27.10.2021 A: Sozialrecht Conrad-Giese: Beitrag A38-2021

Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 4. März 2021 – B 11 AL 3/20 R

In dem vorliegenden Beitrag bespricht Dr. Maren Conrad-Giese das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4. März 2021 (B 11 AL 3/20 R). In der Entscheidung geht es um die Frage, ob Ausbildungsplätze, auf denen Teilnehmende von besonderen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß § 117 Abs. 1 Nr. 1a SGB III beschäftigt werden, als Pflichtarbeitsplätze im Sinne des § 156 Abs. 1 SGB IX berücksichtigt werden können.

Ein Träger für Maßnahmen nach dem SGB II und SGB III wandte sich gegen einen Feststellungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit, in dem diese drei Ausbildungsplätze, auf denen Maßnahmeteilnehmende beschäftigt wurden, nicht als besetzte Pflichtarbeitsplätze berücksichtigte. Laut BSG sei es nach dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht geboten, dass Ausbildungsplätze nur dann auf Pflichtarbeitsplätze angerechnet werden, wenn der Arbeitgeber über ihre Besetzung frei entscheiden kann und nicht, wenn er vertraglich dazu verpflichtet ist. Daher gelten Ausbildungsplätze, auf denen Teilnehmende von besonderen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben beschäftigt werden, nicht als Pflichtarbeitsplätze.

Die Autorin begrüßt die Entscheidung und unterstreicht, dass insbesondere Rehabilitationseinrichtungen eine besondere Vorbildfunktion hätten, wenn es um die Verwirklichung von Teilhabe am Arbeitsleben geht. Gerade diese Einrichtungen sollten die im Rahmen der Beschäftigungspflicht zu berücksichtigenden Arbeitsplätze nicht „kleinrechnen“, sondern ihre vorhandenen Strukturen und Kenntnisse zur regulären Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen nutzen.

(Zitiervorschlag: Conrad-Giese: Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 4. März 2021 – B 11 AL 3/20 R; Beitrag A38-2021 unter www.reha-recht.de; 27.10.2021)

I. Thesen der Autorin

  1. Rehabilitationseinrichtungen trifft eine besondere Verantwortung bei der Verwirklichung der Teilhabe am Arbeitsleben. Vorhandene Strukturen können hier Teilnehmenden an Leistungen sowie der Stammbelegschaft zugute­kommen.
  2. Für die Erfüllung der Beschäftigungspflicht können nur schwerbehinderte Menschen berücksichtigt werden, zu deren Gunsten diese Pflicht geregelt ist, die also auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt bzw. ausgebildet werden.

II. Wesentliche Aussagen des Urteils

  1. Ausbildungsplätze können nur auf Pflichtarbeitsplätze angerechnet werden, wenn der Arbeitgeber über ihre Besetzung frei entscheiden kann und nicht, wenn er vertraglich dazu verpflichtet ist.
  1. Ausbildungsplätze, auf denen Teilnehmende beschäftigt werden, die besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten (§ 117 Abs. 1 Nr. 1a SGB III), sind keine Arbeitsplätze im Sinne der Beschäftigungspflicht (§ 156 Abs. 1 SGB IX).

III. Der Sachverhalt

Der Kläger ist ein eingetragener Verein und u. a. ein zugelassener Träger für Maßnahmen nach dem SGB II und SGB III. Hierzu gehören z. B. Maßnahmen der Berufswahl und Berufsausbildung (§§ 48ff. SGB III) oder Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben (§§ 112 ff. SGB III). Zu diesem Zweck hat die Klägerin mit der Beklagten, der zuständigen Agentur für Arbeit (BA), einen Vertrag über Leistungen nach § 117 Abs. 1 Nr. 1a SGB III in vergleichbaren Einrichtungen (§ 51 SGB IX, vor den Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz: § 35 SGB IX a. F.) geschlossen. Danach werden dem Kläger von der BA Teilnehmer und Teilnehmerinnen zugewiesen, die dieser entsprechend den Aufnahmekapazitäten und vorhandenen Spezialisierungen und Berufsfelder aufnimmt. Die Leistungen des Klägers werden durch einen monatlichen Festpreis abgegolten.

