14.09.2023 A: Sozialrecht Jordan: Beitrag A11-2023

Schulbegleitung als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII – Anmerkung zu Niedersächsisches OVG, Beschluss v. 23. Juni 2022 – 14 ME 243/22

PhDr. Andreas Jordan stellt in diesem Beitrag einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen (OVG) vor. Das Gericht hatte hierbei über einen Antrag auf die einstweilige Anordnung der Kostenübernahme einer Schulbegleitung durch den Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu entscheiden. Strittig war, ob beim leistungsbegehrenden Schüler eine Teilhabebeeinträchtigung gem. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vorliegt. Wie bereits das zuständige Verwaltungsgericht, hat dies auch das OVG verneint.

In seiner Würdigung des Beschlusses geht Jordan zunächst der Frage nach, ob eine Psychologin mit einer Stellungnahme über das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung beauftragt werden durfte. Anschließend setzt er sich damit auseinander, nach welchen Maßgaben eine Teilhabebeeinträchtigung im SGB VIII zu bestimmen ist.

(Zitiervorschlag: Jordan: Schulbegleitung als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII – Anmerkung zu Niedersächsisches OVG, Beschluss v. 23. Juni 2022 – 14 ME 243/22; Beitrag A11-2023 unter www.reha-recht.de; 14.09.2023)


Am 23. Juni 2022 entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Niedersächsisches OVG), dass das Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 13. April 2022 zurückgewiesen wird. Der Antragsteller hatte einen Antrag auf Eingliederungshilfe in Form der Kosten für eine Schulbegleitung gestellt.

I. These des Autors

Eine Psychologin ist nach ihrem Studium keine sozialpädagogische Fachkraft im Sinne des § 72 Abs. 1 SGB VIII.

II. Wesentliche Aussagen des Beschlusses

  1. Die Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB VIII fällt in den Kompetenzbereich der sozialpädagogischen Fachkraft des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe.
  2. Eine Teilhabebeeinträchtigung ist anzunehmen, wenn aufgrund von Versagensängsten eine Schulphobie vorliegt, die eine totale Schul- und Leistungsverweigerung zur Folge hat und durch einen Rückzug aus jedem sozialen Kontakt in der Schule gekennzeichnet ist.
  3. Eine positive Selbsteinschätzung der leistungsberechtigten jungen Menschen spricht in diesem Fall gegen eine Teilhabebeeinträchtigung.
  4. Die Stellungnahme der Schule ist nur ein Erkenntnismittel zur Beurteilung der Frage nach der Teilhabebeeinträchtigung, denn im Rahmen des Feststellungsverfahrens sind alle Unterlagen in einer Gesamtschau auszuwerten.
  5. Wenn die soziale Isolation und ein Einzelgängertum nicht kausal auf eine seelische Erkrankung zurückzuführen sind, liegt keine Teilhabebeeinträchtigung vor.
  6. Aus sonderpädagogischer Unterstützung in der Schule kann keine Teilhabebeeinträchtigung abgeleitet werden.

III. Der Sachverhalt

Der am 23. September 2009 geborene Kläger besucht das Gymnasium. Aufgrund seiner Schwierigkeiten (Sozialverhalten und Aufmerksamkeitsstörung) war er von Mai 2020 bis Januar 2022 in verhaltenstherapeutischer Behandlung. In dieser Zeit beantragte der Kläger am 16. August 2021 die Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung. Mit Bescheid vom 22. Februar 2022 wurde bei ihm ein sonderpädagogischer Bedarf durch das zuständige Regionale Landesamt für Schule und Bildung festgestellt.[1] Aufgrund der eingereichten Unterlagen stellte die vom Jugendamt beauftragte Psychologin fest, dass zwar die seelische Gesundheit des Antragstellers länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche, allerdings liege dadurch keine Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe vor. Gegen den am 2. Februar 2022 erlassenen Ablehnungsbescheid legte der Antragsteller am 4. März 2022 beim Verwaltungsgericht (VG) Göttingen Klage ein, zugleich stellte der Antragsteller einen Antrag auf einstweilige Anordnung zur vorläufigen Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung.

