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Die Autorin fasst den Verlauf der interaktiven Online-Diskussion "Das neue SGB IX in der Praxis – Die Ermittlung des Rehabilitations- und Teilhabebedarfs drei Jahre nach der Reform" im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (FMA) zusammen. Vom 20. Januar bis 12. Februar 2021 diskutierten dort Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige, Reha-Fachleute sowie Interessierte öffentlich mit Expertinnen und Experten aus der Praxis der Rehabilitation, dem Sozialrecht und der Wissenschaft aktuelle Fragen der Bedarfsermittlung. Im Kontext der Corona-Pandemie kamen dabei auch Aspekte der Digitalisierung zur Sprache. Die Zusammenfassung gibt Einblick in Schwerpunkte der Diskussion und veranschaulicht diese anhand ausgewählter Zitate.
(Zitiervorschlag: Hahn: Das neue SGB IX in der Praxis – Die Ermittlung des Rehabilitations- und Teilhabebedarfs drei Jahre nach der Reform – Zusammenfassung der Diskussion im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (20. Januar bis 12. Februar 2021); Beitrag D19-2021 unter www.reha-recht.de; 28.04.2021)
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat die Gesamt- und Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe (EGH) mit § 117–122 SGB IX i. V. m. § 13 SGB IX neu geregelt. Die einheitliche, personenzentrierte und funktionsbezogene Ermittlung des individuellen Rehabilitations- und Teilhabebedarfs soll durch ein Instrument erfolgen, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) orientiert. Dazu erarbeiten die Träger der Eingliederungshilfe bzw. die Bundesländer seit Inkrafttreten der Änderungen am 1. Januar 2018 neue Bedarfsermittlungsinstrumente oder passen bestehende Instrumente an und implementieren diese in die Praxis.
Drei Jahre nach der Reform gab eine Online-Diskussion der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR) und ihrer wissenschaftlichen Kooperationspartner Raum, den Stand der Umsetzung der Neuregelungen durch des BTHG zu beleuchten. Dabei standen die Erfahrungen der Menschen mit Behinderungen, der Akteurinnen und Akteure in der Rehabilitation sowie die kritische Einordnung der die Reform begleitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Mittelpunkt. Die federführende wissenschaftliche Begleitung der Diskussion lag bei Prof. Dr. Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin) und Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel). Alle Interessierten waren eingeladen, sich an dem öffentlichen Austausch zu beteiligen.
Die Online-Diskussion vom 20. Januar bis zum 12. Februar 2021 wurde fachlich begleitet von:
Im Folgenden sollen Schwerpunkte der Diskussion, Hinweise auf Handlungsbedarfe und Lösungsansätze aus der Praxis anhand ausgewählter Zitate aus dem Diskussions-verlauf zusammenfassend dargestellt werden. Der ausführliche Verlauf ist im Online-Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ dauerhaft nachlesbar.[1]
Die Ermittlung des Rehabilitations- und Teilhabebedarfs reicht von der Bedarfserkennung und Beratung über die Ermittlung des konkreten individuellen Bedarfs mithilfe ICF-orientierter Bedarfsermittlungsinstrumente bis hin zur ggf. trägerübergreifenden Feststellung von Leistungen zur Teilhabe. Das Gesamtplanverfahren umfasst weitere Phasen zur Durchführung von Leistungen, die im Rahmen der Diskussion jedoch allenfalls peripher tangiert werden. Nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX sind die Leistungsberechtigten bei jedem Verfahrensschritt zu beteiligen. Sie sollen die für sie erforderlichen Leistungen zur Teilhabe so früh wie möglich erhalten.
Bei der Bedarfserkennung ist eine gute Beratung entscheidend. Nicht immer kennen Leistungsberechtigte ihre Rechte und benötigen ggf. Hilfe bei der Beantragung. Eine wichtige Rolle in der Beratung spielt neben den Ansprechstellen der Rehabilitationsträger die „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB), für die mit dem BTHG in § 32 SGB IX die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen wurden.
