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In diesem Beitrag setzt sich der Autor Roland Rosenow mit dem Antragserfordernis von Eingliederungshilfeleistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII auseinander. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII keinen Antrag voraussetzt. Dabei stützt sich der Autor auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Die Kenntnis des voraussichtlichen Bedarfs bewirke dementsprechend, dass der Träger der Jugendhilfe von Amts wegen ein Verwaltungsverfahren aufnehmen und den Rehabilitationsbedarf ermitteln müsse.
(Zitiervorschlag: Rosenow: Kein Antragserfordernis für Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII; Beitrag A1-2021 unter www.reha-recht.de; 15.01.2021)
Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe enthält keine Vorschrift, dass der Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erst durch einen Antrag ausgelöst wird. Ob für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gleichwohl ein Antragserfordernis besteht, ist in der Folge mehrerer Entscheidungen des BVerwG umstritten. Die Kommentarliteratur zieht sich gerne auf die Formel zurück, dass „jedenfalls kein förmlicher Antrag des Leistungsberechtigten erforderlich“[1] sei. Allerdings sei das Einverständnis der leistungsberechtigten Person notwendig. Da in einem Antrag regelmäßig auch die Erklärung des Einverständnisses zu sehen ist, wird vertreten, dass „der Streit, ob ein (konkludentes) Einverständnis oder ein formloser Antrag erforderlich ist, eher akademischer Natur“ sei.[2] Der Autor dieses Beitrags vertritt die Auffassung, dass für Leistungen nach § 35a SGB VIII kein Antragserfordernis besteht. Er meint, dass diese Frage von praktischer Bedeutung ist.
Für Leistungen der Sozialversicherung normiert § 19 SGB IV, dass diese mit Ausnahme der Leistungen der Unfallversicherung grundsätzlich auf Antrag erbracht werden, soweit sich aus dem Gesetz nichts Abweichendes ergibt. Für steuerfinanzierte Sozialleistungen existiert keine vergleichbare übergreifende Regelung. Für die überwiegende Zahl der Leistungen sehen die jeweiligen Vorschriften aber vor, dass sie nur auf Antrag erbracht werden.[3]
Ein Antrag auf Sozialleistungen ist eine einseitige, empfangsbedürfte Willenserklärung im Gebiet des öffentlichen Rechts. §§ 116 ff. BGB sind anzuwenden.[4] Ein Antrag ist eine Verfahrenshandlung und setzt rechtliche Handlungsfähigkeit (§ 11 SGB X) voraus.[5] Anträge können grundsätzlich nur von der Person (bzw. für sie) gestellt werden, die einen Anspruch geltend macht. Die Auslegung folgt dem Meistbegünstigungsgrundsatz.[6] Daneben sind die Vorschriften des BGB über die Auslegung von Willenserklärungen „entsprechend anwendbar, sofern das Sozialrecht keine speziellen Regelungen trifft“.[7] Ein Antrag muss damit
In aller Regel besteht kein Formerfordernis. Anträge auf Sozialleistungen können daher zumeist auch mündlich oder konkludent gestellt werden. Gelegentlich besteht Schrift-formerfordernis.[8] Für alle Sozialleistungen gilt, dass die verjährungshemmende Wirkung eines Antrags dessen Schriftlichkeit voraussetzt, § 45 Abs. 3 SGB I.
Wird der Antrag durch Vertreter gestellt, muss darüber hinaus der Wille, in fremdem Namen zu handeln, erkennbar sein (§ 164 Abs. 2 BGB). Daher muss nicht nur die vertretende Person, sondern auch die vertretene Person identifizierbar sein, notfalls durch Auslegung der Erklärung. Der Meistbegünstigungsgrundsatz ist auch insoweit zu beachten. § 16 Abs. 3 SGB I verpflichtet die Sozialleistungsträger, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt werden. Das umfasst auch die Verpflichtung zu entsprechenden Hinweisen oder Rückfragen, wenn nicht ohne weiteres erkennbar ist, von wem oder in wessen Namen ein Antrag gestellt wird.