Das VG Göttingen lehnte den Antrag auf einstweilige Anordnung mit der Begründung ab, dass die in § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII geforderte Teilhabebeeinträchtigung vom Kläger nicht glaubhaft dargelegt wurde. Das VG Göttingen fand im Rahmen seiner summarischen Prüfung keine Anhaltspunkte für eine Teilhabebeeinträchtigung. Aus den vom VG Göttingen geprüften Dokumenten waren keine Symptome erkennbar, die auf eine Teilhabebeeinträchtigung hinweisen. Hinzu kam, dass der Anordnungsgrund von den Eltern des Antragstellers nicht glaubhaft gemacht wurde. Aufgrund der Tatsache, dass der Vater als Rechtsanwalt arbeitet und die Mutter als selbstständige Einzelhandelskauffrau, schlossen die Richter eine existenzielle Notlage als Anordnungsgrund aus. Gegen den Beschluss des VG Göttingen legte der Kläger Beschwerde beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) ein.

IV. Die Entscheidung des Niedersächsischen OVG

Das Niedersächsische OVG prüfte zunächst die einzelnen Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 124 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen.

Im ersten Schritt prüfte das Gericht, ob der Kläger ein spezifisches Interesse an dem einstweiligen Rechtsschutz hat (Anordnungsgrund). Das spezifische Interesse ergibt sich aus einer besonderen Eilbedürftigkeit. Die Richter stellten fest, dass das Ziel der einstweiligen Anordnung und der Klage in der Hauptsache identisch ist. Eine vorwegnehmende Entscheidung ist nur dann ausnahmsweise möglich, wenn dem Antragsteller durch das Abwarten in der Hauptsache (Klageerhebung am 4. März 2022) schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen sind. Das VG Göttingen kam zu dem Ergebnis, dass eine solche vorwegnehmende Entscheidung nicht in Betracht kommt und stützte seine Begründung auf die finanziellen Verhältnisse der Familie. Die Eltern des Antragstellers konnten nicht glaubhaft darstellen, dass die Familie in eine existenzielle Notlage gerät, wenn sie die Kosten für eine Schulbegleitung vorläufig selbst übernehmen müssten. Dieses Argument konnte der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht entkräften.[2]

Im zweiten Schritt prüfte das Gericht, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen (Anordnungsanspruch) der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen vorliegen. Eine zu klärende Frage war, ob überhaupt ein Anspruch auf Eingliederungshilfe als Schulbegleitung nach § 35a Abs. 1 SGB VIII vorliegt. Danach haben Kinder oder Jugendliche einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Mit Blick auf die psychiatrische Diagnose „Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität“ (ICD-10 F 98.8) stellte das Niedersächsische OVG fest, dass die Abweichung der seelischen Gesundheit vom für das Lebensalter typischen Zustand unstrittig ist. Allerdings, und das war Streitpunkt, muss darüber hinaus die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sein oder zu mindestens muss solch eine Beeinträchtigung zu erwarten sein. Das Beschwerdegericht wies darauf hin, dass die Einschätzung über die Teilhabebeeinträchtigung ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich von sozialpädagogischen Fachkräften fällt. Mit Blick auf die vorhandene Rechtsprechung stellte das Gericht fest, dass die Teilhabebeeinträchtigung als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich voll überprüfbar ist und für das Jugendamt kein Beurteilungsspielraum existiert.[3]

Unter Berücksichtigung eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichtes[4] liegt nach Auffassung des Niedersächsischen OVG eine Teilhabebeeinträchtigung vor, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt oder eine Beeinträchtigung zu erwarten ist. Eine solche Beeinträchtigung ist bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie anzunehmen oder bei totaler Schul- und Leistungsverweigerung oder bei einem Rückzug aus jedem Kontakt oder einzelnen sozialen Kontakten.