Dem Kläger wurden drei schwerbehinderte Teilnehmende zugewiesen. Diese absolvierten bei ihm eine dreijährige Ausbildung, wofür der Kläger mit ihnen jeweils einen Berufsausbildungsvertrag abgeschlossen hatte. Eine Ausbildungsvergütung zahlte er nicht. Vielmehr gewährte die Bundesagentur den Teilnehmenden Ausbildungsgeld und übernahm auch die angefallenen Sozialversicherungsbeiträge.

Im Frühjahr 2015 erklärte der Kläger im Rahmen des Anzeigeverfahrens nach § 163 SGB IX (§ 80 SGB IX a. F.), dass von den zu berücksichtigen 3254 Arbeitsplätzen nach § 156 SGB IX (§ 73 Abs. 1 bis 3 SGB IX a. F.) für das Jahr 2014 das Soll der Pflichtarbeitsplätze 163 betrage. 134 Pflichtarbeitsplätze seien tatsächlich besetzt gewesen, sodass 29 Pflichtarbeitsplätze unbesetzt blieben. Bei der Berechnung berücksichtigte der Kläger die drei zugewiesenen Teilnehmenden mit Verweis auf § 159 Abs. 2 SGB IX (§ 76 Abs. 2 SGB IX a. F.) doppelt für jeden Monat des Jahres.

Die Bundesagentur korrigierte die Angaben der anrechenbaren Beschäftigten im Hinblick auf die angegebenen Auszubildenden und dementsprechend die Anzahl der unbesetzten Pflichtarbeitsplätze. Danach setzte sie die Zahl der unbesetzten Pflichtarbeitsplätze auf insgesamt 101 fest. Sie teilte mit, dass die drei Auszubildenden als Maßnahmenteilnehmer nicht bei der Besetzung der Pflichtarbeitsplätze berücksichtigt werden könnten. Ein Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX (§ 73 SGB IX a. F.) liege bei ihnen nicht vor, da sie nicht tatsächlich in den Betrieb der Klägerin eingegliedert seien bzw. kein Ausbildungsplatz vorliege. Der Kläger legte dagegen erfolglos Widerspruch ein und erhob anschließend Klage beim Sozialgericht. Diese begründete er mit der Auffassung, dass bei der Berechnung der besetzten Pflichtarbeitsplätze auch Stellen zu berücksichtigen seien, in denen Auszubildende zur beruflichen Beschäftigung beschäftigt werden. Unerheblich seien dabei die sozialversicherungsrechtliche Bewertung oder ob für die Tätigkeit ein Entgelt vereinbart sei.

Das Sozialgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Auch die Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) blieb erfolglos. Dagegen wandte sich der Kläger mit der Revision. Er brachte als weiteres Argument vor, dass auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Wahlrecht von Maßnahmenteilnehmenden zur Schwerbehindertenvertretung[1] für seine Auffassung spräche.

IV. Die Entscheidung

Die Entscheidung wurde vom Bundessozialgericht (BSG) im Grunde bestätigt. Dennoch wurde das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen. Hinsichtlich der wesentlichen Rechtsfragen bestätigte das BSG jedoch die Ansichten der Beklagten und der bisherigen Entscheidungen. Laut BSG war die Anzeige des Klägers hinsichtlich der besetzten Pflichtarbeitsplätze für 2014 fehlerhaft, sodass der Feststellungsbescheid von der Beklagten richtigerweise erlassen wurde. Ob der Feststellungsbescheid darüber hinaus aber insgesamt rechtmäßig gewesen ist, konnte das BSG nicht abschließend beurteilen. Es gab dem LSG auf, den Sachverhalt vollständig aufzuklären und entsprechend zu würdigen.