Ein Antrag löst ein Verwaltungsverfahren aus (§ 18 SGB X), das „einfach, zügig und zweckmäßig“ durchzuführen ist (§ 9 SGB X) und in der Regel mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes oder dem Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages endet (§ 8 SGB X). Die „Nichtannahme“ eines Antrages kommt zwar in der Praxis immer wieder vor, ist aber grundsätzlich als rechtswidriges Verwaltungshandeln zu qualifizieren.[9] Zumeist wird die „Nichtannahme“ als abschlägiger Verwaltungsakt auszulegen sein, der ohne Prüfung in der Sache ergangen ist und der mit dem Widerspruch angefochten werden kann.[10] Ein solcher Verwaltungsakt wird in der Regel mündlich und zumeist ohne die erforderliche Begründung (§ 35 SGB X) ergehen. Wird „Nichtannahme“ mündlich erklärt, wird es oft naheliegen, unverzüglich die schriftliche Bestätigung zu verlangen (§ 33 Abs. 2 SGB X). Zwar sind Anträge beim zuständigen Sozialleistungsträger zu stellen (§ 16 Abs. 1 S. 1 SGB I). Doch sie werden auch von allen anderen Sozialleistungsträgern, von allen Gemeinden und von den amtlichen Auslandsvertretungen Deutschlands entgegengenommen (§ 16 Abs. 1 S. 2 SGB I). Die Ablehnung eines Antrages wegen Unzuständigkeit ist grundsätzlich nicht vorgesehen. Vielmehr sind Anträge, die beim unzuständigen Sozialleistungsträger gestellt werden, von diesem an den zuständigen Sozialleistungsträger weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 SGB I). Für Anträge auf Teilhabeleistungen, die bei einem Rehabilitationsträger gestellt werden, gilt § 14 SGB IX (dazu s. u.).
§ 40 SGB I bestimmt, dass Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre gesetzlich bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Die Frage, ob der Antrag – sofern ein Antragserfordernis besteht – zu diesen Voraussetzungen gehört, wird unterschiedlich beantwortet. Zum Teil soll gelten, dass der Antrag für die Entstehung des Anspruchs nicht maßgeblich sei. Nach dieser Auffassung hat ein gesetzliches Antragserfordernis die Folge, dass eine fehlende Antragstellung als eine den Anspruch vernichtende Einwendung qualifiziert wird.[11] Doch im Ergebnis wird dadurch „die gleiche Wirkung erzielt, als würde man dem Antrag materiell-rechtliche Bedeutung beimessen“.[12] Der Autor hält jedenfalls für den vorliegenden Zusammenhang die Auffassung, dass ein gesetzliches Antragerfordernis zur Folge hat, dass der Antrag zu den Voraussetzungen für den Anspruch gehört, für schlüssiger. Danach ist der Antrag Tatbestandsmerkmal für den Anspruch. Ob ein Antrag gestellt wurde, ist Tatsachenfrage. Man kann dieses Tatbestandsmerkmal als formell bezeichnen, weil der Antrag eine Verfahrenshandlung ist. Gleichwohl ist er eine Handlung, also Tatsache. Dabei sollte man darauf achten, dass man einer Verwechslung mit der gänzlich anderen Frage, ob für einen Antrag ein Formerfordernis gilt (der Antrag förmlich zu erfolgen hat), keinen Vorschub leistet. So oder so führt ein Antragserfordernis dazu, dass die leistungsberechtigte Person einen Antrag stellen muss, um ihren Anspruch wirksam geltend zu machen. Ob und ggf. wie weit der Antrag zurückwirkt, ist eine andere Frage.
