25.11.2020 D: Konzepte und Politik Hergesell: Beitrag D24-2020
Emotionale Involvierung von Vorgesetzten als Risiko für (Wieder)Eingliederungsprozesse
Dr. Jannis Hergesell von der Technischen Universität Berlin setzt sich in seinem Beitrag mit der emotionalen Involvierung von Vorgesetzten auseinander, die beim Return to Work (RTW) von zentraler Bedeutung sind. Unter emotionaler Involvierung wird verstanden, dass besonders engagierte Vorgesetzte sich mit dem Erfolg des RTW-Prozesses und der gesundheitlichen Situation ihrer Mitarbeitenden identifizieren. Besteht emotionale Involvierung, kann diese ein Risiko für (Wieder)Eingliederungsprozesse darstellen. Der Beitrag fußt auf den Ergebnissen 16 inhaltsanalytisch ausgewerteten Leitfadeninterviews mit lokalen Vorgesetzten und Führungskräften aus der Pflege- und Automobilbranche, die im Rahmen des von der Deutschen Rentenversicherung (DRV Bund) geförderten Forschungsprojekts „Hindernisse und Potentiale für die Berufstätigkeit bei teilweiser Erwerbsminderung“ geführt wurden.
(Zitiervorschlag: Hergesell: Emotionale Involvierung von Vorgesetzten als Risiko für (Wieder)Eingliederungsprozesse; Beitrag D24-2020 unter www.reha-recht.de; 25.11.2020)
I. Einführung
Für einen erfolgreichen Return to Work (RTW) sind lokale (direkte) Vorgesetzte zentrale Schlüsselpersonen im betrieblichen (Wieder)Eingliederungsprozess. Lokale Vorgesetzte sind meist nicht nur „erste“ Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner bei gesundheitlichen Problemen im Arbeitsalltag. Sie sind ebenso maßgebliche Akteure wie Partner und Partnerinnen bei der Planung und Durchführung von integrativen Maßnahmen am Arbeitsplatz. Damit sind sie wesentlich am langfristigen Erfolg von Rehabilitationsmaßnahmen und an der Wirksamkeit von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) beteiligt.
In unserem, von der Deutschen Rentenversicherung (DRV Bund) geförderten, Forschungsprojekt „Hindernisse und Potentiale für die Berufstätigkeit bei teilweiser Erwerbsminderung“[1] zeigte sich, dass lokale Vorgesetzte durch ihre enge Beziehung zu den Rekonvaleszentinnen und Rekonvaleszenten und die alltägliche Koordination der Eingliederung teils stark emotional in RTW-Prozesse involviert sind. Diese emotionale Verstrickung wird von den Vorgesetzten partiell als erhebliche Belastung erlebt, welche zu Überforderung und einem Rückzug aus den Eingliederungsbemühungen führen kann. Die hier zur Diskussion gestellte These ist, dass solche negativen Belastungen der Vorgesetzten weniger in personalen als in organisationalen-betrieblichen Strukturen begründet liegen. Die Analyse emotionaler Involvierung trägt zu einer verbesserten Einbindung von Vorgesetzten in LTA- und Rehabilitationsprozesse bei und sensibilisiert für bisher in der Praxis zu wenig beachtete „informelle“ Faktoren[2] und Risiken während der beruflichen Wiedereingliederung.
In diesem Beitrag werden Ergebnisse aus 16 inhaltsanalytisch ausgewerteten Leitfadeninterviews mit lokalen Vorgesetzten und Führungskräften aus der Pflege- und Automobilbranche vor- und zur Diskussion gestellt.[3] Situationen emotionaler Involvierung und deren Risiken für den RTW-Prozess werden anhand der drei Kategorien „Übergriffigkeitserlebnisse“, „(psychosoziale) Überforderung“ und „Konflikte“ herausgearbeitet und mittels Interviewpassagen illustriert. Abschließend wird diskutiert, wie informelle, für gelingende Eingliederung zentrale, Aspekte des RTW-Prozesses gezielter an Träger und Praktikerinnen und Praktiker adressiert sowie von ihnen genutzt werden können.
