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In dem Beitrag befasst sich Mirjam Schülle mit der im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) geplanten Neuregelung des § 100 SGB IX-E, welche u. a. einen Ausschluss asylsuchender Menschen von Eingliederungshilfeleistungen vorsieht. Ein solcher Leistungsausschluss wird von den Sachverständigen in der Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am 7. November 2016 kritisiert, besonders die Vereinbarkeit mit dem höherrangigen Recht (u. a. UN-Behindertenrechtskonvention, UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU) sei fraglich.
Asylsuchende und geflüchtete Menschen werden mit dieser Regelung erneut auf die Ermessensregelung des § 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verwiesen, dessen Durchsetzung in der Praxis schwerfällig ist. Gleichwohl die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU seit 2015 das Ermessen des § 6 AsylbLG für besonders schutzwürdige Personengruppen, u. a. behinderte Menschen, auf Null reduziert. Seitdem sind alle Leistungsbehörden dazu verpflichtet, die erforderlichen Eingliederungsleistungen für asylsuchende, behinderte Menschen zu gewähren.
(Zitiervorschlag: Schülle: Ausschluss von Eingliederungsleistungen für Asylsuchende durch das Bundesteilhabegesetz – Überblick der Diskussion mit Ausblick für die Umsetzung; Beitrag D53-2016 unter www.reha-recht.de; 25.11.2016.)
Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) sollen behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen ermöglichen, die Folgen der Behinderung zu mildern und am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können.[1] Zu den Leistungen der EGH zählen u. a. Rehabilitationssport, Versorgung mit Körperersatzstücken, Heilpädagogische Hilfen für Kinder, die noch nicht zur Schule gehen, nichtmedizinische Hilfsmittel z. B. Gebärdensprachdolmetscher, Hilfen zur angemessenen Schulbildung.[2]
Bisher haben nicht alle Menschen, die in Deutschland leben, einen gleichen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Unterschieden wird der Leistungsanspruch in Abhängigkeit vom Aufenthaltsstatus und der Aufenthaltsdauer. Leistungen nach dem Sozialhilferecht (SGB XII), einschließlich EGH, erhalten Ausländerinnen und Ausländer, die eine Niederlassungserlaubnis oder einen befristeten Aufenthaltstitel haben und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten.[3] Ebenso erhalten asylsuchende Menschen, die sich länger als 15 Monate im Land aufhalten, Leistungen der Eingliederungshilfe.[4]
Für Ausländerinnen und Ausländer ohne einen verfestigten Aufenthaltsstatus ist der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII eingeschränkt.[5] Für diese Gruppe kann Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung im Einzelfall (Ermessensnorm) gewährt werden, was sich aus § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII ergibt. Geflüchtete und Asylbewerberinnen erhalten keine Leistungen der Sozialhilfe sondern fallen unter das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).[6] Laut § 6 AsylbLG können Asylsuchende Leistungen erhalten, „wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich erforderlich sind.“ Dies können Leistungen sein, die denen der Eingliederungshilfe entsprechen.
Aus der Praxis ist bekannt,[7] dass dieser Ermessensanspruch für die Leistungsberechtigten nur sehr schwer zu erwirken ist, oftmals erhalten daher Asylsuchende mit Behinderungen keine notwendigen und bedarfsdeckenden Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe.