Das SGB VIII enthält keine Vorschrift zum Antragserfordernis. Mit Urteil vom 28. September 2000 kam das BVerwG gleichwohl zu dem Ergebnis, dass Leistungen nach dem SGB VIII nur auf Antrag zu erbringen seien. Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob Anspruch auf Erstattung der Kosten für solche Leistungen besteht, die die leistungsberechtigte Person selbst beschafft hatte. Das BVerwG verneinte diesen Anspruch, soweit nicht rechtzeitig ein Antrag gestellt worden sei. Das Antragserfordernis ergebe sich „mittelbar aus dem sonstigen Regelwerk des Gesetzes und vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung“. Zum Ersten entspreche es nicht der Aufgabe des Jugendhilfeträgers, „(nur) Kostenträger und nicht zugleich Leistungsträger zu sein“.[13] Einer Antragsunabhängigkeit des Anspruchs wird hier indirekt die Folge unterstellt, dass sie das Jugendamt auf eine Rolle eines bloßen Kostenträgers, die allerdings nicht weiter konkretisiert wird, reduziere. Zum Zweiten scheint das BVerwG anzunehmen, dass Antragsunabhängigkeit ein Selbstbeschaffungsrecht ohne Billigung des Jugendhilfeträgers nach sich ziehe.[14] Ein kurzer Blick in das Sozialhilferecht, für das das BVerwG zum Zeitpunkt dieses Urteils ebenfalls zuständig war, zeigt, dass keines der beiden Argumente zutrifft. Weder degradiert die Antragsunabhängigkeit einer Leistung den Leistungsträger in irgendeiner Weise zum bloßen Kostenträger noch folgt aus Antragsunabhängigkeit ein Selbstbeschaffungsrecht, gar ohne weitere Prüfung. Für die Sozialhilfe, wo § 18 SGB XII (bis zum 31. Dezember 2004: § 5 BSHG) gilt, ist das unbestritten. Mit Beschluss vom 22. Mai 2008 bekräftigte das BVerwG die Auffassung aus dem Jahr 2000. Seine Rechtsprechung habe hinreichend geklärt, „dass Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraussetzen“.[15] Eine nachvollziehbare Begründung blieb das Gericht ein weiteres Mal schuldig.
Dafür hätte jedoch noch mehr Anlass bestanden als im Jahr 2000, denn zwischenzeitlich hatte der Gesetzgeber auf das Urteil vom 28. September 2000 reagiert. Mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) vom 8. September 2005[16] war § 36a in das SGB VIII eingefügt worden. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Jugendamt die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen ersetzen muss, wird seither durch § 36a Abs. 3 SGB VIII beantwortet. Dort ist ausdrücklich normiert, dass der Anspruch auf Erstattung voraussetzt, dass der Leistungsberechtigte das Jugendamt „vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat“. Die Voraussetzungen für den Erstattungsanspruch werden durch § 36a Abs. 3 SGB VIII abschließend geregelt. Ein Antrag gehört nicht dazu. Für die Frage, ob in anderen Fällen ein Antragerfordernis bestehen kann, lässt dies nur einen Schluss zu: Wenn nicht einmal der Anspruch auf Erstattung der Kosten selbstbeschaffter Leistungen einen Antrag voraussetzt, kann für die Leistungen ansonsten erst recht kein Antragerfordernis bestehen.