Der Kläger habe die drei Teilnehmenden zu Unrecht als Personen auf besetzten Arbeitsplätzen doppelt mitgezählt. Tatsächlich seien die drei auf keinem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 Abs. 1 SGB IX (§ 73 Abs. 1 a. F.) beschäftigt worden. Aus diesem Grund dürfe weder eine einfache noch eine doppelte Anrechnung vorgenommen werden. Die doppelt gezählten Arbeitsplätze in allen zwölf Monaten (3 x 2 x 12 = 72 Arbeitsplätze) sind daher von der Berechnung des Klägers abzuziehen. Somit sei die Feststellung der beklagten BA, nämlich, dass lediglich 62 Arbeitsplätze besetzt gewesen und 101 Pflichtarbeitsplätze unbesetzt waren, richtig.

Ein Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX (§ 73 SGB IX a. F.) liege aus verschiedenen Gründen nicht vor. Zu berücksichtigende Arbeitsplätze sind danach alle Stellen, auf denen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Beamte und Beamtinnen, Richter und Richterinnen sowie Auszubildende und andere zu ihrer beruflichen Bildung Eingestellte beschäftigt werden. Erforderlich seien dafür ein privat- oder öffentlich-rechtliches Anstellungsverhältnis und eine vom Arbeitgeber bzw. Dienstherrn eingerichtete „Stelle“. Auf dieser Stelle müsse auch eine Person „beschäftigt“ werden (dreigliedriger Arbeitsplatzbegriff). Dafür ist insbesondere die Abhängigkeit der Tätigkeit maßgeblich und nicht ihre sozialversicherungsrechtliche Bewertung. Die Voraussetzungen haben hier bei den drei Teilnehmenden nicht vorgelegen. Das BSG betont, dass Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht gerade voraussetzen, dass der Arbeitgeber frei darüber entscheiden kann, welche Person er auf der eingerichteten Stelle beschäftigt. Im vorliegenden Fall war der Kläger als Maßnahmenträger gegenüber der Beklagten jedoch verpflichtet, die Teilnehmenden entsprechend der Zuweisung einzusetzen. Die Gegenleistung war der vereinbarte Festbetrag. Die mit der Beschäftigungspflicht beabsichtigte Motivation von Arbeitgebern, sich trotz etwaiger Zusatzbelastungen für einen schwerbehinderten Bewerber bzw. eine schwerbehinderte Bewerberin zu entscheiden, könne in diesem Fall aufgrund der vertraglichen Verpflichtungen zur Beschäftigung nicht erreicht werden. Vielmehr habe es sich hier um eine vollständig von der Beklagten finanzierte Ausbildung gehandelt, für die der Kläger weder ein Ausbildungsgeld zahlte noch die Sozialversicherungsbeiträge übernahm. Vor diesem Hintergrund seien Details der mit den Teilnehmenden abgeschlossenen Verträge sowie ihre tatsächliche Eingliederung ohne Bedeutung. Bereits § 52 SGB IX (§ 36 SGB IX a. F.) mache deutlich, dass Rehabilitanden innerhalb von Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation eine besondere Stellung hätten, gerade nicht in den Betrieb der Einrichtung eingegliedert würden und auch keine Arbeitnehmer im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne seien.

Laut BSG fehle es darüber hinaus an einer tatsächlichen Eingliederung von Auszubildenden in betriebliche Strukturen. Dazu habe eine berufspraktische Ausbildung im Rahmen der arbeitstechnischen Zwecksetzung des Betriebes zu erfolgen. Im vorliegenden Fall gehören die zugewiesenen Maßnahmenteilnehmenden nämlich gerade nicht zur eigentlichen Betriebsorganisation. Vielmehr ist deren Ausbildung selbst Gegenstand des Betriebszweckes und setzte eine entsprechende Betriebsorganisation bereits voraus.

