaffen.
In allen drei Systemen in Quebec werden Beschäftigten wirtschaftlicher Anreize zur Wiederaufnahme der Tätigkeit gesetzt. Im Rahmen der Arbeitnehmerentschädigung führt die Weigerung eine vom Arzt des Beschäftigten gebilligte angepasste Arbeit aufzunehmen zur Einstellung der Leistungen. Die infolge eines Arbeitsunfalls Geschädigten haben Anspruch auf Rehabilitationsleistungen, falls sie funktionale Einschränkungen oder Beeinträchtigungen erlitten haben, die sie an der Wiederaufnahme der zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls ausgeführten Tätigkeit hindern. Der Zugang zu solchen Leistungen für Opfer von KfZ-Unfällen oder Verbrechen liegt im Ermessen des Leistungsträgers. Anreize zur Wiederaufnahme der Tätigkeit werden im Zusammenhang mit dem im Rahmen des Rehabilitationsprogramms für Geschädigte von Arbeitsunfällen und nach drei Jahren des Leistungsbezugs auch für Opfer von KfZ-Unfällen durchgeführten Verfahrens zur Ermittlung der geeigneten Beschäftigung[5] gesehen. Die Ermittlung der geeigneten Beschäftigung ist besonders unfair gegenüber Personen wie Omar, die zum Unfallzeitpunkt weniger verdienen als es ihrem tatsächliche Leistungspotential entsprechen würde. In Quebec würdigt die KfZ-Unfallversicherung, dass junge Beschäftigte bei einem Schulunfall ihr wahres Einkünftepotential noch nicht erreicht haben und geht davon aus, dass sie das Durchschnittseinkommen (mit Ausnahme der Landwirtschaft) erreicht hätten. Dies beeinflusst die ihnen gewährten Geldleistungen sowie die Qualität der durchgeführten Rehabilitation positiv, da es ihr Ziel ist, sie zum Erhalt einer Beschäftigung zum Durchschnittslohn, nicht zum Mindestlohn, zu befähigen. Allerdings fehlen derartige Bestimmungen für aus anderen als Altersgründen unterbeschäftigte Personen wie z. B. Neuankömmlinge in Kanada, die wegen fehlender Sprachkenntnisse, fehlender Erfahrungen in Kanada oder einfach aufgrund von Diskriminierung lediglich über einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt verfügen (Côté, 2014; Dubé & Gravel, 2014; Premji & Shakya, 2017).
Das mit den Rehabilitationsprogrammen der Unfallversicherung in Zusammenhang stehende Ermittlungsverfahren wurde in einem kürzlich veröffentlichten Bericht über die Überprüfung des Arbeitnehmerentschädigungssystems in Alberta kritisiert. Das Prüfungsgremium erklärte hierzu:
Ebenso wichtig ist die Notwendigkeit, den Prozess umzukehren, so dass die Ermittlung der Einkünfte ein Nebenprodukt des [Rehabilitations-]Prozesses und nicht ein Motor desselben ist. Im Moment scheint das Ermittlungsverfahren auf der Prämisse zu beruhen, für den Beschäftigten ein bestimmtes Einkommensniveau anzustreben, um anschließend ein Stellenprofil ausfindig zu machen, das dieses Niveau erreicht. Stattdessen sollte das Ermittlungsverfahren auf der Identifizierung eines realistischerweise auf dem Arbeitsmarkt von Alberta vorhandenen Berufes beruhen, für den der Beschäftigte nach einer Bewertung seiner Ausbildung, Erfahrung und Fähigkeiten geeignet wäre. Sobald ein geeigneter Beruf gefunden wurde, sollte das realistischerweise in diesem Beruf zu erzielende Einkommen bewertet und zur Anpassung der Leistungen des Beschäftigten verwendet werden.
(Prüfungsgremium der Arbeitnehmerentschädigung Alberta (Alberta Workers‘ Compensation Board Review Panel), 2017, S. 77)
Diese Kritik kann in vieler Hinsicht auf die Praxis in Quebec und Ontario übertragen werden, wobei das Ziel der angenommenen Fähigkeit zur Einkünfteerzielung das greifbarere Ziel der Wiedereingliederung des Beschäftigten in das Arbeitsleben eher in den Schatten zu stellen scheint.