Das BVerwG rückte erst mit Urteil vom 28. April 2016 vorsichtig von seiner Auffassung ab, jedoch ohne dies ausdrücklich als Korrektur der bisherigen Rechtsprechung auszuweisen. In der Begründung wird ausgeführt:
„Gemessen an dem Gesetzeszweck wird ein erneuter Hilfebedarf an den Jugendhilfeträger herangetragen, wenn eine Kontaktaufnahme zwischen diesem und dem Hilfebedürftigen zustande kommt oder der Träger sonst von dem Bedarf in Kenntnis gesetzt wird und der Hilfeempfänger die Bereitschaft zeigt, Hilfe anzunehmen. […] Die Stellung eines (förmlichen) Antrags ist hingegen nicht zwingend notwendig. Der Hilfebedarf und die Bereitschaft, Hilfe annehmen zu wollen, können auch konkludent zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 […]).“[17]
An sich scheint diese Entscheidung eindeutig zu sein. Die Leistungspflicht des Jugendamts setzt voraus, dass es Kenntnis vom Bedarf hat (was sich aus § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB VIII umstandslos ergibt) und dass die leistungsberechtigte Person Bereitschaft zeigt, die Hilfe anzunehmen. Ein Antrag, gar ein förmlicher, ist nicht erforderlich. Da Formerfordernisse für Anträge auf Sozialleistungen die Ausnahme sind, mag es nachvollziehbar sein, diesen Aspekt lediglich durch die Ergänzung in Klammern zum Ausdruck zu bringen. Doch zugleich zitiert das BVerwG die beiden o. g. Entscheidungen mit dem Hinweis „vgl.“, so als habe es das damals auch schon so gesehen. Tatsächlich besteht Übereinstimmung mit den früheren Entscheidungen nur insoweit, als das BVerwG für den Antrag, den es damals fraglos für konstitutiv für den Anspruch hielt, kein Formerfordernis erkannte. Offensichtlich hat das BVerwG seine Auffassung geändert, wofür vor dem Hintergrund der nicht nachvollziehbaren Begründung der Entscheidung vom 28. September 2000 und der Einfügung von § 36a Abs. 3 SGB VIII aller Anlass bestand, hatte aber nicht Mut, die Korrektur der eigenen Rechtsprechung als solche zu bezeichnen.
Die Kommentarliteratur reflektiert die Rechtsprechung des BVerwG auf unterschiedliche Weise.
Wiesner formuliert ohne Umschweife „Kein Antrag erforderlich“. Das Urteil vom 28.9.2000 nennt er mit dem Hinweis „vgl.“ in Klammern, ohne sich weiter damit aufzuhalten.[18] Schmid-Obkirchner führt dagegen aus: „Einen förmlichen Antrag auf Leistungen sieht das SGB VIII jedoch nicht vor. Es genügt eine eindeutige Willensbekundung des Leistungsberechtigten, Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen.“ Diese könne schriftlich, mündlich oder konkludent erfolgen.[19] Dass das BVerwG „eine vorherige Antragstellung grundsätzlich als Voraussetzung für Leistungen der Jugendhilfe ansieht, ändert hieran nichts.“[20] Das ist jedenfalls insofern schlüssig, als eine „Willensbekundung, Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen“ nichts anderes ist als eine einseitige Willenserklärung, m. a. W. ein Antrag, den man „formell“ (s. u.) nennen mag, für den aber kein Formerfordernis („förmlich“) besteht. Doch die Verwendung des Wortes „Willensbekundung“ anstelle von „Willenserklärung“ kann nichts daran ändern, dass diese Auffassung mit derjenigen, die Wiesner weiter vorne im selben Kommentar vertritt, nicht zu vereinbaren ist.
Trenczek vertritt wie Wiesner, dass ein Antragserfordernis nicht bestehe. Im SGB VIII finde sich keine Regelung, nach der Leistungen „einen formellen Antrag“ voraussetzten. Die Rede vom „formellen“ Antrag trägt hier nicht zur Klarheit bei. Auch das BVerwG sieht kein Erfordernis eines „förmlichen“ Antrags. „Förmlich“ bezieht auf die Form eines Rechtsgeschäfts, was ein eindeutiger Terminus ist. „Formell“ dagegen ist hier ausweislich des Kontextes als „ausdrücklich“ – unabhängig von der Form – zu verstehen. Der Gebrauch des Wortes „formell“ kann hier nur dem Zweck dienen, den Widerspruch zur Entscheidung des BVerwG verschwimmen zu lassen. In einer Fußnote deutet der Autor an, dass seine Auffassung dem Urteil des BVerwG vom 28. September 2000 nicht widerspreche.[21] Tatsächlich steht seine Auffassung in klarem Widerspruch jedenfalls zur Begründung dieses Urteils. Man müsste, um einen Widerspruch wenigstens zum Tenor der Entscheidung zu verneinen, streng zwischen Tenor und Begründung unterscheiden und erklären können, dass die Entscheidung auch mit einer anderen Begründung hätte fallen können, um die Begründung, die das Gericht gewählt hat, dann zu einem (missratenen) obiter dictum zu schrumpfen.