Schließlich würde eine Berücksichtigung in Fällen wie dem vorliegenden Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht unterlaufen. So könne die dauerhafte Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben nur dann effektiv verfolgt werden, wenn dort, wo die Regelungen (zur Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe) wirken, auch die Entscheidungen über die Beschäftigung getroffen werden. Dies ist bei den zugewiesenen Maßnahmenteilnehmenden gerade nicht der Fall. Außerdem wären Rehabilitationseinrichtungen dann in der Konsequenz bei ihrem eigenen Verwaltungs- und Pflegepersonal weniger motiviert bzw. verpflichtet, die Beschäftigungspflicht einzuhalten und auf diesen Arbeitsplätzen schwerbehinderte Menschen zu beschäftigten.

Anders als noch das LSG ging das BSG nicht auf mögliche Ausnahmeregelungen[2] ein, da es bereits an einer Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 Abs. 1 SGB IX (§ 73 Abs. 1 SGB IX a. F.) mangelte. Vor diesem Hintergrund kam es auf Ausnahmen nicht an.

Schließlich führte auch die Argumentation des Klägers hinsichtlich des Wahlrechts von Maßnahmenteilnehmenden zur Schwerbehindertenvertretung zu keiner anderen Bewertung. So knüpft das Wahlrecht gerade nicht an die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 Abs. 1 SGB IX (§ 73 Abs. 1 SGB IX a. F.) an, sondern vielmehr an der umfassenden Zuständigkeit der Schwerbehindertenvertretung, die eben auch die Interessen von nicht eingegliederten Maßnahmenteilnehmenden einschließt.

V. Würdigung/Kritik

Der Entscheidung des BSG ist zuzustimmen. Es hat ebenso wie bereits das LSG mit seinen Ausführungen Sinn und Zweck der Regelungen der §§ 154 ff. SGB IX (§§ 71 ff. SGB IX a. F.) deutlich gemacht.

Nach § 154 SGB IX (§ 71 SGB IX a. F.) sind private und öffentliche Arbeitgeber dazu verpflichtet, wenn sie monatlich über mindestens 20 Arbeitsplätze im Sinne des § 156 SGB IX verfügen, 5% davon mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Wird diese Quote nicht erfüllt, sieht § 160 SGB IX (§ 77 SGB IX a. F.) die Zahlung einer Ausgleisabgabe pro unbesetztem Arbeitsplatz vor. Mit den Einnahmen der Ausgleichs­abgabe wird die Teilhabe am Arbeitsleben, z. B. durch die finanzielle Unterstützung bei der Einrichtung behinderungsgerechter Arbeitsplätze, gefördert. Der Arbeitgeber kann sich hier nicht zwischen zwei Alternativen für die ihm passendere entscheiden. So hebt die Zahlung der Ausgleichsabgabe entsprechend § 160 Abs. 1 Satz 2 SGB IX die Beschäftigungspflicht gerade nicht auf. Vielmehr ist die Nicht-Einhaltung der Pflichtquote sogar eine Ordnungswidrigkeit nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX. Die Höhe der Ausgleichsabgabe ist – mit Ausnahme des § 160 Abs. 2 Satz 2 SGB IX – davon abhängig, wie weit die 5% unterschritten werden. Die monatlichen Sätze wurden zum 1. Januar 2021 etwas erhöht.[3] So beträgt sie 140 Euro bei jedem unbesetzten Pflichtarbeitsplatz, wenn der Arbeitgeber unter 5% bis 3% der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt hat. 245 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 2% bis weniger als 3% und 360 Euro, wenn lediglich weniger als 2% der zu berücksichtigen Arbeitsplätze besetzt werden. Oft wird die Höhe – auch nach der kürzlich erfolgten Erhöhung – als zu gering angesehen und vermutet, dass Arbeitgeber die Zahlung der Abgabe als wirtschaftlicher bewerten als die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen.[4] Aus diesem Grund gibt es in regelmäßigen Abständen von Verbänden behinderter Menschen und Gewerkschaften die Forderung, dass die Ausgleichsabgabe erhöht werden muss.[5]