„Die Bedarfserkennung gab es bis 2018 strukturell überhaupt nicht. Weder die KinderärztInnen noch die Pflegeversicherungen noch die Förderschulen oder die inklusiven Kindergärten noch die Reha-BeraterInnen noch die TherapeutInnen noch das Gesundheitsamt noch die Sozialpädiatrischen Zentren noch irgendjemand wies uns je auf Teilhabe- oder Rehabilitationsleistungen hin. Bis 2018. Damals lernte ich als Elternratsvorsitzende der hiesigen Förderschule die beiden kompetenten Damen der neu gegründeten EUTB kennen, ein Lichtblick sondergleichen! Seither erhalten wir dort Rat und Tat (in Form von Broschüren, Vernetzung, Informationen online).“
(Dr. Corinna M. Dartenne)
Die Stellen der EUTB sollen die leistungsrechtliche Beratung der Rehabilitationsträger bundesweit und kostenfrei ergänzen und insbesondere im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen notwendige Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungshilfen geben. Das Konzept: Menschen mit Behinderungen beraten andere Menschen mit Behinderungen und/oder ihre Angehörigen.
„Die EUTB ermittelt zwar keine Bedarfe i.S.d. § 13 SGB IX, die beratenden KollegInnen können aber aus eigener Erfahrung und fachlicher Expertise heraus die Betroffenen dabei unterstützen, wie und wo Anträge am besten gestellt werden können.“
(Wiebke Denner)
Es sei notwendig, so eine Diskussionsteilnehmerin, stärker auf die EUTB-Stellen aufmerksam zu machen, etwa über die Schulbehörden bzw. Förderschulen, um etwa auch Eltern behinderter Kinder abzuholen.
Die Bedarfsermittlung selbst wurde von den Beteiligten besonders stark diskutiert. Sie obliegt den Rehabilitationsträgern und hat alle relevanten Leistungsgruppen einzubeziehen:
„Eine Bedarfsermittlung muss den Bedarf bei allen in Frage kommenden Leistungsträgern in allen in Frage kommenden Leistungsgruppen ermitteln und dabei auch die der Krankenbehandlung zuzuordnenden Bedarfe erfassen (§§ 12, 13 Abs. 2, 43 SGB IX). Die Bedarfsermittlung ist nicht Aufgabe der EUTB, sondern des leistenden Rehabilitationsträgers. Kommen Leistungen mehrerer Leistungsgruppen oder Rehabilitationsträger in Betracht, ist ein Teilhabeplan zu erstellen (§ 19 SGB IX).“
(Prof. Dr. Felix Welti)
Der leistende Reha-Träger kann ein Gutachten bei einem Sachverständigen in Auftrag geben, wenn dies für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erforderlich ist (§ 17 SGB IX). Im hier beschriebenen – nicht repräsentativen – Austausch äußerten sich zumeist Menschen mit Behinderungen oder deren Angehörige kritisch zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Gutachten und deren Bewertung im Rahmen der Bedarfsermittlung. Bei der Lesart eines Gutachtens komme es auch darauf an, den Auftrag an den Sachverständigen genau zu beachten, um die darin enthaltenen Hinweise entsprechend einordnen zu können, so Thomas Schmitt-Schäfer, der als Unternehmer die individuelle Bedarfsermittlung als externe Leistung vorhält. Ein Gutachten könne immer nur ein Teilaspekt in der Bedarfsermittlung sein, bekräftigte Werner53. Zudem definiert jeder Träger die „Geeignetheit“ von Sachverständigen nach internen Grundsätzen, was in Bezug auf psychische Beeinträchtigungen kontrovers diskutiert wurde.