Kepert schließlich, der eingangs bereits zitiert wurde, löst das Problem, indem er das Erfordernis des Einverständnisses in den Vordergrund stellt und die ältere Rechtsprechung des BVerwG dahingehend auslegt, dass dieses „Einverständnis in Form eines zumindest formlosen Antrags […] zum Ausdruck gebracht werden muss“. Die Frage, ob ein Antragserfordernis besteht, könne offenbleiben. Denn der Unterschied zwischen (konkludentem) Einverständnis und formlosem Antrag spiele keine Rolle,[22] was jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht richtig ist.
Ob Leistungen nach § 35a SGB VIII einen Antrag voraussetzen, hat unmittelbare Folgen für die Auslösung der Fristen aus § 14 SGB IX[23]. Daneben ist es vor allem dann von Bedeutung, wenn beide Eltern sorgeberechtigt sind, das Kind aber nur bei einem Elternteil lebt.
Im Regelfall werden minderjährige leistungsberechtigte Personen durch beide Eltern gesetzlich vertreten. Auch dann, wenn die Eltern nicht zusammenleben, ist das mittlerweile wohl der Regelfall. Grundsätzlich vertreten die Eltern das Kind gemeinschaftlich (§ 1629 BGB). Wenn man ein Antragserfordernis annimmt, müssen daher im Regelfall beide Eltern den Antrag stellen. Wenn die Eltern zusammenleben, bereitet das meist keine Schwierigkeiten. Lebt das Kind nur mit einem Elternteil zusammen, gilt § 1687 BGB (wenn beide Eltern personensorgeberechtigt sind). Danach hat der Elternteil, bei dem das Kind lebt, die Befugnis, das Kind in Angelegenheiten des täglichen Lebens allein zu vertreten. Ob Leistungen nach § 35a SGB VIII zu diesen Angelegenheiten gehören, ist nicht einheitlich zu beantworten. Einfache Maßnahmen wie z. B. eine Lernunterstützung unterfallen wohl noch dem Begriff der Angelegenheiten des täglichen Lebens i. S. v. § 1687 BGB. Eine stationäre Leistung nach § 35a SGB VIII fällt dagegen sicher nicht darunter. Die Grenze muss im Einzelfall bestimmt werden. Der überwiegende Teil möglicher Leistungen nach § 35a SGB VIII wird nicht zu den Angelegenheiten des täglichen Lebens gehören.
Mehr als ein Fünftel aller Kinder wächst nur mit einem Elternteil auf. In der meisten Zahl der Fälle ist das die Mutter.[24] Für diese Kinder würde ein Antragserfordernis dazu führen, dass in der Regel auch der Antrag des zweiten Elternteils vorliegen müsste, damit Leistungen nach § 35a SGB VIII bewilligt werden können.[25] Wenn der andere Elternteil nicht kooperativ ist, was in der Praxis häufig vorkommt, kann das eine erhebliche Belastung bedeuten. Ggf. kann ein Verfahren nach § 1628 BGB erforderlich werden. Nach dieser Vorschrift kann das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen, wenn die Eltern sich nicht einig sind.
