12.07.2022 Rechtsprechung

Anspruch auf Budget für Arbeit – auch ohne formale Bildungsmaßnahme

Der Anspruch auf ein Budget für Arbeit (BfA) setzt die sogenannte „Werkstattfähigkeit“ voraus, nicht aber zwingend eine vorherige berufliche Ausbildung. So urteilte das Sozialgericht (SG) Nürnberg am 24. November 2021 und verpflichtete einen Träger der Eingliederungshilfe zur Übernahme eines unbefristeten BfA für einen jungen Mann mit Down-Syndrom im Rahmen der Beschäftigung in einem Haus für Kinder und Familien (Az. S22 SO 59/19).

Der 1997 geborene Kläger ist infolge einer Trisomie 21-Erkrankung sowie Diabetes Mellitus Typ 1 mit einem GdB von 100 schwerbehindert. Noch während der Schulzeit absolvierte er wöchentlich im „Haus für Kinder und Familien“ der örtlichen Kirchengemeinde einen Praxistag. Kurz vor dem Ende seiner Schulpflicht machte er dann ein Schülerpraktikum in der Einrichtung. Zwischen September 2017 und Februar 2018 führte er das unbezahlte Praktikum mit einer 20 Stunden-Woche fort. Ab dem 1. März 2018 war er im selben Umfang im hauswirtschaftlichen Bereich der Kita ehrenamtlich tätig.

Der Kita-Träger bot dem Mann nach einiger Zeit ein voll versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit 20 Stunden pro Woche bei ortsüblicher Entlohnung für ungelernte Arbeitskräfte an. Er sei während der Praktika erfolgreich in die Einrichtung integriert worden. Man habe Fortschritte beobachtet und er erbringe ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. Davon profitiere die Einrichtung im hauswirtschaftlichen Bereich sowie im Rahmen der Vermittlung gelebter Inklusion gegenüber Kindern und Eltern. Wegen seines stark verringerten Arbeitstempos sei jedoch ein Minderleistungsausgleich von 75% nötig. Außerdem müsse der Mitarbeiter wegen seiner Defizite in Kommunikationsfähigkeit, Konzentration und Informationsverarbeitung gerade zu Beginn des Arbeitsverhältnisses bei der Arbeit intensiv durch eine Assistenzkraft angeleitet und begleitet werden.

Die Mutter des Klägers beantragte am 22. Dezember 2017 und am 18. Mai 2018 für ihren Sohn ein Budget für Arbeit als Leistung der Eingliederungshilfe ab dem 1. März 2018 in Form eines Lohnkostenzuschusses von 75% sowie für den von ihr selbst organisierten Betreuungsaufwand in Höhe von monatlich 1.237,20 EUR.

Der Beklagte teilte formlos mit, dass ein Budget für Arbeit nicht in Betracht komme, weil der Kläger vorab eine berufliche Ausbildung durchlaufen müsse.

Verneinung der Werkstattfähigkeit nur unter strengen Voraussetzungen

Aus der sozialmedizinischen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 28. Februar 2018 geht hervor, dass der Kläger kein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt habe. Die Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sei angezeigt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eingliederung in eine WfbM lägen vor. Diese Einschätzung teilte der Eingliederungshilfeträger nicht. Der Kläger habe unmittelbar nach dem Ende der Schulpflicht „nur“ Praktika und ehrenamtliche Tätigkeiten im Kindergarten ausgeführt. Somit bestehe kein Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer WfbM. Dies setze die Gewährung eines Budgets für Arbeit aber voraus. Hiervon könne auch nicht ausnahmsweise abgewichen werden. Mit Bescheid vom 27. Juli 2018 lehnte der Beklagte die Bewilligung eines Budgets für Arbeit ab.

Der Kläger trat die ihm angebotene Stelle zum 1. März 2019 trotzdem an. Im Rahmen eines Eilverfahrens S 20 SO 19/19 ER vor dem Sozialgericht Nürnberg erklärte sich der Beklagte nach richterlichem Hinweis sodann bereit, vorläufig einen Lohnkostenzuschuss von 75% sowie die Kosten für eine Begleitperson in Höhe von monatlich 1.000 EUR zu übernehmen.

Am 19. März 2019 hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben. Er begehrt für seine Beschäftigung einen Lohnkostenzuschuss und Betreuungsaufwendungen als Budget für Arbeit gemäß § 61 SGB IX, hilfsweise als Persönliches Budget nach § 29 SGB IX oder als sonstige Teilhabeleistung.

Das SG Nürnberg gab dem Kläger recht. Es verstehe sich unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention von selbst, dass die Verneinung der Werkstattfähigkeit nur unter strengen Voraussetzungen möglich sei (so ausdrücklich Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 58 SGB IX, Stand: 15.01.2018, Rn. 33). Der Kläger erbringe unzweifelhaft eine Arbeitsleistung in diesem Sinne. Er arbeite nunmehr seit Jahren in dem Kindergarten. Sein Arbeitgeber habe ausdrücklich bestätigt, dass er eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringe und ihm deshalb auch das reguläre Beschäftigungsverhältnis angeboten habe.

Erfahrung und erworbene Fähigkeiten zählen

Der Bewilligung eines Budgets für Arbeit stehe in diesem konkreten Einzelfall – abweichend vom Grundsatz – nicht entgegen, dass der Kläger zuvor keine berufsbildende Maßnahme durchlaufen hat. Der in § 61 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 58 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB IX aufgestellte Grundsatz, dass vor Bewilligung eines Budgets für Arbeit zunächst eine berufliche Bildungsmaßnahme durchlaufen werden muss, solle sicherstellen, dass die betroffene Personengruppe zunächst die notwendigen Fähigkeiten für die angestrebte Tätigkeit erwirbt. „Von dieser Voraussetzung kann jedoch abgewichen werden, wenn der Mensch mit Behinderungen bereits über die für die in Aussicht genommene Beschäftigung erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, die er durch eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erworben hat (§ 58 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz SGB IX)“, so das SG Nürnberg in seiner Begründung.

Nachdem, soweit ersichtlich, noch keine einschlägige Rechtsprechung zur genauen Auslegung dieser Ausnahmevorschrift existiere, legte das erkennende Gericht das Merkmal „Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ weit aus. Es sei nach der Überzeugung der Kammer auf die erworbenen Fertigkeiten abzustellen, also insbesondere auf die Frage, ob der Mensch mit Behinderungen bereits über die erforderliche Leistungsfähigkeit verfüge, die er für die in Aussicht gestellte Beschäftigung benötige. Es dürfe somit keine Rolle spielen, ob diese Fähigkeiten durch eine Bildungsmaßnahme, durch eine klassische sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt oder durch Praktika/ehrenamtliche Tätigkeiten erworben worden seien.

Im Ergebnis komme es auf die vorhandene „Berufserfahrung“ an und nicht auf eine formale Betrachtungsweise, um welche Art von Beschäftigung es sich rechtlich gehandelt hat bzw. ob es sich um eine entlohnte Tätigkeit gehandelt hat oder nicht.

Zum vollständigen Text des SG Nürnberg, Urteil v. 24.11.2021 – S 22 SO 59/19

(Quelle: Sozialgericht Nürnberg)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

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