„Geeignet ist nur der Sachverständige, der für die im Rahmen der Bedarfsermittlung zu begutachtenden Fragen über die notwendige Fachkunde und eine hinreichende persönliche Eignung und Erfahrung verfügt. Erfüllt der beauftragte Sachverständige diese Eignungskriterien nicht, kann das dazu führen, dass die Bedarfsfeststellung iSd § 13 Abs. 2 SGB IX im Ergebnis als nicht rechtmäßig durchgeführt angesehen werden muss. Ein auf einem Gutachten eines nicht geeigneten Sachverständigen basierender Verwaltungsakt kann auf dem Rechtsweg (Widerspruch, Klage) angegriffen werden.“
(Prof. Dr. Harry Fuchs)
Die Rehabilitationsträger seien an den Inhalt eines Gutachtens nicht gebunden, erläuterte Prof. Dr. Harry Fuchs weiter. Das Gutachten diene ausschließlich der Sachverhaltsklärung und habe rein empfehlenden Charakter. Insbesondere vonseiten der Expertinnen und Experten wurde daran erinnert, dass Teilhabeeinschränkungen das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen gesundheitlichen Schädigungen und Kontextfaktoren sein können, es also im Sinne der ICF nicht mehr allein um medizinische Diagnosen gehe, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Inhalten der ICF sei dabei unvermeidlich, so ein Teilnehmer:
„Ein Riesenfortschritt im Sinne der ICF ist die Aufnahme der "9 Lebensbereiche" aus der Komponente "Aktivität und Partizipation" im § 118 BTHG. Jedoch wird weiterhin von Codierung nicht gesprochen. Das ist verständlich, weil die ICF auch nach 20 Jahren keine breite Implementierungs-Koordinierung in Deutschland erfahren hat, also sehr viel Unsicherheit in der Anwendung besteht. Es ist aber meinerseits kaum möglich, diese 9 Lebensbereiche im Sinne der Bedarfsfeststellung zu beurteilen, wenn man die eigentlichen Inhalte dieser Lebensbereiche, die die ICF erst in den Kategorien (codes, items) darstellt, nicht kennt. Als mittelfristigen Schritt hin zur Kodierung (als Voraussetzung für eine bundesweit einheitliche Anwendung) sollte zumindest die Kenntnis der ICF-Kategorien von den Anwendern des § 118 BTHG (ausreichend hier zunächst die ICF-Kurzversion) gefordert werden.“
(Michael Sperling)
Diskutiert wurde auch, ob die Sicht auf Behinderung als Wechselwirkung zwischen gesundheitlicher Beeinträchtigung und Kontextfaktoren im Sinne der ICF bereits in der Ausbildung von Reha-Fachleuten geschult werden könne:
„Solange die Sozialberufe – anders als die Gesundheitsberufe – ausschließlich landesrechtlich geregelt sind und die Inhalte praktisch von jeder Ausbildungseinrichtung selbst festgelegt werden, kann man sich bei diesen nicht darauf verlassen, dass sie mit ICF-Kenntnissen aus der Ausbildung kommen. (…) Ergo: Die Behörden und Leistungserbringer müssen sich darum kümmern, dass ihre Beschäftigten die Qualifikation haben.“
(Prof. Dr. Felix Welti)
Im Verlauf der Diskussion kam außerdem zur Sprache, dass die Bedarfsermittlung teilweise auf ein einseitiges Bild von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sei. Die Ermittlung individueller Bedarfe über Fragebögen habe etwa Studierende nicht immer im Blick, so das „Referat für Inklusion“:
„… Ausserdem ist mir aufgefallen, dass gerade ältere Fragebögen zur Bedarfsermittlung den PUNKT "Unterstützung beim Studium" gar nicht abfragen, sondern die Lebenswelt von Menschen mit Beeinträchtigungen reduziert wird auf zwischen Kindergarten, Schule und "Behindertenwerkstatt". Diese Konstruktion von Menschen mit Behinderung sehen wir sehr kritisch.“
(Referat für Inklusion)
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, der Nutzung der ICF und dem BTHG selbst sei ein Kulturwandel angestoßen worden, der allen Beteiligten viel abverlangen könne, so der Sozialrechtsexperte Alfred Jakoby. Die damit verbundene Anstrengung verteile sich bei den Beteiligten recht unterschiedlich. Es gelte eine „traditionelle“ Haltung in Behörden kritisch zu betrachten.