II. Risiken negativen emotionalen Erlebens im Rahmen der Wiedereingliederung
LTA-Maßnahmen und Prozesse der beruflichen Rehabilitation binden lokale Vorgesetzte verstärkt ein. Auch in der Literatur werden Vorgesetze zunehmend als zu beachtende Akteure des RTW genannt.[4] Sie sind in so gut wie alle Bereiche betrieblicher Eingliederungsbemühungen (z. B. Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM), stufenweise Wiedereingliederung („Hamburger Modell“), Gesundheitsmanagement) aktiv einbezogen. Führungskräfte wissen um die individuellen gesundheitlichen Probleme und Bedarfe ihrer Mitarbeitenden, da sie meist über einen langen Zeitraum eng mit ihnen zusammenarbeiten. In diesem Rahmen bilden sich oft soziale Beziehungen aus, welche über eine bloß funktional-geschäftliche Kooperation hinausgehen. Im Falle gesundheitsbedingter Probleme bzw. eines RTW-Prozesses kann dies zu einer emotionalen Involvierung führen. Emotionale Involvierung bedeutet, dass – besonders engagierte – Vorgesetzte sich mit dem Erfolg des RTW-Prozesses bzw. dem „Schicksal“ ihrer gesundheitlich beeinträchtigten Mitarbeitenden identifizieren. Detka et al.[5] zeigen, dass Führungskräfte mit einer „quasi-sozialarbeiterischen Haltung“ eine wichtige Ressource für Rückkehrende darstellen können.[6] Das aus der emotionalen Involvierung entstehende Potenzial kann zu einer erhöhten Bereitschaft führen, zeitliche und personale Ressourcen in den RTW zu investieren, Beziehungen im Betrieb für die Eingliederung zu nutzen und Integrationsmaßnahmen im Arbeitsalltag auch gegen Widerstände durchzusetzen.
Allerdings bringt eine solche persönliche Identifikation nicht nur positive Aspekte mit sich. In den Interviews berichten Vorgesetzte, dass emotionale Involvierung ein stets präsenter Aspekt während Wiedereingliederungsprozessen ist, von ihnen jedoch nicht als ein „normal“ (im Sinne einer außerordentlichen Belastung) empfundener Teil ihres Aufgabenspektrums erlebt wird. Es kommt – bei vielen Erkrankungen – zu einem unvermeidlichen Ineinandergreifen von arbeitsplatzbezogenen und privaten Problemen, für welche die Vorgesetzten (vor allem in Krisen) erste und kurzfristig erreichbare Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen im Betrieb sind. Dies führt zu Situationen, in denen auch engagierten Vorgesetzten häufig die Kompetenz fehlt, qualifizierte Beratung im sozialarbeiterischen und/oder medizinisch-therapeutischen Sinne anzubieten. Solche fachfremden Anforderungen und übermäßigen Belastungen mit privaten Problemen der Mitarbeitenden können bei Vorgesetzten zu Frustration und (Über)Belastung führen. Besonders bei durchrationalisierten Arbeitsorganisationen und einem verdichteten Arbeitsalltag bleibt keine Zeit, angemessen intensive und spontan notwendige Gespräche mit Rekonvaleszenten und Rekonvaleszentinnen zu führen. So berichten uns in den Interviews etwa mehrere direkte Vorgesetzte in der Pflege (Pflegedienst-/Stationsleitungen), dass in den letzten Jahren administrative Anforderungen, wie Dokumentationspflichten, Personalplanung, Kommunikation mit Kranken- und Pflegekassen u. ä, deutlich zugenommen haben. Dadurch sind ihre Arbeitstage oft so verdichtet und fordernd, dass sie immer weniger persönlichen Kontakt mit ihren Mitarbeitenden haben und daher auch weniger sensibel deren gesundheitsbezogene Probleme wahrnehmen können. Generell wirke sich terminlicher Druck negativ auf Frequenz und Qualität von Wiedereingliederungsgesprächen aus.
