16.11.2015 E: Recht der Dienste und Einrichtungen Walling: Beitrag E12-2015

Leistungen zur Teilhabe der Gesetzlichen Rentenversicherung zwischen Ausschreibungspflicht und Wunsch- und Wahlrecht

Zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2014 unter besonderer Berücksichtigung des Wunschrechts aus § 9 I Sozialgesetzbuch IX in der gesetzlichen Rentenversicherung

Der Autor Fabian Walling befasst sich in seinem Beitrag mit dem derzeit im Anhörungsverfahren befindlichen Vergaberechtsmodernisierungsgesetz und der Ausschreibungspflicht von Leistungen zur Teilhabe der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Er gelangt zu dem Ergebnis, dass europäisches Vergaberecht für die meisten Teilhabeleistungen der GRV nicht anwendbar sei. Dennoch seien die Grundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung bei den Vertragsschlüssen zwischen Rentenversicherung und Leistungserbringern einzuhalten.

(Zitiervorschlag: Walling: Leistungen zur Teilhabe der Gesetzlichen Rentenversicherung zwischen Ausschreibungspflicht und Wunsch- und Wahlrecht; Forum E, Beitrag E12-2015 unter www.reha-recht.de; 16.11.2015)


 

Im Mittelpunkt des gerade im Anhörungsverfahren befindlichen Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes steht für Leistungserbringer und Rehabilitationsträger derzeit eine Neufassung von § 130 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB-E).[1] Die Vorschrift soll den Art. 74 ff. Richtlinie (RL) 2014/24/EU gerecht werden, die für soziale und andere besondere Dienstleistungen nicht die Anwendung der strengeren Verfahrensvorschriften für öffentliche Aufträge der Art. 25 ff. RL 2014/24/EU vorsehen, sondern ab einem – höheren – Schwellenwert von 750.000 Euro lediglich Transparenz und Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer einfordern, wobei den Besonderheiten der jeweiligen Dienstleistungen Rechnung zu tragen ist (vgl. Art. 76 Abs. 2 RL 2014/24/EU). Der europäische Gesetzgeber hat dabei die (grenzüberschreitenden) Grundfreiheiten im Blick und schränkt Anwendungsbereich und Anforderungen der Richtlinie für personenbezogene Dienstleistungen ein, da diese in einem besonderen Kontext erbracht werden und für Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten von eingeschränktem Interesse sind.[2]

Politisch dürften europaweite Ausschreibungsverfahren nicht gewollt sein. Die Erfahrungen von Ausschreibungen gerade im Bereich der Bücher des Sozialgesetzbuchs (SGB) II, III und XII der letzten Jahre dürften zeigen, dass eine wesentliche Angebotsverschlechterung das Ergebnis war.[3]

Dass Leistungen zur Teilhabe unter den Begriff der sozialen Dienstleistungen fallen, dürfte unproblematisch sein.[4] Lediglich wenn sie als nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse organisiert werden, unterliegen diese Dienstleistungen nicht der Richtlinie.[5] Dem nationalen Gesetzgeber wird gerade für die sozialen Dienstleistungen ein Struktursicherungsauftrag übertragen, wonach die Notwendigkeit,[6] Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit solcher Dienstleistungen sichergestellt wird. Die Mitgliedstaaten können auch vorsehen, dass die Auswahl auf Grundlage des besten Angebots mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis unter Berücksichtigung von Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien getroffen wird. Es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, die anwendbaren Verfahrensregeln festzulegen.

Im nunmehr im Anhörungsverfahren befindlichen § 130 GWB-E hat sich der Gesetzgeber bei der Beschaffung sozialer Dienstleistungen öffentlicher Auftraggeber für bestimmte Arten der Vergabe entschieden.

Fraglich ist, ob Vertragsschlüsse mit Leistungserbringern nach § 21 SGB IX überhaupt unter den Begriff des Auftrags fallen oder es sich um eine bloße Zulassung[7] handelt. Als Abgrenzungskriterium zwischen Auftragsvergabe und Zulassung bietet sich das Kriterium der Selektivität an, vgl. Erwägungsgrund 4 RL 2014/24/EU, so dass z. B. die Zulassung eines Arzneimittels und ärztlicher Dienstleistungen bei einer Auswahl durch den Kunden oder bei Dienstleistungsgutscheinsystemen ausdrücklich nicht unter die Richtlinie fallen.

Dieser Vergleich mit ärztlichen Dienstleistungen, die in Erwägungsgrund 4 der RL 2014/24/EU beispielhaft genannt werden, zeigt, dass eine Bedarfsprüfung, wie sie aufgrund der Strukturverantwortung aus § 19 Abs. 1 S. 1 SGB IX im Rahmen von Vertragsschlüssen nach § 21 SGB IX mit Erbringern von Leistungen zur Teilhabe durchgeführt werden, nicht für das Vorliegen von Selektivität bzw. einen Auftrag sprechen.[8] Denn gerade für den Bereich der medizinischen Versorgung sind Bedarfsprüfungen typisch.[9]

Danach fallen Leistungen, die in sozialrechtlichen Dreiecksverhältnissen durch die Versicherten unmittelbar ausgewählt werden, nicht unter den Begriff des öffentlichen Auftrags.[10] Offensichtlich ist dies bei Leistungen durch ein Persönliches Budget oder aufgrund des Wahlrechts nach § 9 Abs. 2 SGB IX. Aber auch bei den übrigen Leistungen zur Teilhabe liegen regelmäßig nur eine Zulassung und kein Auftrag im Sinne des Vergaberechts vor. Zwar entscheidet der Rehaträger nach § 13 SGB VI über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen. Berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten wird dabei aber nach dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 S. 1 SGB IX entsprochen.