Vorrangig zur Ausgleichszahlung ist das Ziel des Gesetzgebers, die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen zu fördern. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit der Regelung, die Chancen für Schwerbehinderte auf dem Arbeits- sowie Ausbildungsmarkt zu verbessern.[6] Dass dies weiterhin notwendig ist, zeigen die Ausbildungs- und Beschäftigtenzahlen der letzten Jahre. So sind weiterhin weniger schwerbehinderte Menschen (46,9%) erwerbstätig im Vergleich zu Menschen ohne Schwerbehinderung (75,2%), sie sind im Durchschnitt länger arbeitslos[7] und ihre Abgangsrate aus der Arbeitslosigkeit[8] in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist deutlich geringer[9]. Bestätigt wird dies auch durch die noch junge Regelung des Budgets für Ausbildung (in Kraft seit dem 1. Januar 2020: § 61a SGB IX).[10] Vergleichbar mit dem Budget für Arbeit geht es hier um einen Lohnkostenzuschuss, nämlich die anteilige Erstattung der Ausbildungsvergütung.[11]

Um die Einstellung von Auszubildenden weiter zu fördern, werden sie gem. § 159 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bei der Beschäftigungspflicht doppelt gezählt. In Ausnahmefällen, nämlich dann, wenn sich bei der Vermittlung behinderungsbedingt besondere Schwierigkeiten ergeben, ist sogar eine Anrechnung auf drei Pflichtarbeitsplätze möglich, § 159 Abs. 2 Satz 3 SGB IX. Der Begriff des Ausbildungsplatzes ist dabei zwar weit zu verstehen, sodass er nicht auf Berufsausbildungsplätze beschränkt ist, sondern auch Maßnahmen wie die Ausbildungsvorbereitung umfassen kann.[12] Eine so umfassende Betrachtung des Ausbildungsplatzbegriffes führt jedoch nicht dazu, dass sich auch Leistungserbringer bei der Erfüllung einer vertraglichen Pflicht gegenüber einem Leistungsträger auf die Vergünstigungen des § 159 Abs. 2 SGB IX berufen können. So kann sich bereits aus dem Sinn der Regelung (Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter auf dem Arbeitsmarkt) eine Vergünstigung nur für Personen bzw. Arbeits-/Ausbildungsplätze ergeben, die sich auf eben diesem Arbeitsmarkt befinden. Dies ergibt sich auch aus § 156 Abs. 2 SGB IX, der deutlich macht, welche Stellen nicht zu diesem Bereich gehören und darum nicht als Arbeitsplatz im Sinne des § 156 Abs. 1 SGB IX gelten. Die hier relevanten Leistungen sind dort zwar nicht ausdrücklich aufgeführt, allerdings ist klar – und das ist zwischen den beteiligten Parteien im vorliegenden Fall auch soweit unstreitig –, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen betrieblichen Ausbildungsplatz handelt. Vielmehr ist hier – wie das BSG überzeugend dargestellt hat – die Ausbildung im Rahmen der Maßnahmen Gegenstand des eigentlichen Betriebszwecks.

Darüber hinaus hat das BSG die besondere Verantwortung von Rehabilitationseinrichtungen bei der Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben herausgearbeitet.[13] Dass der Gesetzgeber hier zwischen verschiedenen Arbeitgebern unterscheidet, macht er auch durch besondere Pflichten für öffentliche Arbeitgeber deutlich (§ 165 SGB IX). Doch unabhängig davon, ob Rehabilitationseinrichtungen als öffentliche oder private Arbeitgeber agieren, haben sie eine besondere Vorbildfunktion, was die Verwirklichung von Teilhabe (auch am Arbeitsleben) angeht. Deutlich wird dies etwa auch durch die ausdrückliche Regelung des § 38 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX. Hiernach müssen Verträge, die die Beziehungen der Rehabilitationsträger mit den verschiedenen Rehabilitationseinrichtungen und -diensten bestimmen, ausdrücklich auch die Beschäftigung eines angemessenen Anteils von Frauen mit Behinderungen, insbesondere schwerbehinderten Frauen, regeln. Wenn diese Einrichtungen die im Rahmen der Beschäftigungspflicht zu berücksichtigenden Arbeitsplätze bzw. die nicht besetzten Arbeitsplätze „kleinrechnen“ und damit ausdrücken, dass die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Belastung darstellt, wieso sollten dann Arbeitgeber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die Teilnehmer oder Teilnehmerinnen aus diesen Einrichtungen in ihren Betrieben beschäftigen? Gerade in diesen Einrichtungen herrschen nicht zuletzt wegen der vielfältigen Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedarfe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen bereits barrierearme Strukturen, die für eine Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im Rahmen der „Stammbelegschaft“ genutzt werden könnten.