Obwohl das Beurteilungsverfahren nicht auf Verbrechensopfer angewendet wird, bedeutet dies nicht, dass Verbrechensopfer keinen Anreiz zur Wiederaufnahme der Tätigkeit hätten. Sie beziehen eine von etwaigen späteren Einkünften unberührte Rente, was – Arbeitsfähigkeit vorausgesetzt – die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit als eine attraktive Option erscheinen lässt. Gleiches gilt für diejenigen Opfer eines Arbeitsunfalls, die eine Art Grundrente (Residual Pension) wegen eines weiterhin bestehenden, ihrer erlittenen Verletzung zuzurechnenden Entgeltausfalls beziehen[6]. Daher können sie bis zur Höhe der Voreinkünfte ohne Einfluss auf ihren Entgeltersatz hinzuverdienen. Dieser Zuckerbrotansatz ermutigt die Leistungsempfänger, eine Beschäftigung zur Aufstockung ihrer Rente zu suchen. Dies steht im Gegensatz zum Peitschenansatz, bei dem Beschäftigte bestraft werden, wenn sie angepasste Arbeit nicht annehmen. In Quebec werden die Arbeitgeber weniger dazu angehalten, Opfer von Autounfällen oder Straftaten wiedereinzustellen als Beschäftigte mit erlittenen Arbeitsunfällen. Die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit bleibt jedoch in allen drei Systemen eine vorrangige Aufgabe. Dies ist nicht unbedingt der Fall in den anderen Provinzen ohne öffentliches Entgeltersatzsystem für Opfer von Verbrechen oder KfZ-Unfällen.
Nun vergleichen wir die Unfallversicherungssysteme von Quebec und Ontario. Beschäftigte mit psychischen Gesundheitsproblemen, insbesondere im Zusammenhang mit chronischem Stress, haben in Kanada jahrzehntelang die Erfahrung ungleichen Zugangs zur Versicherungsdeckung gemacht (Lippel & Sikka, 2010), wobei zwar Quebec, aber (vor 2018) nicht Ontario Versicherungsdeckung gewährte. Junge Beschäftigte, deren Entgelt unter dem Mindestlohn liegt, werden ihre Leistungsfähigkeit in Ontario, aber nicht in Quebec, neu beurteilen lassen. Quebec ist jedoch die einzige Provinz, die einen Entgeltersatz auf der Grundlage des Mindestlohns bei Vollzeitbeschäftigung unabhängig von den (gearbeiteten) Stunden oder dem (erzielten) Einkommen des Beschäftigten zum Zeitpunkt der Verletzung gewährleistet. Diese Garantie kommt nicht nur jungen Beschäftigten zugute, sondern auch prekär Beschäftigten wie Omar, die bis zur Erreichung der Fähigkeit der Einkünfteerzielung im Rahmen einer 40-Stunden-Woche zum Mindestlohn Anspruch auf Leistungen haben. In Ontario verliert Omar seine Entgeltersatzleistungen, sobald er als in der Lage gilt CAN$ 120[7] pro Woche zu verdienen. Daher hat der Träger der Arbeitnehmerentschädigung WSIB einen geringen Anreiz, ihn weiter zu fördern, und der Arbeitgeber einen geringen Anreiz, ihn wiedereinzustellen. Seine Entschädigungsleistungen kosten nicht viel und seine erfahrungstarifierten Arbeitgeberversicherungsprämien werden wahrscheinlich nicht ansteigen, was die Wahrscheinlichkeit senkt, dass Omars Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Anreiz hat, ihn weiter zu beschäftigen. Der Peitschen-Ansatz wird in Ontario verwendet um Arbeitgeber und Beschäftigte dazu anzuhalten, im Rahmen des Wiedereingliederungsprozesses zusammenzuarbeiten. In vielen Studien wurde festgestellt, dass der Peitschen-Ansatz zu unangemessenen Praktiken, wie der Zuweisung von erniedrigenden oder bedeutungslosen Aufgaben bei der Wiederaufnahme der der Tätigkeit führt, die gerade so lange beibehalten werden, um Sanktionen durch Entschädigungssysteme zu vermeiden (Eakin, 2005; MacEachen, Kosny, Ferrier, & Chambers, 2010; MacEachen u. a., 2011). Durch Erfahrungstarifierung geschaffene Anreize können zu einer ähnlich missbräuchlichen Wiedereingliederungspraxis führen (Lippel, 2008a) und können Rechtsstreitigkeiten befördern, welche zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen Wiederaufnahme der Tätigkeit führen können. Es wurde festgestellt, dass der Eingliederungsprozess (disability-management process) selbst zu entfremdenden Erfahrungen führt, wenn die Träger der Entschädigungsleistung durch Zwangsanreize die Mitwirkung der Arbeitgeber erreichen wollen. Beschäftigten fühlen sich wie Objekte mit Preisschildern und nicht wie aktive Akteure in dem Prozess (Lippel, 2007; Robers-Yates, 2003).
