Felix Welti berichtet über die Entwicklung der Arbeitsteilhabepolitik in Deutschland. Es handelt sich bei dem vierteiligen Beitrag um eine Übersetzung des englischen Originals Welti, F. (2019), Work Disability Policy in Germany. Experiences of Collective and Individual Participation and Cooperation aus dem Buch MacEachen (Hrsg.), The Science and Politics of Work Disability Prevention (Wissenschaft und Politik der Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung). In den Beitragsteilen zwei und drei zeigt Welti auf, dass die Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung in Deutschland in die Zuständigkeit von Arbeitgebern und staatlichen Einrichtungen fällt. In diesem Beitrag wird die Verantwortung staatlicher Einrichtungen dargestellt. Die Übersetzung des Textes wurde von Helmuth Krämer, LL.M, Legalitas, München, besorgt.
(Zitiervorschlag: Welti: Arbeitsteilhabepolitik in Deutschland – Erfahrungen kollektiver und individueller Teilhabe und Zusammenarbeit – Teil III: Duale Zuständigkeit von Arbeitgebern und Staat für die Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung – Verantwortung des Staates; Beitrag D22-2019 unter www.reha-recht.de; 20.11.2019)
I. Gesundheit und Sicherheit
Die staatliche Zuständigkeit für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz teilen sich die auf Landesebene angesiedelten Arbeitsschutzbehörden und die Unfallversicherungsträger. Bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeit zur Prävention von Berufskrankheiten werden sie von den Krankenkassen unterstützt.
II. Gesundheitliche und Berufliche Rehabilitation
Die Rentenversicherungsträger sind für die medizinische und berufliche Rehabilitation fast aller abhängig Beschäftigten zuständig. 2018 hatten sie 1,17 Millionen Fälle.[1]
Die meisten betrafen medizinische Rehabilitation und ca. 143.000 berufliche Rehabilitation.[2] Wird die Rehabilitation aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit erforderlich, sind die Unfallversicherungsträger federführend. 2013 wurden 14.230 Fälle beruflicher Rehabilitation verzeichnet. Mit der beruflichen Rehabilitation für Berufsanfänger ist die Bundesagentur für Arbeit, die im Zeitraum Januar bis Juli 2019 178.000 Fälle zu verzeichnen hatte[3], beauftragt. Diese Zahlen sind in den letzten Jahren aus demographischen Gründen stabil geblieben, da die Kohorte der Babyboomer Teil der alternden Erwerbsbevölkerung ist.
Berufliche Rehabilitation beinhaltet persönliche und technische Förderung für den Arbeitnehmer (und auch für den Arbeitgeber), Aus- und Fortbildung, Arbeitsplatz- und Mobilitätshilfen. Die Hilfen können die Kosten für den barrierefreien Umbau eines Wagens oder einen Zuschuss zur Anschaffung eines barrierefreien Wagens umfassen. Obwohl die berufliche Rehabilitation oft in Einrichtungen (Berufsbildungswerke[4], Berufsförderungswerke[5]) durchgeführt wird, geht der Trend nunmehr zur Durchführung in der Nähe des Arbeitnehmerarbeitsplatzes. Spezifische Leistungen der Integrationsfachdienste werden in allen Kreisen und Bezirken für psychisch und geistig behinderte, für blinde und taube Menschen und für mehrfach behinderte Menschen angeboten.
Für die nicht für den allgemeinen Arbeitsmarkt Qualifizierten, stellen die Sozialämter berufliche Rehabilitation in Behindertenwerkstätten zur Verfügung. 2018 arbeiteten mehr als 312.000 Menschen in Behindertenwerkstätten[6] und die Zahl ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Die meisten in Behindertenwerkstätten Beschäftigten schaffen niemals den Eintritt in den allgemeinen Arbeitsmarkt und werden unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns entlohnt. Diese Praxis wurde kritisiert[7] und könnte unvereinbar mit EU-Recht sein[8]. Das Bundesteilhabegesetz hat ein Budget für Arbeit[9] für diese Gruppe geschaffen, eine staatliche Subvention für Arbeitgeber, die nicht für den allgemeinen Arbeitsmarkt qualifizierte Menschen beschäftigen, ergänzt durch Beschäftigungsförderung bestehend aus personeller und technischer Unterstützung.[10]
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wird die berufliche Rehabilitation in Deutschland oftmals in stationären Behandlungseinrichtungen, weit entfernt von den Arbeitsplätzen durchgeführt[11]. Folglich bestehen Zweifel bezüglich der Effektivität des derzeitigen Systems was die Rehabilitationsergebnisse der Patienten hinsichtlich Arbeitsfähigkeit und Beschäftigung anbelangt.
III. Geldleistungen und Renten
Sind Menschen mehr als sechs und weniger als 78 Wochen arbeitsunfähig, zahlt die Krankenkasse ein Krankengeld von ca. 70 % des Regelentgelts. Diese Leistung wird auch währen der stufenweisen Wiedereingliederung gezahlt, die bis zu sechs Monate dauern kann. Der Hausarzt des Arbeitnehmers oder ein Facharzt stellen die Arbeitsunfähigkeit fest und nur bei Zweifeln überprüft der Medizinische Dienst der Krankenkasse die Feststellung. Arbeitsmediziner sind normalerweise nicht beteiligt. Die Krankenkasse kann verlangen, dass der Krankengeld beziehende Arbeitnehmer innerhalb von zehn Wochen bei der Rentenversicherung Rehabilitation beantragen muss (§§ 44–51 SGB V).