Zwar bedürfen Leistungen nach § 35a SGB VIII wie alle Teilhabeleistungen der Zustimmung der leistungsberechtigten Person (§ 8 Abs. 4 SGB IX). Die Zustimmung nach dieser Vorschrift ist wie der Antrag eine Willenserklärung. Die Zustimmung ist Tatbestandsmerkmal des Anspruchs auf Leistungen nach § 35a SGB VIII. Ob sie vorliegt, ist daher von der Behörde im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes (§ 20 SGB X), zu prüfen. Hält das Jugendamt die Zustimmung des zweiten Elternteils für erforderlich, wird es sie ggf. von Amts wegen einzuholen haben, wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind.[26] Dies kann parallel zur Ermittlung des Bedarfs erfolgen, während die Annahme eines Antragserfordernisses mindestens nahelegt, dass erst dann ermittelt wird, wenn ein Antrag beider Elternteile vorliegt (§ 18 S. 2 SGB X).[27]
Ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe (§ 4 SGB IX), zu denen die Leistungen nach § 35a SGB VIII gehören,[28] löst die Fristen aus §§ 14 ff. SGB IX aus. Zwar ist die die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) der Auffassung, ein „die Frist auslösender Antrag auf Leistungen zur Teilhabe“ liege erst dann vor, „wenn Unterlagen vorliegen, die eine Beurteilung der Zuständigkeit ermöglichen“.[29] Es ist aber offensichtlich, dass diese Auffassung einer Rechtsgrundlage entbehrt. Die Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess ist
„eine Regelung unterhalb der Gesetzesebene, die, soweit auf sie nicht ausdrücklich im Gesetz Bezug genommen wird, nicht geeignet ist, von einer gesetzlichen Regelung zu derogieren. Vielmehr müssen sich Vereinbarungen der Gesetzesadressaten im durch den Gesetzgeber vorbestimmten Rahmen halten. Ein Verständnis der Vereinbarung, dass sie geeignet oder sogar – wie die Klägerin meint – dazu bestimmt wäre, die gesetzliche Ordnung abweichend auszugestalten, ohne dass ein entsprechender Auftrag aus dem Gesetz ersichtlich wäre, erscheint fernliegend […].“[30]
Das Rechtsinstitut eines „fristauslösenden Antrags“, der von einem Antrag im oben dargestellten Sinn zu unterschieden wäre, ist letztlich ein Einfall, dem keine rechtliche Bedeutung zukommt.
Wenn ein Antragerfordernis für Leistungen nach § 35a SGB VIII bestünde, begännen die Fristen aus § 14 SGB IX i. d. R. erst dann, wenn dem Jugendamt entsprechende Willenserklärungen aller Personensorgeberechtigten, zumeist also beider Eltern vorliegen. Ohne Antragerfordernis beginnt die Frist dagegen dann, wenn das Jugendamt (oder ein anderer Rehabilitationsträger) Kenntnis des voraussichtlichen Bedarfs erlangt (§ 14 Abs. 4 SGB IX). Die Bekanntgabe des Bedarfs kann nicht nur durch ein Elternteil allein, sondern auch durch nicht vertretungsbefugte Dritte erfolgen.
Der Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII setzt keinen Antrag voraus. Zum ersten kann die Entscheidung des BVerwG vom 28. September 2000 nicht überzeugen. Zum zweiten wurde sie durch den Gesetzgerber des KICK vom 8. Mai 2005 erkennbar korrigiert. Zum dritten hat sich das BVerwG, wenngleich ein wenig schüchtern, mit Urteil vom 28. April 2016 auch selbst korrigiert.
Die Kenntnis des voraussichtlichen Bedarfs bewirkt, dass der Rehabilitationsträger von Amts wegen ein Verwaltungsverfahren aufnehmen (§ 18 S. 2 Nr. 1 SGB X) und den Bedarf ermitteln (§ 13 SGB IX) muss. Die Fristen aus § 14 SGB IX beginnen mit der Kenntnis des voraussichtlichen Bedarfs. Das gilt auch, wenn später ein Antrag gestellt wird. Die Bekanntgabe kann durch jede Person erfolgen; einer Vertretungsbefugnis bedarf es nicht.