Das Systemdesign bestimmt die Beteiligten am Tisch. Wenn Arbeitgeber nicht beteiligt sind, kann dies den strittigen Charakter des Prozesses verringern, da es keinen wirtschaftlichen Anreiz für einen Arbeitgeber gibt, einen Anspruch zu bestreiten. Werden von der Arbeitnehmerentschädigung andererseits weder Zuckerbrot noch Peitsche gegen den Arbeitgeber eingesetzt, gibt es in Ermangelung von Schutzmaßnahmen in Tarifverträgen oder Arbeitsstandards keinen Grund für den Arbeitgeber, sich aktiv am Wiedereingliederungsprozess zu beteiligen. Diese mangelnde Beteiligung führt zu einer verringerten Effektivität der Rehabilitationsinterventionen (Loisel & Cöte, 2013).
Ein letzter Punkt bezieht sich auf die Stigmatisierung von gesundheitsgeschädigten Mitarbeitern im Rahmen des Wiedereingliederungsprozesses. Dies ist in der Literatur gut dokumentiert (Francis, Cameron, Kelloway, Catano, & Day, 2014) und wird von manchen mit Zwangsmechanismen in Verbindung gebracht, die Arbeitgeber dazu zwingen, Mitarbeiter an den Arbeitsplatz zurückzuholen, bevor sie überhaupt vollständig in der Lage sind, die Arbeit zu verrichten. Dies kann zu Ressentiments und manchmal zu einer erhöhten Belastung der Kollegen führen. Mitarbeitern bei ihrer Rückkehr sinnlose Aufgaben zuzuweisen, kann auch zu einer Stigmatisierung durch die anderen Mitarbeiter führen.
III. Fazit
Die Landschaft der Regelungen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ist in Kanada offensichtlich stark fragmentiert, sowohl aufgrund der Dichotomie von Rechtsordnungen des Bundes und der Provinzen, die die Existenz 14 verschiedener Arbeitnehmerentschädigungssysteme zulassen, als auch aufgrund der politischen Ökonomie der Kompensation. Die Entschädigungs- sowie Rehabilitationsleistungen variieren in Kanada je nach Ursache der Arbeitsbeeinträchtigung. Diejenigen, die durch Verbrechen, Kraftfahrzeuge oder Arbeit Gesundheitsschäden erleiden, genießen zumindest in einigen Provinzen mehr Schutz als diejenigen, die von Geburt an oder durch Krankheit arbeitsbeeinträchtigt sind. Die Industrie akzeptiert ihre Rolle als Finanzier der Arbeitnehmerentschädigung, weil das System die Arbeitgeber vor der wirtschaftlichen Haftung für ihre Mitarbeiter schützt, indem diese die Arbeitgeber unabhängig von dem Grad ihrer Fahrlässigkeit nicht verklagen können. Allerdings ist vor dem Hintergrund eines Diskurses, in dem Deregulierung und Verringerung staatlicher Eingriffe dominante Themen sind, das Bedürfnis nach einem universellen Arbeitsbeeinträchtigungssystem in Kanada, das durch Arbeitgeber oder alle Steuerzahler finanziert wird, gering. Es besteht eine gewisse Ironie darin, dass die Kanadier so stolz auf ihr universelles Gesundheitssystem aus den 1960er und 1970er Jahren sind, sich aber weniger veranlasst sehen, ein universelles System bezüglich Arbeitsbeeinträchtigung zu unterhalten. Im Gegensatz dazu sind die ansonsten neoliberaler Politik nicht abgeneigten Neuseeländer, dennoch besonders stolz auf ihr in den 1970er Jahren eingeführtes universelles Unfallentschädigungssystem (s. Duncan 2019). Dies lässt darauf schließen, dass die Vertrautheit mit einem guten System dessen Überleben auch in neoliberalen Zeiten ermöglicht, in denen soziale Innovationen nicht mehr ohne einen überzeugenden Geschäftsplan unterhalten und von privaten Versicherern sowie Arbeitgebern bekämpft werden.