Beitrag von Dr. jur. Maren Conrad-Giese, Dalitz

Fußnoten

[1] BAG, Beschluss vom 27.07.2001 – 7 ABR 50/99 –, BAGE 98, S. 151–156.

[2] § 156 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX bzw. § 73 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX a. F.; § 159 Abs. 2 Satz 2 SGB IX bzw. § 76 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a. F.; § 156 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX bzw. § 73 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX a. F. sowie § 156 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX bzw. § 73 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX a. F.

[3] Vgl. BMAS, Amtliche Bekanntmachung über die Anpassung der Ausgleichsabgabe, Banz AT 30.11.2020 B1.

[4] Deinert in Deinert/Welti, Stichwortkommentar Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, Pflichtquote, Rn. 1.

[5] So z. B. die Forderungen von VdK und SBV-Netzwerk zum SGB IX an die nächste Bundesregierung und den nächsten Deutschen Bundestag vom 09.09.2021 (https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/vdk-und-sbv-netzwerk-veroeffentlichen-forderungen-zur-bundestagswahl/, zuletzt abgerufen am 27.10.2021) oder die Stellungnahme des DGB vom 30.09.2019 zum „Gesetz zur Änderung des Neunten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften“ (https://www.dgb.de/-/Sso, zuletzt abgerufen am 27.10.2021). Siehe auch Beyerlein: Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich und Deutschland auf dem Prüfstand – Die Staatenberichtsprüfung nach Art. 34 UN-BRK aus verschiedenen Perspektiven; Beitrag D14-2020 unter www.reha-recht.de; 19.06.2020, S. 6.

[6] Bundestags-Drucksache 10/3138, S.18 f.

[7] Schwerbehinderte Arbeitslose: 43% ein Jahr und länger, nicht schwerbehinderte Arbeitslose: 34% ein Jahr und länger.

[8] Schwerbehinderte Arbeitslose: 9%, nicht schwerbehinderte Arbeitslose: 13,7%.

[9] Bundesagentur für Arbeit, Situation schwerbehinderter Menschen, Stand: Juli 2019, S. 7, 12, 13.

[10] Bundestags-Drucksache 19/13399, S. 23. Siehe dazu Gast-Schimank, Das Budget für Ausbildung im Angehörigen-Entlastungsgesetz – Teil I: Analyse des Gesetzentwurfs und der Stellungnahmen, Beitrag D18-2019 unter www.reha-recht.de; 15.10.2019.

[11] Ausführlicher dazu in der Gesetzesbegründung Bundestags-Drucksache 19/13399, S. 36 ff.

[12] Habel, Ausbildungsplätze sind nur dann auf Pflichtarbeitsplätze anzurechnen, wenn der Arbeitgeber über ihre Besetzung frei entscheiden kann, NZS 2020, 820; FKS-SGB IX-Kohlrausch, § 156, Rn. 28 ff.

[13] Das Gericht verwies in diesem Kontext auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (Urt. v. 26.03.1992, Az. 11 RAr 47/91, NZA 1993, 335), in dem sich eine ähnliche Problematik für betreute Schwerbehinderte in einer Werkstatt für behinderte Menschen zeigt. 


Stichwörter:

Pflichtarbeitsplatz, Ausgleichsabgabe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Beschäftigungspflicht, gesetzliche Beschäftigungspflicht, Berufliche Teilhabe, Schwerbehindertenrecht, SGB III, Bundesagentur für Arbeit (BA), Maßnahmen


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