14.12.2023 Rechtsprechung

Bezirk muss vorläufig Kosten für den Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte für ein ukrainisches Mädchen tragen

Auch bei einem befristeten Aufenthaltstitel kann als Anspruchsgrundlage für Leistungen der Eingliederungshilfe § 100 Abs. 1 S. 2 SGB IX herangezogen werden. Die Einschränkung auf Ermessensleistungen gemäß § 100 Abs. 1 S. 1 SGB IX gilt in diesem Fall nicht. Ob der Aufenthalt im Bundesgebiet voraussichtlich dauerhaft ist, ist im Rahmen einer Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. In einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht Nürnberg den Bezirk Mittelfranken dazu verpflichtet, für ein ukrainisches Mädchen mit Behinderungen vorläufig die Kosten für den Besuch einer Heilpädagogischen Tagesstätte bei zugrundegelegter Hilfebedarfsgruppe 1 zu tragen (Az. S 13 SO 166/23 ER).

Die 2014 geborene Antragstellerin ist ukrainische Staatsbürgerin und besitzt eine bis 4. März 2024 befristete Aufenthaltserlaubnis. Es besteht bei ihr u. a. eine Trisomie 21. Vormittags besucht sie eine Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung; für den (nachmittäglichen) Besuch der angeschlossenen heilpädagogischen Tagesstätte wurde im Mai 2023 die Kostenübernahme beantragt. Nach verschiedenen Gutachten sowie einer Anhörung lehnte das Sozialreferat des Bezirks Mittelfranken im Oktober 2023 den Antrag aus Ermessensgründen nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ab. Die Behörde begründete dies damit, dass sie von einem begrenzten Aufenthalt in Deutschland ausgehe. Die bei dem Kind festgestellte Hilfebedarfsgruppe 1 bedeute einen geringen Hilfebedarf, eine Betreuung und Förderung in einer heilpädagogischen Tagesstätte sei nicht erforderlich und nicht angemessen. Am 6. November 2023 wurde Widerspruch eingelegt. Beim Sozialgericht Nürnberg (SG) wurde der Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, weil es unzulässig sei, die Antragstellerin nach Ermessen von Leistungen der Eingliederungshilfe auszuschließen. Es sei von einem dauerhaften Aufenthalt im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB auszugehen.

Einstweiliger Rechtschutz

Das SG verpflichtet den Bezirk Mittelfranken vorläufig bis zum 4. März 2024 die Kosten für den Besuch der Heilpädagogischen Tagesstätte im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen und begründet seine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wie folgt: Nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX können Ausländer, die sich in Deutschland aufhalten, Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Eine Einschränkung auf Ermessensleistungen gilt nach Satz 2 dieser Vorschrift nicht für Ausländer mit einem befristeten Aufenthaltstitel, die sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten. Im Verfahren äußerte die Mutter der Antragstellerin, dass sie aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse und ihrer beruflichen Qualifikation davon ausgehe, in Deutschland beruflich gut Fuß fassen zu können. Sie führte zudem aus, dass in ihrer Heimatstadt Kiew alle Möglichkeiten der Eingliederungshilfe für ihre Tochter vernichtet und zerstört seien. Sie erwäge, im kommenden Jahr statt eines Aufenthaltstitels zur Gewährung von vorübergehendem Schutz (§ 24 AufenthG) einen Aufenthaltstitel zum Zwecke der Erwerbstätigkeit zu beantragen. Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde am 1. Dezember 2023 stattgegeben.

Die Voraussetzungen für die begehrte Leistung der Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung in Form des Besuchs der heilpädagogischen Tagesstätte lagen vor (§ 99 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX und § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und 3 SGB IX). Laut sozialmedizinischem Dienst des Antragsgegners besteht bei der Antragstellerin grundsätzlich ein Förderbedarf nach der Hilfebedarfsgruppe 1 in heilpädagogischen Tagesstätten. Das Gericht schließt, dass sich die Antragstellerin voraussichtlich dauerhaft im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX – und damit jedenfalls die nächsten, ihre physische und psychische Entwicklung besonders prägenden Jahre – im Bundesgebiet aufhalten wird. Dabei sei „dauerhaft“ nicht gleichbedeutend mit ‚für immer‘, sondern mit ‚auf nicht absehbare Zeit‘. Gesichtspunkte der Prognoseentscheidung seien berufliche, soziale und finanzielle Bindungen an Deutschland, die die Antragstellerin glaubhaft vorgetragen habe. Im Rahmen von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX steht der Antragstellerin ein zwingender Anspruch auf die für sie erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu. Ein Zuwarten bis zur rechtskräftigen Hauptsache­entscheidung nach ggf. mehrjährigen Gerichtsverfahren sei nicht hinnehmbar.

Angesichts der aktuell eher festgefahrenen Situation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine sei davon auszugehen, dass die im März 2024 für ukrainische Flüchtlinge auslaufenden Aufenthaltserlaubnisse nach § 24 AufenthG verlängert werden. (Zur Ergänzung: Die Bundesregierung hat inzwischen durch Rechtsverordnung festgelegt, dass die Aufenthaltserlaubnisse von vor dem Krieg Geflüchteten aus der Ukraine automatisch bis zum 4. März 2025 fortgelten.)

Eine beglaubigte Abschrift des Beschlusses stellt Der Paritätische Gesamtverband zum Download bereit: S 13 SO 166/23 ER

(Quelle: SG Nürnberg, Der Paritätische Gesamtverband/Fachinfo vom 11.12.2023)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

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