Auch für Leistungen nach §§ 27 ff. SGB VIII (Hilfen zur Erziehung) besteht kein Antragserfordernis. Dabei ist zu beachten, dass der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung kein Anspruch der betroffenen minderjährigen Person, sondern ein Anspruch des Personensorgeberechtigten ist.
Beitrag von Roland Rosenow, Diakonie Deutschland
[1] Tammen/Trenczek in: Münder/Meysen/Trenczek (Hg): Frankfurter Kommentar SGB VIII Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 27 Rn 44.
[2] Kepert/Dexheimer in: LPK-SGB VIII 7. Aufl. 2018, § 35a Rn. 24.
[3] Z. B. § 37 Abs. 1 SGB II, § 44 Abs. 1 S. 1 SGB XII, § 22 Abs. 1 WoGG, § 108 Abs. 1 SGB IX.
[4] Schütze/Roller, 9. Aufl. 2020, SGB X § 12 Rn. 5.
[5] Für Minderjährige, die mindestens 15 Jahre alt sind, siehe § 36 SGB I.
[6] Die „Auslegung eines Antrags auf Gewährung von Sozialleistungen [folgt] dem Grundsatz der Meistbegünstigung. Sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist daher davon auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Sozialleistungen begehrt, die nach der Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommen.“, OVG NRW, 13.12.2013, 12 A 1761/12 Rn 9; s.a. BSG, 10.3.1994, 7 RAr 38/93 Rn 15; BayVGH, 25.06.2019, 12 ZB 16.1920 Rn 26.
[7] Hampel in: jurisPK SGB IV 3. Aufl. § 19 Rn 24.
[8] § 46 BAföG.
[9] § 20 Abs. 3 SGB X lautet: „Die Behörde darf die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält.“
[10] Entgegen einer weit verbreiteten Annahme setzt der Widerspruch nicht einen „rechtsmittelfähigen Bescheid“ voraus, sondern schlicht einen Verwaltungsakt, der durch § 31 SGB X legal definiert ist. Da der Widerspruch nicht Devolutiveffekt entfaltet, ist er i. Ü. auch kein Rechtsmittel, sondern lediglich ein Rechtsbehelf. Rechtsmittelfähig sind nur solche Verwaltungsakte, gegen die unmittelbar geklagt werden kann. Auch dann kommt es aber auf die Form des Verwaltungsaktes nicht an. Fehlt dem Verwaltungsakt eine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung, beträgt die Widerspruchsfrist 1 Jahr, S 66 Abs. 2 SGG bzw. § 58 Abs. 2 VwGO.
[11] Groth in: jurisPK SGB I 3. Aufl. § 40 Rn 32 mwN und mit Bezug auf BSG, Urteil vom 02. August 2000 – B 4 RA 54/99 R –, SozR 3-2600 § 99 Nr 5, SozR 3-2600 § 300 Nr 16, SozR 3-1300 § 44 Nr 29.
[12] ebd.
[13] BVerwG, 28.9.2000, 5 C 29/99 Rn. 13.
[14] „Auch mit der Vorgeschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch lässt sich […] belegen, dass ein Selbstbeschaffungsrecht ohne Billigung des Jugendhilfeträgers, insbesondere also auch Antragsunabhängigkeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, nicht besteht“, a. a. O. Rn. 15.
[15] BVerwG, 22.5.2008, 5 B 130/07 Rn. 3.
[16] BGBl. I 2005, S. 2729; zur Begründung s. Bundestags-Drucksache 15/5616, S. 26.
[17] BVerwG, 28.4.2016, 5 C 13/15 Rn. 36.
[18] Wiesner in: ders. (Hg): SGB VIII Kommentar, 5. Aufl. 2015, Vor § 11 Rn 29.
[19] Schmid-Obkirchner in: Wiesner (Hg): SGB VIII Kommentar, 5. Aufl. 2015, § 36a Rn 44.