Die Entwicklung von Instrumenten zur Bedarfsermittlung soll ein möglichst einheitliches und systematisches Vorgehen in den verschiedenen Bundesländern erleichtern. Man stehe bei der Entwicklung von Bedarfsermittlungsinstrumenten in allen Trägerbereichen erst am Anfang, so Prof. Dr. Harry Fuchs mit Verweis auf eine Studie zur Wirkung der neuen Bedarfsermittlungsinstrumente, die er gemeinsam mit Prof. Dr. Matthias Morfeld (Hochschule Magdeburg-Stendal) in den Jahren 2018/2019 durchgeführt hatte.[2] Prof. Andreas Seidel schilderte seinen Eindruck, dass die sozialgesetzlichen Vorgaben einfacher umgesetzt werden könnten, als dies bislang in manchen Sozialräumen der Fall sei:
„Es gibt Bedarfsermittlungsverfahren, die auch von den Fachkräften in der Teilhabeplanung als Barriere empfunden werden. Dies soll keine pauschale Kritik an bestimmten Verfahren sein; diese Einschätzungen habe ich von Teilhabeplaner*Innen persönlich gehört. Hier können uns zwei Dinge helfen: 1. Forschung und 2. (das kann und sollte mit 1. verknüpft sein) die stärkere Miteinbeziehung der Praktiker*innen in der Teilhabeplanung bei der Weiterentwicklung der Bedarfsermittlungsverfahren.“
(Prof. Andreas Seidel)
Zu einem möglichst einheitlichen Vorgehen wird von den Rehabilitationsträgern eine trägerübergreifende Zusammenarbeit erwartet, die durch trägerspezifische Rahmenbedingungen erschwert sein kann:
„Gerade unterschiedliche Vergütungssysteme für Gutachter und Leistungserbringer sind Barrieren für trägerübergreifende Bedarfsfeststellung und Leistung. Hierzu bedarf es Vereinbarungen zwischen den Rehabilitationsträgern und den Leistungserbringern, um Nahtlosigkeit zu sichern. Grundlage dafür ist § 26 Abs. 3 SGB IX, wonach die Rehabilitationsträger über den Inhalt ihrer Leistungserbringungsverträge gemeinsame Grundsätze und Rahmenvereinbarungen beschließen können. Davon wird noch zu wenig Gebrauch gemacht.“
(Prof. Dr. Felix Welti)
Auch der Aufbau organisatorisch-kommunikativer Strukturen zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern wurde als grundlegend für eine gelingende trägerübergreifende Zusammenarbeit empfunden:
„Im weiteren Verlauf sollen nicht bei jedem neuen Leistungsantrag neue Teilhabepläne erstellt, sondern der erste Teilhabeplan von dem leistenden Rehabilitationsträger überprüft und auf den aktuellen Entwicklungsstand fortgeschrieben werden. Dies wird in der Praxis nur funktionieren, wenn die Rehabilitationsträger auf der Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation ein gemeinsames Verfahren zum digitalen Austausch des Teilhabeplanes entwickeln.“
(Prof. Dr. Harry Fuchs)
Fragen der Digitalisierung kamen in der Betrachtung der aktuellen Praxis der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung immer wieder zur Sprache und haben insbesondere im Kontext der Ausbreitung von SARS-CoV-2 an Gewicht gewonnen. Zum Zeitpunkt der Diskussionsrunde befand sich Deutschland in einem zweiten „Teil-Lockdown“, verbunden mit Kontaktbeschränkungen und Schließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auch die ansonsten üblichen Kontakte im Rahmen der Bedarfsermittlung waren davon betroffen:
„In der Regel finden momentan die Bedarfsermittlungen nicht persönlich, in einem Raum, statt. Viele Ämter sind mittlerweile auch dazu übergegangen online oder telefonisch die Termine zu machen. Dies ist für viele Ratsuchende sehr gewinnbringend, da es niedrigschwellig ist und somit einfacher die Teilnahme gewährleistet ist.“
(Jenny Bießmann)
Mitzudenken seien aber natürlich immer auch Aspekte, wie das Fehlen der technischen Ausstattung, Datenschutz, mangelndes Anwenderwissen und fehlende Unterstützung bei technischen Schwierigkeiten, so Anita Liebl. All dies könne Teilhabe ebenso verhindern.
„Dieses Thema auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Gremien zu diskutieren und gegebenenfalls mit Experten aus der IT Branche in standardisierte Entwicklungen zu gehen, halte ich allerdings für lohnenswert.“
(Anita Liebl)
Beitrag von Nikola Hahn, M. A., Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V.
[1] Die Diskussion ist nachzulesen unter https://fma.reha-recht.de/index.php/Board/188-Das-neue-SGB-IX-in-der-Praxis-%E2%80%93-Die-Ermittlung-des-Rehabilitations-und-Teilhabeb/
[2] Vgl. Meldung „Studie zu Verfahren der Bedarfsermittlung“ unter https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/studie-zu-verfahren-der-bedarfsermittlung/
Bedarfsermittlung, Teilhabeplanverfahren, Teilhabeplan, ICF, BTHG, Rehabilitationsträger, Kooperation der Rehabilitationsträger, Digitalisierung, Diskussionszusammenfassung
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