Mit Blick auf die Stellungnahme kam auch das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis, dass bei dem Antragsteller keine Teilhabebeeinträchtigung vorliege. Das VG Göttingen habe zu Recht angenommen, dass die Selbsteinschätzung des Antragstellers positiv ist und es keine Anhaltspunkte für besondere Belastungen gibt. Diese Einschätzung wird auch durch die Angaben der Eltern in einem Fragebogen bestätigt. Das vom Kläger vorgebrachte Argument, das VG Göttingen setze sich nicht hinreichend mit der Stellungnahme der Schule auseinander, teilte das Niedersächsische OVG nicht. Aus dem Schulbericht ist zu entnehmen, dass die diagnostizierte Störung die schulische Leistung des Antragstellers negativ beeinflusst. Außerdem empfinden die Mitschüler des Antragstellers das gemeinsame Arbeiten mit ihm als wenig effektiv und belastend. Auch hat er keine Freunde innerhalb der Schulgemeinschaft. Der Schulbericht ist, so die Richter, neben anderen Dokumenten nur eine der Erkenntnisquellen für die Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung. Die Unterlagen müssten stets in einer Gesamtschau ausgewertet werden. Aus der Stellungnahme der Psychologin ist zu entnehmen, dass sie sich hinreichend mit den von der Schule beschriebenen Problemen auseinandergesetzt hat. Sie hat sich mit der sozialen Isolation des Klägers beschäftigt und festgestellt, dass diese nicht in einem kausalen Zusammenhang mit der seelischen Erkrankung steht. Überdies ist die Bewertung des Sozial- und Arbeitsverhaltens in der Stellungnahme der Schule und im Zeugnis widersprüchlich. Somit sind die Tatbestandsvoraussetzungen von § 35a SGB VIII für das Gericht nicht erfüllt und die Beschwerde gegen die Entscheidung des VG Göttingen wurde als unbegründet abgewiesen. [5]

V. Würdigung/Kritik des Beschlusses

1. Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung

Das Niedersächsische OVG hob in seinem Beschluss hervor, dass die Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung ausschließlich in den Kompetenzbereich der sozialpädagogischen Fachlichkeit und somit in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe fällt.[6] Damit ist klargestellt, dass die Beurteilung nur von einer Fachkraft durchgeführt werden darf.[7]  Nach § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII versteht man unter Fachkräften Personen, die sich für die jeweilige Aufgabe nach ihrer Persönlichkeit eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung erhalten haben oder aufgrund besonderer Erfahrungen in der sozialen Arbeit in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen.

Aus dem Beschluss des Niedersächsischen OVG geht eindeutig hervor, dass das Gericht bei der Frage nach dem Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung die Stellungnahme von einer Psychologin der Jugendhilfe Süd Niedersachsen e.V. (JSN)[8] heranzieht. Es kann daher die Frage gestellt werden, ob eine Psychologin eine Fachkraft im Sinne des § 72 SGB VIII ist.

Der Wortlaut der Vorschrift stellt zunächst auf eine entsprechende Ausbildung ab. Was unter einer entsprechenden Ausbildung gemeint ist, kann der Vorschrift auf den ersten Blick nicht entnommen werden. Auf den zweiten Blick, also im binnensystematischen Verhältnis der Vorschrift, wird allerdings auf den besonderen Erfahrungen in der sozialen Arbeit abgestellt (§ 72 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Damit wird über die systematische Verknüpfung der beiden Möglichkeiten als Fachkraft anerkannt zu werden, eindeutig ein Bezug zur sozialen Arbeit hergestellt. Die Soziale Arbeit kann an Universitäten, Fachhochschulen und privaten Hochschulen studiert werden. Für die Kultusminister- und der Hochschulrektorenkonferenz ist Soziale Arbeit ein Sammelbegriff für Sozialpädagogik und Sozialarbeit.[9]

Unter Berücksichtigung dieser Auslegung, versteht man unter Fachkräften zunächst Personen, die sich nach ihrer Persönlichkeit eignen und einen akademischen Abschluss in Sozialer Arbeit, Sozialwesen, Sozialpädagogik oder Sozialarbeit erworben haben.[10] Dies ist offensichtlich bei Personen, die Psychologie studiert haben, nicht der Fall,[11] zumal sich die Ausbildung der Sozialen Arbeit und der Psychologie grundlegend unterscheidet. Während die Soziale Arbeit die Wechselbeziehung sozialer Problemlagen in den Blick nimmt, untersucht die Psychologie schwerpunktmäßig die „inneren Prozesse“ und das Verhalten von Menschen.