Dieses Ergebnis deckt sich mit den Ausführungen in der Gesetzesbegründung, wonach (auch) die Zulassung von Dienstleistungserbringern im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis und die Zulassung von Pflegeeinrichtungen nicht der RL 2014/24/EU unterliegen.[11] Ein Grund dafür, dass der Gesetzgeber weiter Leistungen zur Teilhabe in der Gesetzesbegründung nicht genannt hat, ist nicht erkennbar. Vermutlich handelt es sich lediglich um Beispiele.

Damit liegt bei den Vertragsschlüssen der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 21 SGB IX mit Leistungserbringern kein öffentlicher Auftrag im Sinne der RL 2014/24/EU vor. Bei europarechtskonformer Auslegung von § 103 GWB-E ist damit auch nicht der Anwendungsbereich von § 130 GWB-E eröffnet. Wirklicher Auftraggeber für die konkrete Leistung ist der Leistungsberechtigte.[12] Eine Klarstellung in § 103 GWB-E wäre wünschenswert.[13]

Haben die Rehabilitationsträger nunmehr freie Hand beim Abschluss der Verträge nach § 21 SGB IX? Dass die Leistungserbringung durch eigene Einrichtungen – sogenannte Inhouse-Vergaben – ohne Anwendung von Vergaberecht möglich ist, stellen einerseits Erwägungsgrund 114, andererseits § 108 GWB n. F.[14] heraus. Diesbezüglich haben die Rehabilitationsträger also im Rahmen ihres Sicherstellungsauftrags sowie den Grundsätzen von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit freie Hand.

Folgt man der dargestellten Ansicht, fordert noch § 22 Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung (SVHV) in Verbindung mit § 78 SGB IV grundsätzlich eine öffentliche Ausschreibung für die Vergabe gesetzlicher oder satzungsmäßiger Versicherungsleistungen. Dies umfasst nach herrschender Meinung insbesondere die Verträge zwischen Versicherungsträgern und Leistungserbringern.[15] Hiervon kann nur abgesehen werden, sofern die Natur des Geschäfts oder besondere Umstände dies rechtfertigen. Nach der hier vertretenen Ansicht könnte z. B. der Wunsch nach einer bestimmten Leistung eines speziellen Leistungserbringers das Absehen von einer Ausschreibung rechtfertigen. Unter Hinweis auf § 78 S. 2 SGB IV, wonach die Besonderheiten der Sozialversicherung zu berücksichtigen sind, wird argumentiert, dass besondere Umstände im Sachleistungsprinzip und der Vielzahl der notwendigen Verträge lägen, die eine Ausschreibung von Leistungen zur Teilhabe unmöglich machten.[16] Dem folgend könnte man eine Ausschreibungspflicht sui generis in Anlehnung an die §§ 97 ff. GWB fordern.[17] Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung weist allgemein auf die aus Art. 3 Abs. 1, 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) durch die Verwaltung einzuhaltenden Mindeststandards hin: Gleichbehandlung, Transparenz, Nichtdiskriminierung und eine Faire Chance auf Erteilung des Zuschlags.[18] Dem entsprechend folgert der Europäische Gerichtshof aus den europäischen Grundfreiheiten, dass bei der Vergabe von Leistungen durch öffentliche Auftraggeber die Grundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung einzuhalten seien.[19]

Zu klären wäre abschließend noch, ob nicht erst in der Konkretisierung der Leistung eine Vergabe durch einen öffentlichen Auftraggeber liegt und diese den o. g. Kriterien unterliegen müsste. Die Leistung wird bei der Ausübung des Wunschrechts durch den Berechtigten und den Leistungsträger konkretisiert, so dass das Kriterium des öffentlichen Auftraggebers zweifelhaft ist. Eine Bindung des an der Entscheidung maßgeblich partizipierenden Leistungsberechtigten an die Grundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung und auch an den Grundsatz der fairen Chance kann nicht gewollt sein. Denn es handelt sich bei diesen Pflichten um solche, die aus den Grundrechten entspringen und daher grundsätzlich den Staat, nicht aber den Bürger verpflichten, vgl. Art. 1 Abs. 3 GG. Gleiches gilt wohl auch hinsichtlich der durch diese Grundsätze Begünstigten: der Leistungsberechtigte kann nicht dazu verpflichtet sein, die Gründe für seinen Wunsch gegenüber anderen Leistungserbringern zu rechtfertigen und damit für Transparenz seiner Entscheidung zu sorgen. Es wäre für die Verwaltung weder leistbar noch aufgrund des Sozialdatenschutzes vertretbar, Einzelentscheidungen gegenüber konkurrierenden Leistungserbringern transparent darzustellen.