[20] Schmid-Obkirchner in: Wiesner (Hg): SGB VIII Kommentar, 5. Aufl. 2015, § 36a Rn 13.
[21] Trenczek in: Münder/Meysen/Trenczek (Hg): Frankfurter Kommentar SGB VIII Kommentar, 8. Aufl. 2018, Anhang I Rn 24, Fn 40. Die Entscheidung vom 28.4.2016 ist noch nicht zitiert.
[22] s. Fn 2.
[23] Siehe dazu Schaumberg: Zuständigkeitsklärung gemäß § 14 SGB IX – Allgemeine Vorgaben für das Verfahren; Beitrag A10-2020 unter www.reha-recht.de; 18.05.2020 sowie Jordan: Welche Bedeutung hat die „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn der zweitangegangene Träger nach § 86 SGB VIII örtlich nicht zuständig ist?; Beitrag A20-2020, unter www.reha-recht.de; 14.10.2020.
[24] Im Jahr 2017 machten Alleinerziehende einen Anteil von 22,6% aller Familien mit Kindern (ohne Altersbeschränkung) aus. Alleinerziehende sind ganz überwiegend Mütter (alleinerziehende Mütter 19%, alleinerziehende Väter 3,6% aller Familien; Statistisches Bundesamt, Alleinerziehende. Tabellenband zur Pressekonferenz am 02.08.2018 in Berlin – Ergebnisse des Mikrozensus – 2017, 2018, S. 12).
[25] Natürlich gilt das auch, wenn die Eltern zusammenleben, aber in diesen Fällen bereitet das meist keine Probleme.
[26] Unterstellt man ein Antragserfordernis, hätte das Jugendamt gem. § 16 Abs. 1 SGB I iVm § 12 Abs. 1 S. 1 SGB IX auf die Antragstellung auch des zweiten Elternteils hinzuwirken.
[27] Ob das Fehlen eines Antrages die Aufnahme des Verwaltungsverfahrens versperrt, wird hier offengelassen, weil es darauf nach Auffassung des Autors hier nicht ankommt, vgl. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG 21. Aufl. § 22 Rn 27.
[28] Siehe dazu Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter www.reha-recht.de; 16.07.2019.
[29] Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess, online unter www.bar-frankfurt.de.
[30] LSG Hamburg, 30.6.2020, L 3 R 135/18 Rn 31 zur Vorgänger-Empfehlung. Der Grund für die Vorgehen ist offensichtlich: Die Rehabilitationsträger haben § 15 Abs. 2 SGB IX in der Fassung, die am 01.07.2001 in Kraft trat, nicht beachtet, also gegen geltendes Recht nicht erfasst, in wie vielen Fällen die Fristen nach § 14 SGB IX a. F. nicht eingehalten wurden. Der Gesetzgeber des BTHG hat darauf mit § 41 SGB IX reagiert. Nunmehr müssen die Rehabilitationsträger die Daten an die BAR übermitteln, die sie im Teilhabeverfahrensbericht veröffentlichen muss. Mit der kühnen Konstruktion des „fristauslösenden Antrags“ hat die BAR die Möglichkeit geschaffen, den Beginn der Frist weitgehend frei zu bestimmen. Dazu das LSG Hamburg: Eine Unterscheidung zwischen Antrag im Sinne des Gesetzes und fristauslösendem Antrag im Sinne der Gemeinsamen Empfehlung führe „zu nicht mehr nachvollziehbaren Ergebnissen“ (Rn 28). Der erste Teilhabeverfahrensbericht wurde im Dezember 2019 veröffentlicht (www.bar-frankfurt.de) und weist außerordentlich geringe Anteile von Fristüberschreitungen aus. Diese Zahlen sind weit von allen praktischen Erfahrungen entfernt. Sie legen den Schluss nahe, dass die Rehabilitationsträger das Datum des „fristauslösenden Antrags“ oft erst lange nach Antrageingang bestimmen (Teilhabeverfahrensbericht 2019, S. 43).
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