Personen, die Psychologie studiert haben, könnten jedoch Fachkräfte im Sinne des § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sein, wenn sie besondere Erfahrungen in der sozialen Arbeit mitbringen. Fraglich ist, was der Gesetzgeber unter besonderen Erfahrungen versteht. Unstrittig ist, dass besondere Erfahrungen nicht durch das Lesen von Büchern oder das Besuchen von Fortbildungsveranstaltung gesammelt werden können. Das Wort „Erfahrung“ deutet auf Erfahrungen in der Praxis und Praxiswissen in der Sozialen Arbeit hin. Bevor also eine Person, die Psychologie studiert hat, als Fachkraft im Sinne des § 72 SGB VIII anerkannt werden kann, muss sie nachweisen, dass sie in der Praxis der sozialen Arbeit berufstätig war.[12] Eine interessante Frage ist, wie viel Berufsjahre eine Psychologin oder ein Psychologe mitbringen muss, damit die Voraussetzung in § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII erfüllt ist. Nach hier vertretener Auffassung muss eine fachfremde Person in Anlehnung an die staatliche Anerkennung für Studierende der Sozialen Arbeit mindestens ein Jahr in einem der Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet haben.

Ob die Psychologin des JSN die berufsrechtlichen Zugangsvoraussetzungen des § 72 SGB VIII erfüllt und mit der Stellungnahme beauftragt werden durfte, wurde in dem Beschluss des Niedersächsischen OVG allerdings nicht aufgegriffen.

2. Frage nach Teilhabebeeinträchtigung

Der Beschluss des Niedersächsischen OVG zeigt einmal mehr, dass es in der Praxis und Rechtsprechung nicht einfach ist, eine Teilhabebeeinträchtigung in der Schule zu bestimmen. Um die Schwierigkeiten zu reduzieren, empfiehlt es sich für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe (auch im Hinblick auf die „große Lösung“) ihren Blick verstärkt auf § 13 SGB IX zu richten. Nach dieser Vorschrift, die nach § 7 Abs. 2 SGB IX auch für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger vorrangig zu beachten ist, haben sie zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) nach den für sie geltenden Leistungsgesetzen zu verwenden.[13] Mit dieser Vorschrift soll sichergestellt werden, dass der Teilhabebedarf einheitlich sichergestellt[14] und somit von allen Rehabilitationsträgern vorbehaltlos akzeptiert wird.[15] Die Instrumente haben das Ziel, eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung zu gewährleisten.[16] Bei der Umsetzung von § 13 SGB IX sind die vereinbarten Grundsätze in den gemeinsamen Empfehlungen zu beachten. Diese haben nach § 26 Abs. 5 S. 2 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe allerdings nur einen Orientierungscharakter und sind damit nicht unmittelbar verbindlich, solange die Träger der Jugendhilfe ihnen nicht beitreten.[17] Dennoch lässt sich aus § 13 SGB IX eindeutig entnehmen, dass auch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger dazu aufgefordert sind, durch ihre Verbände und Vereinigungen, einheitliche Instrumente zur Bedarfsermittlung zu entwickeln. Nach § 13 Abs. 1 S. 3 SGB IX kann diese Tätigkeit aber auch von Dritten übernommen werden.

Im Hinblick auf die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „Teilhabebeeinträchtigung“ hat schon die Rechtsprechung[18] einen wichtigen Beitrag geleistet und festgelegt, dass die Unterlagen zur Beurteilung einer Teilhabebeeinträchtigung immer einer Gesamtschau (also nicht einseitig) unterzogen werden müssen. Doch was genau bedeutet diese verfahrensrechtliche Vorgabe für die Praxis? Auf welche genauen Arbeitsprozesse und Instrumente müssen die sozialpädagogischen Fachkräfte zurückgreifen, um eine gerichtlich voll überprüfbare Teilhabebeeinträchtigung zu diagnostizieren?

Für das Gericht stellte sich die rechtlich relevante Frage, ob in dem vorliegenden Fall eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt. Es stützte sich dabei hauptsächlich auf die fachliche Beurteilung der Psychologin des JSN. In diesem Zusammenhang stellt sich die interessante Frage, was der Grund dafür ist, dass die fachliche Expertise der Schule keine Berücksichtigung fand und durch die Psychologin entkräftet wurde. Auch bleibt unklar, ob die Psychologin das Kind jemals in der Schule in Augenschein genommen hat. Der Beschluss lässt vermuten, dass die Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung bei dem leistungsberechtigten Schüler aufgrund der Aktenlage getroffen wurde. Das ist in Anbetracht der zunehmenden Fallzahlen in der Eingliederungshilfe[19] zwar nachvollziehbar, dennoch ist diese Form der Einschätzung nicht besonders aussagekräftig, zumal § 8 Abs. 1 SGB VIII die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu verpflichtet, die Kinder und Jugendlichen entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Ob diese verfahrensrechtliche Vorgabe beachtet wurde, ist dem Beschluss leider nicht zu entnehmen.