Während der Interviewauswertung zeigte sich, dass direkte Vorgesetzte Situationen, in welchen sie ihrer eigenen Einschätzung nach den Bedürfnissen ihrer wiedereingegliederten Mitarbeitenden nicht gerecht werden können, nachhaltig negativ erinnern und einschätzen. Unser im Weiteren ausgeführtes (Zwischen)Ergebnis ist, dass diese wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Führungskräfte an ihre Rolle im RTW und ihren tatsächlichen Möglichkeiten im Arbeitsalltag dazu führen kann, dass sie insgesamt eine negative Einstellung gegenüber der Begleitung von Rückkehrenden entwickeln, sich aus Integrationsprozessen zurückziehen und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen somit bei ihrer Wiedereingliederung eine wichtige Ressource verlieren.
1. Übergriffigkeitserlebnisse
Besonders, wenn die betrieblichen Rahmenbedingungen (Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, persönliches Engagement) ohnehin eine Trennung von Privatem und Beruflichem verschwimmen lassen, berichten Vorgesetzte von als distanzlos erlebtem Verhalten ihrer Mitarbeitenden im Kontext von Eingliederungsmaßnahmen. Auffallend war bei der Analyse der Interviews, dass solche Erlebnisse bei Unternehmenskulturen[7] zu beobachten sind, bei welchen eine starke Identifikation mit der beruflichen Tätigkeit vorliegt, die mit entgrenzten bzw. ohne feste Arbeitszeiten (z. B. Schichtdienst/Gleitzeit oder ständiger Erreichbarkeit) einhergehen und/oder mit sehr enger Kooperation (Kollegialität) in überschaubaren kleinen Organisationseinheiten („Teams“) verbunden sind.[8]
Solche Arbeitsbedingungen finden sich typischerweise in kleineren Kfz-Betrieben (KMU, „Werkstätten“) sowie der Pflege, sodass besonders Pflegedienstleitungen von nicht hinreichend definierten Rollen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden berichten, aus denen Übergriffigkeitserlebnisse resultieren.
„Dieser Standort ist sehr familiär und auch sehr vertraut. Das heißt, Mitarbeiter kommen ganz oft mit ihren privaten Problemen auch zu uns. Das kann sehr belastend sein […].“ (Pflegedienstleitung)
Während der Begleitung einer Wiedereingliederung im Arbeitsalltag, kann oft keine klare Grenze zwischen privaten und beruflichen Problemen gezogen werden. Eine Begrenzung der Integrationsbemühungen auf rein berufliche Thematiken bzw. einen professionellen Kontext ist daher schwer. Dies führt zu Handlungsunsicherheit der Vorgesetzten, wie mit diesen ambivalenten Herausforderungen umzugehen ist – das gilt besonders für Situationen, in denen von Rückkehrenden Privilegien oder „Gefallen“ eingefordert werden, welche die Grenzen professioneller Beziehungen überschreiten.
„Also ich finde, dass es halt problematisch ist, weil man dort oft, also für mich, aus meiner Sicht oft eine falsche Ebene hat. Also wir haben tatsächlich Kolleginnen, die sind dann auch in stationären Therapien und haben dort so Ergotherapie-beschäftigung. Und dann geht es wirklich so weit wie, man malt mir ein Bild oder man bastelt mir einen Brotkorb. Das finde ich ganz schwierig, weil da bringt man mir dann ein Geschenk mit, was ich jetzt erstmal so gar nicht verdient habe. Weil ich hier einen Job habe. […] Und was mich halt extrem belastet ist, wenn so sehr die persönliche Ebene von mir gesucht wird, ja. Ob das beim-. Also hier sitzen wirklich Leute und weinen, weil ihr Mann fremdgegangen ist, also wo man sagen kann, das hat jetzt gar nichts mit dem Job zu tun. Aber natürlich, die Botschaft schon in meine Richtung ist: Können wir irgendwie, an irgendeiner Stelle Rücksicht nehmen, was die Dienstplangestaltung angeht?“ (Pflegedienstleitung)
Das Resultat solcher als übergriffig erlebten Situationen kann sein, dass die Vorgesetzten versuchen, derartige Gesprächskontexte zu vermeiden, und somit den Rekonvaleszentinnen und Rekonvaleszenten eine Ansprechperson wegfällt.