Innerhalb der Gruppe von Geflüchteten und Asylsuchenden befinden sich vor allem Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung sowie schwer und schwerst mehrfachbehinderte Schutzsuchende. Sie befinden sich in einer besonders prekären Situation, da ihre Aufnahme und Versorgung von besonderen Bedürfnissen bestimmt wird. Diese werden angesichts der unzureichenden Kapazitäten bei der Unterbringung und Versorgung selten erfüllt. Sowohl die angemessene medizinische und soziale Betreuung als auch die Versorgung mit notwendigen Heil- und Hilfsmitteln stellen in der Praxis vielfach Probleme dar, die spezieller und nicht selten individueller Lösungen bedürfen. Das gilt insbesondere auch für die behindertengerechte und barrierefreie Einrichtung von Aufnahmeeinrichtungen und Unterkünften.[8]
In der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Entwurf des Bundesteilhabegesetzes (BTHG)[9] wurde die Problematik der EGH für Ausländerinnen und Ausländer sowie Geflüchtete bisher kaum beachtet.[10] Erfreulicherweise wurde die Thematik jedoch in der Sozialausschuss-Anhörung zum BTHG am 7. November 2016 intensiv diskutiert.[11]
Bereits im Frühjahr 2016 war im Referentenentwurf des BTHG die Ausschlussnorm des § 100 Eingliederungshilfe für Ausländer im SGB IX-E enthalten. Im Begründungsteil des Entwurfs heißt es, der § 100 SGB IX-E übernehme inhaltsgleich die Regelung des § 23 SGB XII.[12]
Der neue § 100 Abs. 1 S. 1 SGB IX-E[13] schränkt die Eingliederungsleistungen für Ausländerinnen und Ausländer ohne eine Niederlassungserlaubnis oder einen befristeten Aufenthaltstitel auf Ermessensleistungen ein, bisher besteht ein Anspruch auf Leistungen der EGH nach Ermessen aus § 23 Abs. 1 SGB XII. Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen laut § 100 Abs. 2 SGB IX-E grundsätzlich von den Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen werden. Dieser explizite Ausschluss von Eingliederungsleistungen ist neu.[14]
In der Begründung zur geplanten Norm wird angeführt, dass für Menschen in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts § 6 Abs. 1 AsylbLG eine Grundlage zur Leistungsgewährung der Eingliederungshilfe bieten kann (Ermessensnorm). Allerdings sollen bei der Auslegung und Anwendung der Norm die europarechtlichen Vorgaben (u. a. Aufenthaltsrichtlinie 2013/33/EU) und völkerrechtliche Verträge (u. a. UN-BRK und UN-Kinderrechtskonvention [UN-KRK]) einbezogen werden.[15]
Die Leistungsbeschränkung für Asylsuchende und Geflüchtete durch § 100 SGB IX-E reiht sich in die grundsätzlichen Asylrechtsverschärfungen der sog. Asylpakete I und II ein. Trotz erheblicher menschen- und verfassungsrechtlicher Bedenken werden die Einschränkungen der Sozial-, Gesundheits- und Rehabilitationsleistungen weiter verfestigt.
„Teilhabeleistungen nach deutschem Sozialrecht sind an den in der UN-BRK konkretisierten universalen Menschenrechten zu messen“, betonte Wolfgang Schütte in seinem Rechtsgutachten im Frühjahr 2016 zum BTHG. „Im Geltungsbereich der UN-BRK und des BTHG kann es daher Leistungsausschlüsse nur dann geben, wenn für den ausgeschlossenen Personenkreis angemessene andere Berechtigungen bestehen. Bei Flüchtlingen und Asylbewerbern ist dies nicht der Fall: Sie bleiben auch künftig von Leistungen der EGH fast vollständig ausgeschlossen.“[16] Er spricht die dringende Empfehlung an den Gesetzgeber aus, Leistungen der Teilhabe für alle Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen, einschließlich Flüchtlingen und Asylsuchenden, zur Verfügung zu stellen, „soweit es für den Schutz der Gesundheit und die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich ist.“[17]