Die Jugendämter haben den verfahrensrechtlichen Auftrag, die Vorgaben im SGB IX und die Leistungsgesetze im Kinder- und Jugendhilferecht zusammenzuführen. Die Umsetzung dieser Aufgabe setzt eine einheitliche Vorgehensweise voraus, deren Ergebnis gerichtlich voll überprüfbar sein muss. Zu Recht stellt sich die Frage, wie eine Teilhabebeeinträchtigung gerichtlich überprüfbar sein soll, wenn die Jugendhilfeträger die Teilhabebeeinträchtigung unterschiedlich prüfen und damit § 13 SGB IX unterlaufen. Die Missachtung der verfahrensrechtlichen Vorgabe könnte in der Praxis zu Beurteilungsfehlern führen, die eine Entscheidung stets anfechtbar machen.[20] Beispielsweise könnten die Fachkräfte einiger Jugendämter ihre Entscheidungen basierend auf den vorliegenden Dokumenten treffen, während andere in die Schule gehen und eine Interaktionsbeobachtung (IAB) durchführen. Da es keine einheitliche Vorgehensweise unter den Jugendämtern in Deutschland gibt, kann es sein, dass zwei Jugendämter zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Um eine Teilhabebeeinträchtigung zu prüfen, müssen zunächst im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 20 SGB X)[21] viele Informationen gesammelt[22] und einer „Gesamtschau“ unterzogen werden. Dabei sollen auch Ausführungen zur Teilhabe­beeinträchtigung von den in § 35a Abs. 1a SGB VIII genannten Berufsgruppen angemessen berücksichtigt werden. Berücksichtigen heißt nicht, dass die sozialpädagogische Beurteilung wegfallen und durch Ärzte oder Psychotherapeuten ersetzt werden darf.

Zu den Informationsquellen gehören regelhaft der Elternfragebogen, der Schulfragebogen, die Schulzeugnisse, Fremdbefunde und ggf. die sonderpädagogische Stellungnahme,[23] wobei aus dem Anspruch auf einen Förderbedarf nicht automatisch eine Teilhabebeeinträchtigung abgeleitet werden kann.[24] Dennoch ist auch der sonderpädagogische Förderbericht eine wichtige Erkenntnisquelle zur Beurteilung einer Teilhabe­beeinträchtigung in der Schule, da die durchgeführte Diagnostik weitgehend das gesamte Schulumfeld in den Blick nimmt.

Anhand der gesammelten Informationen muss die sozialpädagogische Fachkraft eine Stellungnahme dazu abgeben, ob die Teilhabe in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Zunächst muss sich die Fachkraft mit der Frage auseinandersetzen, welche Lebensbereiche von der Teilhabebeeinträchtigung betroffen sind.[25]

Um diese Frage zu beantworten, müssen die persönlichen Faktoren eines Individuums mit den vorhandenen gesellschaftlichen Faktoren in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Fachkräfte sollten sich in diesem Zusammenhang mit vier zentralen Fragen auseinandersetzen:

  1. Hat der Schüler die Möglichkeit, soziale Beziehungen aktiv zu gestalten?
  2. Kann der Schüler eigene Ziele formulieren und diese im Unterricht umsetzen?
  3. Verfügt der Schüler über alternative Lebensführungsmöglichkeiten?
  4. Sind die Teilnahmebedingungen des Schülers in der Schule unabhängig von Gewohnheiten, individuellen Lebenslagenmerkmalen, Krankheiten oder Talenten eines Schülers?[26]