2. (Psychosoziale) Überforderung
Des Weiteren konnten wir aus den Interviews herausarbeiten, dass Führungskräfte während der Umsetzung betrieblicher Eingliederungsmaßnahmen, neben fachlichen, auch psychosozialen Herausforderungen ausgesetzt sein können, welche sie als Überforderung erleben. Die adäquate Begleitung ihrer erkrankten Mitarbeitenden bedarf in vielen Fällen Kompetenzen, die weit über die Qualifikation lokaler Vorgesetzter hinausgehen. Die gesundheitlich beeinträchtigten Mitarbeitenden richten oft Fragen an ihre Vorgesetzten bzw. erwarten von ihnen Entscheidungen, die nur auf Basis von medizinisch-therapeutischem oder rechtlichem Fachwissen getroffen werden können. Auch Fragen nach dem Zugang zu Reha-Maßnahmen, LTA-Angeboten oder einem betrieblichen Gesundheitsmanagement übersteigen schnell das Fachwissen von Vorgesetzten und führen zu einer empfundenen Überforderung. Dies gilt besonders dann, wenn die betrieblichen Rahmenbedingungen die Vorgesetzten sozusagen „alleine lassen“. Das heißt, wenn keine spezialisierten Personen wie BEM-Beauftragte, Schwerbehindertenvertretungen usw. als weitere Beratungsinstanzen vorhanden sind und daher Vorgesetzte in Personalunion diese Aufgaben übernehmen. Von solchen Situationen berichten uns besonders Vorgesetzte in kleineren Pflegediensten und inhabergeführten KfZ-Betrieben. Gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) sind die Strukturen für Betriebliches Gesundheitsmanagement oft nicht ausdifferenziert und der Umgang mit RTW-Prozessen nicht routiniert.[9]
In solchen Gemengelagen empfinden einige Vorgesetzte Gespräche mit Rückkehrenden als psychosozial (über)fordernde Situationen, die sie dementsprechend – bewusst oder unbewusst – mit hohen emotionalen Belastungen verbinden.
„Ich habe nächste Woche so ein Gespräch, wo ich mich so ein bisschen vor grusele […].“ (Geschäftsführerin, Pflege)
Es bestehen Unsicherheiten, wie Rückkehrgespräche bzw. RTW-Prozesse angegangen und strukturiert werden sollen. Ebenso berichten die Vorgesetzten in den Interviews von Ängsten Fehler zu begehen und von (diffusen) Befürchtungen hinsichtlich der Reaktionen ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner bzw. der Sorge, nicht adäquat und professionell mit emotionalen Reaktionen der Rekonvaleszenten und Rekonvaleszentinnen umgehen zu können. Diese (teils nur antizipierten) Schwierigkeiten versuchen Vorgesetzte oft schon im Vorfeld zu vermeiden oder bilden sogar eine regelrechte Aversion aus.
„Ja, es is ja immer schwer, sag ich mal so, wenn man unangenehme Sachen besprechen will, dann zieht man das in der Regel auch immer raus. Man muss aufpassen, dass man nicht zu impulsiv ist, dass man, wenn mal gerade was angefallen is, dass man gleich irgendwie persönlich wird. Im Grunde genommen is das das Schlimmste, wenn die Sache persönlich wird […] also, wenn jetzt sich was anbahnt, dass nen Kollege, sag ich mal, jetzt für nen längeren Zeitpunkt ausfällt, sind die Kollegen alle so eingestellt, dass denen das selber, dass sie selber nicht gerade angenehm ist.“ (Inhaber, Kfz-Werkstatt)
Über psychosoziale Überforderungen hinaus stellen längerfristige Arbeitsunfähigkeit und Wiedereingliederungen für Vorgesetzte einen erheblichen organisatorischen Arbeitsaufwand dar. Besonders in KMU bedeutet dies, dass eine zusätzliche, durchaus beachtliche Mehrarbeit bewältigt werden muss, was Führungskräfte (und Kolleginnen und Kollegen) an ihre Belastungsgrenze bringen kann und stellenweise als massive Überforderung erlebt wird.