Ein halbes Jahr später, im Herbst 2016, wurde in einigen wenigen Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales u. a. auch vom Landkreistag, Deutschen Städtetag und Deutschen Städte- und Gemeindebund der Entwurf des § 100 SGB IX-E kritisiert und für die vollständige Streichung der Norm plädiert.[18] Die Absenkung der Leistungsansprüche auf Ermessenleistungen (Abs. 1 S. 1) für Menschen, die nicht im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind, u. a. geduldete Menschen, verstoße gegen höherrangiges Recht. Ob Asylsuchende von Eingliederungsleistungen (Abs. 2), die ein Teil des Existenzminimums sein können, ohne Verstoß gegen höherrangiges Recht von den Leistungen ausgeschlossen werden könnten, sei fraglich.[19] Ebenso wurde zu bedenken gegeben, dass eine Differenzierung des Leistungsanspruchs lediglich aufgrund eines unterschiedlichen Bedarfs zulässig ist, wie es bisher im Recht der EGH geregelt ist. Eine grundsätzliche Differenzierung nach Aufenthaltsstatus ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unzulässig. [20]
In der Anhörung waren sich die befragten Expertinnen und Experten zu § 100 SGB IX-E ebenso einig, dass das Recht auf Teilhabe nicht vom aufenthaltsrechtlichen Status abhängig gemacht werden sollte. Derzeit bestehe bereits ein großes Defizit bei der Heil- und Hilfsmittelversorgung (§§ 4, 6 AsylbLG) und der Durchsetzung der Ermessensnorm (§ 6 AsylbLG), so Horst Frehe und Valentin Aichele (DIMR). Die geplante Norm wiederspreche klar den Vorgaben der UN-BRK und UN-KRK, sei „völlig systemfremd und überflüssig“, so ergänzend Elisabeth Fix (Caritas).[21]
Der Bundesrat bezieht keine Stellung zu den geplanten Änderungen durch den § 100 SGB IX-E.[22]
Die Beratung des Bundesteilhabegesetzes befindet sich in den letzten Zügen, noch dieses Jahr steht die Entscheidung des Gesetzgebers an. Mutmaßlich wird die geplante Regelung des § 100 SGB IX-E wie im Entwurf umgesetzt, wodurch im Ergebnis die Leistungseinschränkungen der EGH für Asylsuchende und geflüchtete Menschen ausgeweitet werden bzw. bestehen bleiben.
Einen Zugang zur EGH haben die betroffenen Menschen nach dem AsylbLG dann lediglich durch die Ermessensnorm des § 6 AsylbLG. Zu beachten gilt allerdings, dass das Ermessen dieser Norm für besonders schutzwürdige Personengruppen – insbesondere auch für Menschen mit Behinderung – auf Null zu reduzieren ist[23]. Das bedeutet, die erforderlichen EGH-Leistungen sind von den Sozialbehörden für alle besonders schutzwürdigen Personen grundsätzlich zu gewährleisten. Dies ergibt sich aus der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU[24], die bis zum Juli 2015 umzusetzen war und damit unmittelbar für die Verwaltungen und Sozialgerichtsbarkeit anzuwenden ist.
In der Umsetzung ergibt sich noch die Schwierigkeit, dass die Länder bisher im Aufnahmeverfahren der Asylsuchenden die erforderliche Prüfung (Screening) und Bescheinigung der besonderen Schutzbedürftigkeit nicht so realisierten, wie sie nach Art. 22 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU erforderlich ist. Bei der Klage einer leistungsberechtigten Person könnte ein Sozialgericht eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) einholen. Damit könnte der Rechtsanspruch u. a. auf EGH-Leistungen für asylsuchende Menschen mit Behinderungen geklärt werden.
Die betroffenen Verwaltungs- und Aufsichtsbehörden sowie die Sozialgerichtsbarkeit sind nun gefragt, das Recht auf Teilhabe- und Rehabilitationsleistungen auch für geflüchtete und asylsuchende Menschen sicher zu stellen, wenn es bei der bisherigen Fassung des § 100 SGB IX bleibt.
Beitrag von Mirjam Schülle, M. Sc. (Public Health), Universität Kassel
Fußnoten:
[1] Vgl. §§ 53, 54 SGB XII.
[2] Vgl. § 54 SGB XII, § 55 SGB IX.
[3] Vgl. § 23 Abs. 1 S. 4 SGB XII.
[4] Nach § 2 AsylbLG sind Analogleistungen zum SGB XII geboten.