In einer idealen Welt würde ein universelles Arbeitsbeeinträchtigungssystem allen Menschen mit Behinderungen, unabhängig von deren Ursache, Unterstützung gewähren und alle Arbeitgeber, Gesundheitsdienstleister, Gewerkschaften, Beschäftigte und Versicherungssysteme in einen fördernden und positiven Wiedereingliederungsprozess einbinden, bei gleichzeitiger Gewährung von Leistungen bei Arbeitsbeeinträchtigung zur Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards für Menschen mit Behinderung und zur Vermeidung von Armut aufgrund von Arbeitsbeeinträchtigung. An anderer Stelle haben wir ein solches System beschrieben (Lippel, 2012); allerdings ist es in dem derzeitigen politischen Klima in Kanada unwahrscheinlich, dass der politische Wille zur Gewährung universellen Zugangs zu einem System vorhanden ist, das an Einkünfte anknüpft, die vor der Beeinträchtigung erzielt wurden und rehabilitative Unterstützung für Menschen mit Behinderungen oder garantierte jährliche Einkommen an Menschen, die noch nie gearbeitet haben bietet. Es besteht die Gefahr, dass der Harmonisierungsprozess die Qualität des besten Systems wie die Arbeitnehmerentschädigung der Provinz Quebec absenkt und minimale Unterstützung an alle gewährt. Solch ein Vorschlag könnte die Gemeinschaften der Menschen mit Behinderung weiter entzweien, es sei denn, dass diejenigen mit Anspruch auf verschuldensunabhängige Entschädigung (die das Klagerecht der Opfer ersetzt) ihre Deckung beibehalten (Blais, Gardner, & Lareau, 2005).
Die Entschädigungssysteme sollten so konzipiert sein, dass sie organisierte institutionelle Unterstützung und wirtschaftliche Anreize zur Förderung einer erfolgreichen und nachhaltigen Wiedereingliederung in das Arbeitsleben bieten. In vielen Fällen erreichen sie diese Ziele auch und man sollte ihnen applaudieren. Die Art und Weise, wie jedes System im Hinblick auf die Realitäten der verschiedenen Untergruppen von Menschen mit Behinderung gestaltet ist sowie die Art der Praktiken, die durch den Aufbau jedes Systems gefördert werden, sind Schlüsselfaktoren bei der Bestimmung der Auswirkungen des Systems auf die Geschädigten und diejenigen, die sie beschäftigen. Versicherungssysteme bei Arbeitsbeeinträchtigung sind Echokammern für strukturelle Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass große Teile der Beschäftigten überproportional von Gesundheitsschäden und Arbeitsbeeinträchtigung betroffen sind, insbesondere junge, zu ethnischen Minderheiten gehörende Menschen, neue nach Kanada eingewanderte Migranten, prekär Beschäftigte und andere, die Einkommensungerechtigkeiten erfahren, wie sie in überwiegend weiblichen Berufen im Dienstleistungssektor bestehen (Cox & Lippel, 2008).
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Beitrag von Katherine Lippel, Professorin an der University of Ottawa
Fußnoten
Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work), Entschädigung, berufliche Wiedereingliederung, Länder-Vergleichsstudie, Verminderte Erwerbsfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit
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