„Ich kann es nicht mehr bewältigen und das ist schon das Maximum, was ich schaffe. Und jedes Jahr fällt es mir schwerer. Ist einfach so.“ (Inhaber, Kfz-Lackiererei)
3. Konflikte
Auch können mit Integrationsmaßnahmen verflochtene Konflikte mit Kolleginnen und Kollegen (dem „Team“) für Vorgesetzte mit negativem emotionalem Erleben verbunden sein. Solche Störungen des „Betriebsfriedens“ können als „Bedrohung“ für ihre Aufgabe verstanden werden, einen reibungslosen Arbeitsablauf zu gewährleisten. Dies gilt besonders, wenn die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Rückkehrenden mit sozial problematischem Verhalten assoziiert sind, für deren Regulation sich die Führungskräfte zuständig fühlen.
„[…] das Problem is ganz einfach, dass die anderen Kollegen, naja wie soll ichs sagen, es führt immer wieder zu Reibungen. Seine Äußerungen führen zu Reibungen und er is halt dadurch nicht gerade so kompatibel, sag ich einfach mal so, und da is es meine Aufgabe halt, immer wieder klarzustellen, dass er, er hat eben diese Behinderung,[10] und dass er immer wieder ins Team mit eingebunden wird, aber das is jeden Tag nen permanenter Kampf.“ (Inhaber, Kfz-Werkstatt)
Emotional bedeuten solche Situationen oft eine Belastung, da die Vorgesetzten sich in einem Dilemma zwischen ihrer Fürsorge für eine gesundheitlich beeinträchtigte Mitarbeiterin bzw. einen Mitarbeiter und der Verantwortung gegenüber ihren sonstigen Mitarbeitenden sowie der Erfüllung ihres Arbeitsauftrages sehen. Insbesondere, wenn Führungskräfte in solchen Konfliktsituationen keine Unterstützung erfahren, erleben sie die Vereinbarung individueller Bedürfnisse mit der Organisation eines reibungslosen Arbeitsalltages als überfordernd. Vorgesetzte äußern dementsprechend immer wieder Befürchtungen, das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse (veränderte Dienstzeiten, Schonarbeitsplätze usw.) von Rekonvaleszenten und Rekonvaleszentinnen könne als ungerechte Mehrarbeit für Kolleginnen und Kollegen interpretiert werden und langfristig zu Zerwürfnissen im Team führen.
„[…] aber einen chronisch Kranken dauerhaft zu bevorzugen, und so erleben das die anderen Mitarbeiter, dass er bevorzugt wird, das macht das Team kaputt. Und dann verzichte ich lieber auf den chronisch Kranken, such ne andere Lösung für ihn oder leb damit, dass er sich aus dem Job ganz verabschiedet, als dass ich äh den Rest des Teams gegen mich habe, oder unzufrieden.“ (Fachbereichsleitung, Pflege)
Solche – teils nur antizipierten, teils tatsächlich erlebten – Konflikte und die damit verbundenen Stresssituationen können dazu führen, dass Vorgesetzte sich unter Druck gesetzt fühlen, sich entweder für die Rekonvaleszentinnen bzw. Rekonvaleszenten oder das „Team“ entscheiden zu müssen. Bei den von uns befragten Vorgesetzten war die negativste Folge dieses (wahrgenommenen) Konflikts die generelle Ablehnung von Integrationsmaßnahmen.
III. Diskussion
Vorgesetze sind zentrale Akteure in RTW-Prozessen und können in diese erheblich emotional involviert sein. Handelt es sich dabei um negative Erlebnisse, wie Überforderung und Konflikte, können diese (langfristig) zu einem Rückzug aus Eingliederungsbemühungen führen. Solche „informellen“ Faktoren des RTW zeigen sich vor allem in der Analyse des betrieblichen Alltags und liegen nach bisherigen Ergebnissen wesentlich mehr in den betrieblichen Rahmenbedingungen, wie einem/einer fehlenden BEM, Schwerbehindertenvertretung, Zugang zu Fortbildung oder Beratung als in der Person des Vorgesetzten begründet. Die Problematik negativer Erfahrungen und einer ablehnenden Haltung von Führungskräften als Risiken für eine erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz, werden bisher sowohl von der Forschung als auch von Trägern der beruflichen Rehabilitation sowie beratenden Stellen (z. B. Integrationsämter oder -fachdienste), kaum wahrgenommen. Die dargestellten Ergebnisse verstehen sich dabei keineswegs als vollständige oder erschöpfende Darstellung des Faktors emotionale Involvierung von Führungskräften, sondern sollen als Anknüpfungspunkt für weitere Forschung dienen und mögliche Implikationen für Wiedereingliederungsmaßnahmen aufzeigen.