2018 zahlten die Rentenversicherungsträger an ungefähr 1,8 Millionen Menschen Leistungen wegen Fällen längerer oder dauernder verminderter Erwerbsfähigkeit (weniger als 5 % der Erwerbsbevölkerung).[12] Von diesen Menschen waren nur 97.000 teilerwerbsunfähig.[13] 2018 stellten 342.294 Menschen Anträge auf Erwerbsminderungsrente und 176.521 wurden genehmigt.[14]
Rente wegen voller Erwerbsminderung (die Unfähigkeit, mehr als 3 Stunden am Tag zu arbeiten) berechtigt Antragsteller zu einer Vollrente, und Teilerwerbsunfähigkeit (drei bis sechs Stunden) berechtigt zu einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) in halber Höhe. Die Erwerbsminderung wird von dem sozialmedizinischen Dienst der Rentenversicherungsträger festgestellt, der auch verpflichtet ist, festzustellen, ob Rehabilitation möglich ist (§ 9 SGB IX). Wenn dem so ist, hat diese Vorrang vor dem Rentenbezug. Dennoch haben mehr als die Hälfte der Rentenbezieher noch nie Rehabilitationsleistungen erhalten[15]. Manche Menschen sind in ihren Funktionen nicht ausreichend beeinträchtigt, um Anspruch auf eine Rente zu haben aber zu sehr beeinträchtigt, um Arbeit zu finden. Dies ist insbesondere in Gegenden mit höherer Arbeitslosigkeit wie in Teilen Ostdeutschland (der vormaligen DDR) und früheren Industriegebieten in Teilen Westdeutschlands (z. B. Nordrhein-Westfalen) ein Problem. Menschen in diesen Regionen sind oft schon seit langer Zeit arbeitslos und leben von der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Viele dieser langzeitarbeitslosen Menschen haben schwere Gesundheitsprobleme.
Obwohl die rechtliche Regelung als Regelfall eine auf drei Jahre befristete Rente vorsieht (§ 102 SGB VI), werden die meisten Renten in der Praxis bis zur Umwandlung in eine gleich hohe Altersrente verlängert. Wie bei dem Anstieg von Menschen mit dem Status der Schwerbehinderung hat es einen starken Anstieg der psychischen Krankheit als Grund für die Rentengewährung gegeben: von 20,1 % 1996 auf 42,7 % 2018. In demselben Zeitraum ging der Grund der Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparats von 27,5 % auf 12,9 % zurück, vielleicht, weil nunmehr ähnliche Probleme anders eingeordnet werden.[16]
Die Rentenhöhe ist bezogen auf die individuellen, an den Versicherungsträger geleisteten Beiträge und das allgemeine Rentenniveau, welches von der Gesamtentwicklung der Löhne und Gehälter abhängt. Die Erwerbsminderungsrente wird so berechnet, als habe die Person bis zum 60. Lebensjahr in demselben Umfang Beiträge an den Versicherungsträger geleistet wie vor dem Eintritt der Erwerbsminderung. Das Alter für die Zurechnungszeit wurde mittlerweile auf 65 angehoben, was die Rentenbeträge deutlich erhöht, allerdings nur für die Rentenneuzugänge[17]. Nach der Berechnung der Erwerbsminderungsrente einer Person, werden 10,8 % des Betrages abgezogen. Dies vermeidet, dass der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente bessergestellt ist als ein Bezieher von Altersrente. Bezieher von Altersrente haben die Möglichkeit, ihre Rente unabhängig von ihrem Gesundheitszustand drei Jahre früher zu erhalten, wenn sie diesen Abzug akzeptieren.
Das Niveau der Erwerbsminderungsrenten ist in den letzten 15 Jahren gesunken,[18] weil viele Menschen vor Verlust ihrer Erwerbsfähigkeit aufgrund von Krankheit oder Arbeitslosigkeit geringe Gesamtbeiträge geleistet hatten und weil das allgemeine Rentenniveau gesenkt wurde. Bei Altersrenten wurde dieser Verlust zum Teil durch die private oder betriebliche Altersversorgung kompensiert, die allerdings nicht immer das Risiko der Erwerbsminderung umfassen. Allgemein beträgt die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente 795 Euro. Die durchschnittliche 2018 beginnende Erwerbsminderungsrente betrug 735 Euro , was das Niveau von 1996 ebenso wie das Niveau der Grundsicherung unterschreitet.[19] Bezieher von Erwerbsminderungsrente unterliegen Beschränkungen bei Beschäftigung und Hinzuverdienst.
Im Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit wird eine Unfallrente von dem Unfallversicherungsträger gezahlt. 2018 hatten 775.004 Menschen Anspruch auf diese.[20] Das rechtlich festgelegte Unfallrentenniveau (SGB VII) ist beachtlich höher als das rechtlich festgesetzte allgemeine Rentenniveau (SGB VI). Arbeitnehmer haben nach einem Arbeitsunfall einen Anspruch auf 26-wöchige Zahlung von 80 % ihres Regelentgelts und anschließend bei vollständigem Verlust der Erwerbsfähigkeit auf Entschädigung in Höhe von zwei Drittel des letzten Jahresarbeitsverdienstes. Die Erwerbsminderung wird mit dem Grad des verminderten Arbeitsvermögens gemessen, der zwischen 20 und 100 liegen kann (§ 56 SGB VII).
Kann jemand seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten, hat aber keinen Anspruch auf eine Rente oder erreicht die Rente nicht die Höhe der Sozialhilfe (SGB XII), kann er von seiner Gemeinde eine bedarfsorientierte Grundsicherung bei Erwerbsminderung erhalten. Im März 2019 befanden sich 523.762 Personen in dieser Kategorie.[21]
Beitrag von Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel
Fußnoten
Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work), berufliche Wiedereingliederung, Arbeitsunfähigkeit, Verminderte Erwerbsfähigkeit
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