Eine Störung der Teilhabe liegt bereits dann vor, wenn eine der Fragen mit „Nein“ beantwortet wird. Eine Teilhabebeeinträchtigung muss demnach angenommen werden, wenn die Störung der Teilhabe in der Schule und die seelische Störung in einem kausalen Zusammenhang zueinander stehen,[27] wobei die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein muss, dass sie die wechselseitige Beziehung zwischen dem Schüler und seiner sozialen Umgebung erheblich beeinträchtigt.[28]Mit Blick auf die Teilhabestörung haben die Richter des Niedersächsischen OVG in Anlehnung an die Literatur nachvollziehbar herausgearbeitet, dass bloße Schulprobleme, die auch andere Kinder teilen, keine behinderungsrelevanten seelischen Störungen sind.[29] Von etwas anderem muss die sozialpädagogische Fachkraft jedoch ausgehen, wenn der Schüler sich weigert, in die Schule zu gehen oder am Unterricht teilzunehmen (Lernverweigerung) oder ein erheblicher bzw. vereinzelter Rückzug aus sozialen Kontakten in der Schule zu beobachten ist. Zu Recht weisen Keppert und Dexheimer in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Schulbildung eine zentrale Schlüsselrolle für das weitere gesellschaftliche und berufliche Leben darstellt, da sie die weitere Lebensgestaltung stark beeinträchtigt.[30] Die Bildung ist also ein Türöffner in ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben.

Beitrag von PhDr. Andreas Jordan, LL.M.  PhDr. Andreas Jordan, LL.M. arbeitet als Sozialjurist beim Landkreis Kassel und ist Lehrbeauftragter an der CVJM-Hochschule und der Universität Kassel.

Fußnoten

[1] Zum Verfahren zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung in Niedersachsen siehe auch https://service.niedersachsen.de/detail?pstId=449969873, zuletzt abgerufen am 28.01.2023.

[2] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.06.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 17–21.

[3] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.06.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 22–26.

[4] BVerwG, Urt. v. 28.09.2000 – 5 C 29.99 juris, Rn. 19.

[5] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.06.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 27–28.

[6] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.06.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 26.

[7] Siehe auch Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 121.

[8] Siehe https://jugendhilfe-sued-niedersachsen.de/, zuletzt abgerufen am 28.01.2023.

[9] Vgl. dazu auch Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen/Konferenz der Kultusminister der Länder Rahmenordnung für die Diplomprüfung im Studiengang Soziale Arbeit vom 11.10.2001, S. 34, https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2001/2001_10_11-RO-Soziale-Arbeit-FH.pdf, zuletzt abgerufen am 28.01.2023.

[10] So auch LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 20.

[11] Andere Ansicht LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer/Nonninger, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 72
Rn. 8.

[12] LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer/Nonninger, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 72 Rn. 10.

[13] So auch BAGLJÄ, Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz, 2019, S. 13.

[14] Kossens/von der Heide/Maaß/von der Heide, 5. Aufl. 2023, SGB IX § 13 Rn. 1.

[15] BeckOK SozR/Jabben, 67. Ed. 01.09.2020, SGB IX § 13 Rn. 2.

[16] SWK-BehindertenR/Welti, 3. Aufl. 2022, Bedarfsfeststellung Rn. 6.

[17] Vgl. dazu § 26 Abs. 4 S. 2 SGB IX.

[18] BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 - 5 C 21.11, Rn. 23.

[19] ASD Report I-2022, https://www.bag-asd.de/category/asd-report/, zuletzt abgerufen am 09.03.2023.

[20] LPK-SGB IX/Zinsmeister, 6. Aufl. 2022, SGB IX § 13 Rn. 6.

[21] GK-SRB/Berneiser, 3. Aufl. 2023, SGB VIII § 35a Rn. 30.

[22] GK-SRB/Berneiser, 3. Aufl. 2023, SGB VIII § 35a Rn. 29.

[23] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.6.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 8.

[24] Niedersächsische OVG, Beschl. v. 23.6.2022 – 14 ME 243/22, openjur Rn. 29.

[25] GK-SRB/Berneiser, 3. Aufl. 2023, SGB VIII § 35a Rn. 29.

[26] In Anlehnung an von Euch/Haase JAmt 2023, S. 2.

[27] FK-SGB VIII/von Boetticher, 9. Auflage 2022, § 35a Rn. 34.

[28] LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 19.

[29] So auch BVerwG Urt. v. 26.11.1998 – 5 C 38.97 lexetius, Rn. 18.

[30] LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 19.


Stichwörter:

Kinder- und Jugendhilfe, Seelische Behinderung, Teilhabebeeinträchtigung, Eingliederungshilfe, Bedarfsermittlung, § 35 a SBG VIII


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