In unserer Studie zeigt sich empirisch, dass Vorgesetzte ihr Engagement in RTW-Prozessen dann als negativ erleben, wenn es zu Überforderungen kommt und sie sich mit Problemen „alleine gelassen“ fühlen. Jenes ist besonders in KMU und Betrieben der Fall, die nicht über ausgeprägte Eingliederungsstrukturen und -prozeduren, wie BEM, stufenweise Wiedereingliederung, Gesundheitsmanagement, Betriebsvereinbarungen usw. verfügen, welche die Vorgesetzten unterstützen. Die Expertise von spezialisierten Ansprechpartnerinnen und -partnern, wie Schwerbehindertenvertretungen oder BEM-Beauftragten im Unternehmen, hilft den Vorgesetzten, neben funktionaler Beratung, ihre Schlüsselrolle im RTW aktiv sowie emotional ausgeglichen zu gestalten. Daraus schließen wir, dass betriebliches Gesundheitsmanagement als Ressource für den Eingliederungsprozess nicht nur für die Rückkehrenden, sondern auch für deren Vorgesetze ausgebaut und zugänglich gemacht werden sollte. Denkbar sind etwa eine aktive Ansprache der Führungskräfte durch BEM-Beauftragte bei Problemen im RTW, die strukturelle Einbindung von lokalen Vorgesetzten in Eingliederungsprozesse und betriebliche Hilfenetzwerke. Als ein weiteres sinnvolles Mittel erscheint die Schaffung von Freiräumen (z. B. Sprechstunden) im Arbeitsalltag, in welchen sich die Vorgesetzten ausschließlich und ohne Zeitdruck mit gesundheitlichen Problemen bzw. Rekonvaleszenten und Rekonvaleszentinnen auseinandersetzen können.
Dabei ist es ausschlaggebend, dass den Vorgesetzten kurzfristig die zuständigen Ansprechpersonen bekannt sind. Da Führungskräfte in ihrem verdichteten Arbeitsalltag oft keine Zeit haben solche Stellen zu recherchieren, bietet sich hier ein proaktives Zugehen auf die Unternehmen seitens der beratenden Stellen, wie Integrationsfachdiensten oder dem Firmenservice der Rentenversicherung, an. Für Vorgesetzte in KMU sind Innungen oder Berufsverbände oft erste Anlaufstelle bei Fragen, sodass auch diese ihre gesundheitlichen Beratungsangebote ausbauen sollten. Ebenso wären Schulungen für Vorgesetzte zum Umgang mit emotionalen Belastungen in Rückkehrprozessen wünschenswert. Erfolgversprechend sind außerdem regelmäßige, von Fachpersonal moderierte Supervisionen o. ä. (wie sie in der Pflegebranche üblich sind, aber auch in der Automobil-Branche positive Effekte zeigen), in denen emotionale Belastungen reflektiert werden.
Es gilt, die schon begonnene Einbindung von (lokalen) Vorgesetzten in Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation und LTA, etwa im begleitenden Fallmanagement, weiter auszubauen und das Engagement von Vorgesetzten strukturell als Ressource im Eingliederungsprozess aufzufassen. Dazu gehört ein geschärftes Bewusstsein von Trägern und Praktikerinnen und Praktikern für die Risikofaktoren negativer emotionaler Involvierung von Vorgesetzten und deren aktive Vermeidung. Auf diese Weise können motivierendere und als sinnstiftend empfundene Erlebnisse entstehen, welche zur sozialen Kohäsion zwischen Vorgesetzten und Rekonvaleszentinnen und Rekonvaleszenten führen und somit aktiv zum Gelingen des Rückkehrprozesses beitragen.
