10.09.2020 Rechtsprechung

Vorlage eines Wiedereingliederungsplans als Antrag auf Fahrtkostenübernahme verstehen

Rehabilitationsträger haben die Übersendung eines Wiedereingliederungsplans im Zweifel als Antrag auf sämtliche Leistungen auszulegen, die im Zusammenhang mit der Rehabilitationsleistung ernsthaft in Betracht kommen, so das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern in einem Urteil vom 28. Mai 2020 (Az. L 6 KR 100/15). Im konkreten Fall wurde die Krankenversicherung dazu verurteilt, dem Kläger Fahrkosten als ergänzende Leistungen der stufenweisen Wiedereingliederung zu gewähren.

Zum Tragen kam bei der Entscheidung, dass ein Antrag auf Leistungen an keine Form gebunden ist. Des weiteren stellte das Gericht fest, dass auch die stufenweise Wiedereingliederung eine eigenständige Leistung der medizinischen Rehabilitation ist, bei der ergänzende Leistungen zu gewähren sind. Der Kläger hat daher gegen die beklagte Krankenversicherung einen Anspruch auf Erstattung seiner Fahrtkosten, die in der Phase der Wiedereingliederung entstanden sind.

Ein formloser Antrag

Der Kläger hatte vom 1. Juli 2012 bis 30. September 2012 bei seinem Arbeitgeber eine stufenweise Wiedereingliederung durchgeführt, wofür ihm kein anteiliges Arbeitsentgelt gezahlt worden war. Der Krankenversicherung hatte er Kopien der von Arzt und Arbeitgeber unterzeichneten Wiedereingliederungspläne kommentarlos Ende Mai 2012 vorgelegt. Die Krankenversicherung wertete die Übersendung der Pläne als Antrag auf Krankengeld. Telefonisch teilte sie dem Kläger Mitte Juni 2012 mit, dass ein Anspruch auf Krankengeld nicht bestünde und er sich an das Jobcenter wenden möge. In der Folge reichte der Kläger Anfang Juli 2012 beim Jobcenter die Originale der Wiedereingliederungspläne ein. Mitte Oktober 2012 forderte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten die Krankenkasse auf, seine Ende Mai 2012 eingereichten Unterlagen zu bescheiden, gegebenenfalls diese an den zuständigen Sozialleistungsträger weiterzuleiten.

Mit Bescheid vom 29. Oktober 2012 lehnte die Beklagte die Gewährung von Krankengeld ab. Zur Begründung verwies sie auf die Familienversicherung des Klägers, die keinen Anspruch auf Krankengeld beinhalte. Zudem wies sie darauf hin, dass sie eine Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit als nicht gegeben sehe.

Mit Schreiben vom 5. November 2012 legte der Kläger Widerspruch ein und führte aus, dass er – auch wenn kein Anspruch auf Krankengeld bestehe – einen Anspruch auf Teilhabeleistungen nach dem SGB IX habe. Auf seinen Widerspruch erhielt der Kläger erst am 16. Januar 2014 von der Beklagten einen Widerspruchsbescheid, nachdem diese im Rahmen einer Untätigkeitsklage per Gerichtsbescheid zum Erlass eines selben verurteilt worden war. Ein Anspruch des Klägers auf Leistungen wurde abermals verneint. Dabei hatte die Beklagte einen Anspruch auf Krankengeld, auf Erstattung von Kosten, die im Zusammenhang mit der Wiedereingliederung stehen und Übergangsgeld geprüft. Die Vorlage der Wiedereingliederungspläne habe sie als Antrag auf Krankengeld gewertet. Ein Antrag auf Teilhabeleistungen könne darin nicht gesehen werden. Auch sei ein entsprechendes Antragsbegehren des Klägers nicht erkennbar gewesen, weshalb die Beklagte in die Prüfung eines Rehabilitationsbedarfs überhaupt nicht hätte eintreten müssen.

Das Klageverfahren und die Berufung

Mit seiner am 4. Februar 2014 beim Sozialgericht Schwerin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichts­bescheid vom 13. November 2015 ab. Es stellte fest, dass dem Kläger infolge der Familienversicherung kein Anspruch auf Krankengeld zustünde. Eine Prüfung von Ansprüchen aus Leistungen zur Teilhabe nach §§ 4, 5 SGB IX könne offen bleiben, weil die Beklagte nicht erstangegangener Sozialleistungsträger sei. Dies folge aus der Übersendung der Kopien statt der Originale der Wiedereingliederungspläne an die Beklagte Ende Mai 2012. Eine Zuständigkeit der Beklagten aus § 14 SGB IX sei daher nicht gegeben.