Damit verbleibt es bei dem oben Gesagten. Lediglich ein „Vergaberecht-light“ ist de lege lata[20] beim Abschluss der Verträge nach § 21 SGB IX über Leistungen zur Teilhabe der Rentenversicherung einzuhalten.[21]

Fußnoten:

[1] Vgl. die Stellungnahme des Bundesrats, BR-Drs. 367/15 vom 25.09.2015, unter www.forum-vergabe.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Bundesrat_367-15_B_.pdf [04.11.2015]; Der BDA bezeichnet in einer aktuellen Stellungnahme die Anwendbarkeit von Vergaberecht bei Rehaleistungen als unklar und fordert eine Klarstellung im aktuellen Gesetzentwurf, vgl. BDA, Modernes Vergaberecht für soziale Dienstleistungen ermöglichen, Stellungnahme vom 27.10.2015, unter www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/C5210D6AAFFC3B3FC1257EED00404C0F/$file/Stn-Vergaberecht-fuer-soziale-Dienstleistungen.pdf [10.11.2015].

[2] Vgl. Erwägungsgrund 114 der RL 2014/24/EU.

[3] Vgl. etwa Stellungnahme des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit vom Juni 2012 unter www.jugendsozialarbeit.de/media/raw/KV_Positionspapier_Vergabe.pdf [11.11.2015].

[4] Artikel 74 RL 2014/24/EU i. V. m Anhang XIV, CPV-Code 75300000-9; auf Hilfsmittel wie z. B. Hörgeräte oder orthopädische Sicherheitsschuhe wird hier aus Vereinfachungsgründen nicht eingegangen.

[5] Fußnote 1 zu RL 2014/24/EU, Anhang XIV.

[6] Bei der Notwendigkeit dürfte es sich um ein Redaktionsversehen in der deutschen Version der RL 2014/24/EU handeln. In der englischen Version werden nur folgende sechs Qualitäten der Dienstleistungen genannt: quality, continuity, accessibility, affordability, availability and comprehensiveness of the services, während in der deutschen Übersetzung die siebte Qualität der Notwendigkeit aufgeführt wird.

[7] In der englischen Fassung der RL 2014/24/EU „authorization schemes“ genannt.

[8] Die grundrechtliche Problematik der Bedarfsprüfung im Lichte von Art. 12 GG ist hier nicht Prüfungsgegenstand.

[9] Vgl. etwa §§ 99 ff. SGB V für die kassenärztliche Versorgung.

[10] Ähnlich für den Bereich der Konzessionen der Erwägungsgrund 13 der RL 2014/23/EU, wobei kein Grund ersichtlich ist, diese Erwägung nicht auch auf den Auftragsbegriff anzuwenden.

[11] Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 08.07.2015, S. 141, unter www.forum-vergabe.de/fileadmin/user_upload/Downloads/2015.07._Gesetzentwurf_der_Bundesregierung.pdf [04.11.2015].

[12] Wilke, Ausschreibungen in der beruflichen Rehabilitation NZS 2012, S. 444 ff., 446.

[13] DEGEMED, Stellungnahme vom 26.06.2015, S. 2 ff., unter www.degemed.de/images/phocadownloads/Politik_und_Positionen/Stellungnahmen/15-06-26%20degemed%20stellungnahme%20vergmodg.pdf [05.11.2015].

[14] Die Abkürzung „n. F.“ steht für „neue Fassung“.

[15] Brandts/Wirth, Haushaltsrecht in der Sozialversicherung, § 22 SVHV Rn. 6.

[16] Thüsing, Europäisches Vergabe- und Kartellrecht als Herausforderung für die deutsche Sozialversicherung, S. 24; Welti/Fuchs/Köster, Leistungserbringungsrecht, S. 109; in der Umsetzung des SGB IX ist gerade die geringe Zahl der Selektivverträge nach § 21 SGB IX problematisch.

[17] Für den Bereich des SGB V: Rixen, GesR 2006, S. 49, 56.

[18] Thüsing, Vergabe- und Kartellrecht (Fn. 15), S. 57, mit   Hinweis  unter  anderem auf Becker/Kingreen u. a., SGB V, 2008, § 69 Rn. 45; verfassungsrechtliche Bedenken, wonach Grundrechte der Leistungserbringer gegen eine Ausschreibungspflicht sprechen, überzeugen nicht, vgl. Wilke, Ausschreibungen in der beruflichen Rehabilitation, S. 444, 446.

[19] Thüsing, a. a. O., mit Hinweis  auf EuGH, Urteil vom 13.04.2010, Rs. C-91/08, EWS 2010, S. 188.

[20] „de lege lata“ bedeutet „nach geltendem Recht“.

[21] Vgl. zu einem Reformvorschlag: DEGEMED, a. a. O., S. 4 f.


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