[5] Vgl. § 23 Abs. 1 SGB XII, Birk 2015 in: Bieritz-Harder/Conradis/Thie, Lehr- und Praxiskommentar, SGB XII, 10. Aufl. 2015, § 23 Rn. 15 ff.
[6] Vgl. § 32 Abs. 2 SGB XII.
[7] Empirische Daten existieren dazu nicht, lediglich aus Presseberichten und Aussagen der Beratungsstellen wird dies deutlich. Bspw. Schwalgin, Susanne für bpb (2015): Flüchtlinge mit Behinderung: Menschen in einer besonders prekären Situation. Abzurufen unter: www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/197794/fluechtlinge-mit-behinderung (Stand: 22.11.16); Amadeu-Antonio-Stiftung (2016): Leitfaden zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen mit Behinderungen. Abzurufen unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/2016/leitfaden/ (Stand 22.11.16).
[8] Schwalgin, a. a. O.
[9] Aktueller Stand: Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 05.09.2016, BT-Drs. 18/9522 abzurufen unter dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/095/1809522.pdf (Stand 22.11.16).
[10] Lediglich in den Stellungnahmen von Horst Frehe (FbJJ) und Wolfgang Schütte in Auftrag des ASB vom Frühjahr 2016 wurde die Problematik aufgegriffen. Abzurufen unter: www.teilhabegesetz.org/media/160517_FbJJ_Stellungnahme_BTHG_Referentenentwurf.pdf (Stand: 17.11.16) und www.asb.de/index.php/download_file/view/2810/1623 (Stand: 17.11.16).
[11] Weitere Hinweise zur Anhörung sind abzurufen unter: www.bundestag.de/ausschuesse18/a11/anhoerungen/92-sitzung-bthg/476622 (Stand: 18.11.16).
[12] Mit dem Nachsatz: „Ggf. notwendige Änderungen sind einem anderen Gesetzgebungsverfahren vorbehalten.“ Drs 428/16, S. 260, konkretisierend S. 377.
[13] Vgl. Drs. 428/16, S. 61 f.
[14] Vgl. Welti in der Stellungnahme zur Ausschussanhörung am 07.11.16, S. 213, abzurufen unter: www.bundestag.de/blob/478802/8143f89ef011cff143f5c4c991d95433/materialzusammenstellung-data.pdf (Stand: 17.11.16).
[15] Vgl. Drs. 428/16, S. 280 f.
[16] Schütte, a. a. O. S. 13.
[17] Ebd., S. 14.
[18] Vgl. Stellungnahmen von Horst Frehe, Oliver Tolmein, Felix Welti, Nancy Poser, Deutscher Caritasverband e. V., Landkreistag, Deutscher Städtetag und Deutscher Städte- und Gemeindebund, DIMR und BODYS. Abzurufen unter: www.bundestag.de/blob/478802/8143f89ef011cff143f5c4c991d95433/materialzusammenstellung-data.pdf (Stand 17.11.16).
[19] Vgl. Welti, a. a. O., S. 213; DIMR, a. a. O., S. 260 f.
[20] BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10 – 1 BvL 2/11 –; Vgl. Deutscher Caritasverband e. V., a. a. O., S. 47.
[21] Vgl. Wortprotokoll der Ausschussanhörung, S. 25, abzurufen unter: www.bundestag.de/blob/479214/d765c570dca9f1439e908ea2e467ce7d/wortprotokoll-vorabfassung-data.pdf (Stand: 17.11.16).
[22] Vgl. Drs. 428/16.
[23] Dies ergibt sich zum einen aus der Begründung der Norm zu § 100 SGB IX-E. als auch insbesondere aus zwei Antworten der Bundesregierungen auf kleine Anfragen im Frühjahr und Sommer 2016 (Vgl. Drs. 18/7831, S. 5; Drs. 18/9009, S. 3).
[24] Vgl. Art. 19, 21, 22 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU.
Bundesteilhabegesetz (BTHG), Eingliederungshilfe, Migration
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