24.03.2023 Sonstige Veröffentlichungen

Aufwertung oder Abbau? – Das Förderschulsystem in der aktuellen Bildungsforschung

In einem Gastbeitrag auf dem Online-Portal bildungsklick.de setzt sich die Pädagogin und Journalistin Dr. Brigitte Schumann kritisch mit der Forderung des Verbands Sonderpädagogik (vds) nach einer Aufwertung von Förderschulabschlüssen auseinander. Ihre These: Vielmehr als eine Erweiterung der Schulabschlüsse braucht es eine gemeinsame Strategie, um die „Unterschutzstellung“ des Förderschulsystems aufzugeben und ein hochwertiges inklusives Bildungssystem zu entwickeln.

Der vds hat die Kultusministerkonferenz (KMK) aufgefordert, für Schülerinnen und Schüler in den Bildungsgängen Lernen und Geistige Entwicklung eigene „kompetenzorientierte Schulabschlüsse“ zu schaffen und so die Etikettierung „ohne allgemeinen Schulabschluss“ durch eine Anerkennung ihrer erworbenen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen zu dokumentieren.

Schumann bezieht sich auf eine aktuelle Auswertung (2023), die der Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vorgenommen hat, wenn sie zitiert, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen deutlich seltener als in Förderschulen dem Risiko ausgesetzt sind, ihre Schule ohne Schulabschluss zu beenden. 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss seien Schulabgängerinnen und -abgänger einer Förderschule. Der Blick in eine aktuelle empirische Untersuchung von Joanna Blanck (2020) widerlege die Erwartung des vds, dass eine Erweiterung der Schulabschlüsse die weiteren Bildungschancen ihrer Schülerschaft nennenswert verbessern könne. Die Studie belege, dass Förderschülerinnen und -schüler häufig über geringes Selbstvertrauen und geringe Selbsttätigkeit verfügen und daher in ihrem Bewerbungsverhalten eingeschränkt sind. Die Studie könne auch nachweisen, dass die oft geringen Fähigkeiten, selbständige Entscheidungen zu treffen und soziale Beziehungen auszugestalten, auf ihre "schulische Identitätsbeschädigung" durch die Zuschreibung als „lernbehindert“ und „hilfebedürftig“ zurückzuführen sind.

Die vom vds zusätzlich geforderte Erweiterung der bundesweiten Schulabschluss-Statistik um die Kategorie „Zieldifferente Schulabschlüsse“ hätte für die Sonderpädagogik den Vorteil, dass Förderschülerinnen und -schüler aus der Negativbilanz der Statistik „herausgerechnet“ würden, merkt Schumann an.

Unabhängige Förderdiagnostik gefordert

„Vor allem den ehemaligen Förderschüler:innen gelingt es auch im Übergangssystem nicht Abschlüsse und Kompetenzen nachzuholen; vielmehr wirken auf sie erhebliche Exklusions- und Stigmatisierungseffekte“, zitiert Schumann den Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht Michael Wrase. Dieser hatte in seinem Gutachten „Das Recht auf Grundbildung und die Pflicht des Staates zur Sicherung des bildungsrechtlichen Existenzminimums“ (2020) im Auftrag der GEW empirische Befunde zur Leistungsbilanz der Förderschule zusammengefasst: „Die Institutionalisierung eines kompetenzarmen schulischen Umfelds ist besonders deshalb fatal, weil Bildungsdefizite von Erwachsenen – insbesondere in Deutschland – häufig an ihre Kinder weitergegeben, also ‚sozial vererbt‘ werden.“ Mehr als 60 Prozent der jungen Menschen, die in Deutschland dauerhaft ohne berufsqualifizierenden Abschluss bleiben, hätten eine Förderschule besucht, während es bei den Absolventinnen und Absolventen von Hauptschulen 18 Prozent seien.

Im Dezember 2022 hatten die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern einen konsequenten Abbau des Förderschulsystems, ein Verbot von Förderschulerrichtungen und eine unabhängige Förderdiagnostik gefordert. Schumann verweist zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erneut auf die Studie von Joanna Blanck. Diese habe nachweisen können, dass die sonderpädagogische Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs das Ergebnis einer „relativ willkürlichen Zuschreibung“ sei. – Die Bildungsforschung beobachte, dass die sonderpädagogische Diagnostik von Eigeninteresse geprägt sei.

Eine Gewährleistung von Grundbildung für alle Menschen werde durch das Förderschulsystem gründlich und grundlegend in Frage gestellt, bilanziert Schumann. „Bund und Länder sind daher verpflichtet, zur Sicherung des bildungsrechtlichen Existenzminimums eine gemeinsame Strategie für ein hochwertiges inklusives Bildungssystem zu entwickeln und die Unterschutzstellung des Förderschulsystems aufzugeben.“

Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von NRW. Der Titel ihrer Dissertation lautete: Ich schäme mich ja so! – Die Sonderschule für Lernbehinderte als ‚Schonraumfalle‘ (Bad Heilbrunn 2007). Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.

bildungsklick.de ist ein Nachrichtenportal im Bildungsbereich von der die-journalisten.de GmbH, beauftragt vom Didacta Verband der Bildungswirtschaft.

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(Quelle: die-journalisten.de GmbH)


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