Literatur
Badura, B. (2016): Unternehmenskulturen und Gesundheit: Ein Überblick, In: Badura, B./Ducki, A./Schröder, H./Klose, J./Meyer, M. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin/Heidelberg Springer-Verlag Medizin, S. 1–6.
Brussig, M./Schulz, S. (2019): Akteure des Return to Work. Working Paper Forschungsförderung 146. Düsseldorf.
Detka, C./Lange, B./Kuczyk, S./Ohlbrecht, H. (2020): Führungskräfte als Quasi-Professionelle und Arbeitnehmende als Klient_innen? In: Netzwerk Qualitative Gesundheitsforschung (Hrsg.): Perspektiven qualitativer Gesundheitsforschung. Weinheim: Juventa, S. 170–185.
Haubl, R. (2017): Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen. In: Ahlsdorf, N./Engelbach, U./Flick, S./Haubl, R./Voswinkel, S. (Hrsg.): Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt. Bielefeld: transcribt, S.145–163.
Hergesell, J./Baur, N. (2019): Hindernisse und Potentiale für die Berufstätigkeit bei teilweiser Erwerbsminderung. (http://bidok.uibk.ac.at/library/hergesell-hindernisse.html)
Hergesell, J./Baur, N. (2020): Anforderungen von Arbeitgebern an die Arbeitsmarktintegration von (teilweise) erwerbsgeminderten Arbeitnehmer*innen. In: Deutsche Rentenversicherung (Hrsg.): 29. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Berlin, S. 290–292.
Lange, B./Detka, C./Kuczyk, S., Ohlbrecht, H. (2019): Unternehmenskulturen und ihre (Aus-)Wirkungen auf die Gesundheit von Mitarbeitenden und den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit. In: RP Reha 2/2019, S.47–54.
Mahnke, C./Ramm, D. (2011): Betriebliches Eingliederungsmanagement in Klein- und Mittelbetrieben – psychologische Aspekte. In: Diskussionsform Rehabilitations- und Teilhaberecht, Forum B, Nr. 3/2011.
Rump, J./Schiedhelm, M./Eilers, S. (2016): Gesundheit anordnen? Die Rolle der Führungskultur im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. In: Badura, B./Ducki, A./Schröder, H./Klose, J./Meyer, M. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin/Heidelberg: Springer Verlag, S. 95–101.
Ohlbrecht, H./Detka, C./Kuczyk, S./Lange, B. (2018): Return to Work und Stay at Work. Die Frage nach einem gelingenden betrieblichen Eingliederungsmanagement. In: Die Rehabilitation 2018/57, S. 157–164.
Windscheid, E. (2019): Rückkehr und Reintegration nach psychischer Erkrankung. Soziale Gelingensbedingungen und Hemmnisse betrieblicher Wiedereingliederung. Wiesbaden: Springer Verlag.
Beitrag von Dr. Jannis Hergesell, Technische Universität Berlin
Fußnoten
[1] Vgl. Hergesell, J./Baur, N. (2019): Hindernisse und Potentiale für die Berufstätigkeit bei teilweiser Erwerbsminderung. (http://bidok.uibk.ac.at/library/hergesell-hindernisse.html); siehe auch Projekthomepage
[2] Vgl. Hergesell, J./Baur, N. (2020): Anforderungen von Arbeitgebern an die Arbeitsmarktintegration von (teilweise) erwerbsgeminderten Arbeitnehmer*innen. In: Deutsche Rentenversicherung (Hrsg.): 29. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Berlin, S. 291.