In der Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern konkretisiert der Kläger sein Begehren und beantragt die Beklagte zur Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu verurteilen, hilfsweise ihm Teilhabeleistungen in Form von Mehraufwendungsersatz und Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Auf gerichtliche Nachfrage, welche Mehraufwendungen in welcher Höhe geltend gemacht werden, teilte der Kläger mit, dass ihm in der Zeit der Wiedereingliederung Fahrtkosten in Höhe von insgesamt 1.352 € entstanden seien. Das LSG urteilte, dass der Bescheid der Krankenversicherung vom 29. Oktober 2012 in Gestalt des Widerspruchs­bescheides vom 16. Januar 2014 rechtswidrig war, soweit es um die Ablehnung der Erstattung von Fahrkosten ging. Ein Anspruch auf unterhaltssichernde Leistungen in Form von Krankengeld oder Übergangsgeld bestehe hingegen nicht.

Zur Begründung führt das LSG aus:

  • Die Zuständigkeit der Beklagten als erstangegangener Träger ergibt sich aus § 14 SGB IX. Nach dem Grundsatz der Nichtförmlichkeit im Verwaltungsverfahren ist die Antragstellung an keine Form gebunden (vgl. § 9 SGB X). Danach beinhaltet jede Äußerung, die als Begehren auf bestimmte Teilhabeleistungen verstanden werden kann, einen Antrag. Ein Antrag liegt auch dann vor, wenn das Begehren in Einzelheiten noch unklar oder unvollständig ist.
  • Eine inhaltliche Konkretisierung ist deshalb nicht erforderlich, weil die Rehabilitationsträger verpflichtet sind, bei Ablehnung einer bestimmten Leistung Alternativen zu prüfen. Ein einmal gestellter Antrag ist umfassend auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen zu prüfen.
  • Die Beklagte hat den bei ihr gestellten Antrag nicht innerhalb von zwei Wochen an den nach ihrer Meinung zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet, so dass sich ihre Zuständigkeit bereits aus § 14 SGB IX ergibt.
  • Eine medizinische Rehabilitation in Form einer stufenweisen Wiedereingliederung war notwendig. Damit besteht für den Kläger auch ein Anspruch auf Erstattung der Reisekosten als ergänzende Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Dass es sich hierbei nicht um eine Ermessensentscheidung handelt, sondern um einen gebundenen Anspruch, leitet das LSG aus der gesetzlichen Formulierung in § 43 Abs. 1 und § 60 Abs. 5 SGB V ab.

Details zum Verfahren und zur Urteilsbegründung:

LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 28.05.2020, L 6 KR 100/15)

(Quelle: Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

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Kommentare (1)

  1. Wolfgang
    Wolfgang 27.09.2020
    Falsche Formel: Folgende Be­rech­nungs­for­mel ist irre­füh­rend und ma­the­ma­tisch falsch im Be­ru­fungs­ur­teil (in Klam­mern), da der Faktor 2 fehlt, wenn­gleich das an­ge­ge­be­ne End­er­geb­nis = 1.352 € passt:

    LSG MV: „Die einfache Entfernung von sei­nem Wohnort zu seinem Ar­beits­ort betrage 52 km. Die Wie­der­ein­glie­de­rung sei an 65 Ar­beits­ta­gen erfolgt. Die Mehr­auf­wen­dun­gen be­lie­fen sich dem­nach auf 1.352,00 € (65 Tage x 52 km x 0,20 € = 1.352,00 €).“
    www.dejure.org/2020,24755

    Rechnet man nach und mul­ti­pli­ziert 65 x 52 x 0,2, dann kommt ge­ra­de nicht, wie im Ur­teil an­ge­ge­ben, 1.352 € raus, son­dern nur 676 €, also le­dig­lich die Hälfte. Dem­nach zu­min­dest Auf­klä­rungs­feh­ler des Ge­richts.

    Korrekt müsste in diese Formel da­her noch der FAKTOR 2 ein­ge­fügt wer­den, da nicht nur 52 Hin­fahr­ten, son­dern na­tür­lich auch die 52 Rück­fahr­ten er­stat­tungs­fä­hig sind wie folgt: (65 Tage x 2 x 52 km x 0,20 € = 1.352,00 €).“

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