[3] Das Projekt ist als explorativ-qualitative Interviewstudie angelegt. Wir untersuchen anhand einer bewussten Fallauswahl nach dem Konzentrationsprinzip zwei besonders vom Arbeitskräftemangel betroffene Branchen: die Automobilwirtschaft und die Pflegebranche. Diese Arbeitsfelder stellen hinsichtlich einer Reihe von strukturellen Faktoren (z. B. Betriebskulturen, Arbeitsorganisation, Gesundheitsrisiken, Integrationspotentiale) Kontrastfälle dar und eignen sich daher in besonderem Maße dafür, durch einen Vergleich eine große Bandbreite von Problemlagen bei RTW-Prozessen zu identifizieren. Die hier diskutierten Interviews wurden mit personalverantwortlichen Führungskräften geführt, welche über Erfahrungen im Umgang mit Wiedereingliederungsprozessen verfügen bzw. in ihren Betrieben für diese zuständig sind. Die strukturierenden Leitfäden wurden beständig auf Grundlage der Ergebnisse überarbeitet und im Sinne interpretativer Sozialforschung flexibel an Interviewsituationen (bzw. Personen, Betriebe) angepasst. Die Interviews wurden sukzessive ab April 2019 erhoben und werden über den weiteren Projektverlauf bis April 2023 fortgesetzt. Die Interviews haben zum Ziel Integrationshindernisse und -potentiale während betrieblicher Eingliederungsprozesse aus Perspektive der Arbeitgeber zu analysieren, die emotionale Involvierung der Vorgesetzten ist darunter ein thematischer Schwerpunkt.
[4] Vgl. Brussig, M./Schulz, S. (2019): Akteure des Return to Work. Working Paper Forschungsförderung 146. Düsseldorf, 19ff. und 43f.; vgl. Windscheid, E. (2019): Rückkehr und Reintegration nach psychischer Erkrankung. Soziale Gelingensbedingungen und Hemmnisse betrieblicher Wiedereingliederung. Wiesbaden: Springer, S. 17 ff.
[5] Detka, C./Lange, B./Kuczyk, S./Ohlbrecht, H. (2020): Führungskräfte als Quasi-Professionelle und Arbeitnehmende als Klient_innen? In: Netzwerk Qualitative Gesundheitsforschung (Hrsg.): Perspektiven qualitativer Gesundheitsforschung. Weinheim: Juventa, S. 183.
[6] Siehe auch Rump, J./Schiedhelm, M./ Eilers, S. (2016): Gesundheit anordnen? Die Rolle der Führungskultur im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. In: Badura, B./Ducki, A./Schröder, H./Klose, J./Meyer, M. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin/Heidelberg: Springer Verlag, 97 f.; siehe auch Haubl, R. (2017): Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen. In: Ahlsdorf, N./Engelbach, U./Flick, S./Haubl, R./Voswinkel, S. (Hrsg.): Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt. Bielefeld: transcribt, S. 145 ff.
[7] Siehe grundlegend zu Unternehmenskulturen: Badura, B. (2016): Unternehmenskulturen und Gesundheit: Ein Überblick, In: Badura, B./Ducki, A./Schröder, H./Klose, J./Meyer, M. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin/Heidelberg Springer-Verlag Medizin, S. 1–6.
[8] Siehe zu den vielschichtigen Auswirkungen der Arbeitsorganisation bzw. Unternehmenskultur auf gesundheitsbezogenes Verhalten: Lange, B./Detka, C./Kuczyk, S., Ohlbrecht, H. (2019): Unternehmenskulturen und ihre (Aus-)Wirkungen auf die Gesundheit von Mitarbeitenden und den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit. In: RP Reha 2/2019, S.47–54.
[9] Ohlbrecht, H./Detka, C./Kuczyk, S./Lange, B. (2018): Return to Work und Stay at Work. Die Frage nach einem gelingenden betrieblichen Eingliederungsmanagement. In: Die Rehabilitation 2018/57, S. 158.; siehe auch Mahnke, C./Ramm, D. (2011): Betriebliches Eingliederungsmanagement in Klein- und Mittelbetrieben – psychologische Aspekte. In: Diskussionsform Rehabilitations- und Teilhaberecht, Forum B, Nr. 3/2011.
[10] Eine genauere Diagnose wird nicht genannt. Auf Nachfrage berichtete der Interviewte von Auffälligkeiten, welche mit einer Lernschwäche sowie depressiver Symptomatik assoziiert sein könnten und von sozialen Defiziten bzw. von ihm als sozial problematisch empfundenem Verhalten des Angestellten.
Stichwörter:
Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work), Stufenweise Wiedereingliederung (StW), berufliche Wiedereingliederung, Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, BEM, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Studie
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