22.08.2024 A: Sozialrecht Hofene: Beitrag A11-2024
Unfallversicherungsschutz während Leistungen zur Nachsorge nach § 17 SGB VI? – Anmerkung zu LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11. Januar 2024 – L 21 U 180/21
Henri Hofene (Universität Kassel) widmet sich in diesem Beitrag einem Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 11. Januar 2024 (L 21 U 180/21), das über den Unfallversicherungsschutz während einer Leistung zur Nachsorge (§ 17 SGB VI) im Anschluss an eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation zu entscheiden hatte.
Auf die Darstellung des Sachverhalts (II.) und der Entscheidung (III.) folgt die rechtliche Würdigung (VI.). Dabei weicht Hofene von der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts ab und kommt zum Ergebnis, dass – unter Berücksichtigung der Wertungen des SGB IX und von Sinn und Zweck der Regelungen des Unfallversicherungsrechts – auch während der Nachsorgeleistungen nach § 17 SGB VI Unfallversicherungsschutz besteht.
(Zitiervorschlag: Hofene: Unfallversicherungsschutz während Leistungen zur Nachsorge nach § 17 SGB VI? – Anmerkung zu LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11. Januar 2024 – L 21 U 180/21; Beitrag A11-2024 unter www.reha-recht.de; 22.08.2024)
I. Einleitung
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat am 11. Januar 2024 darüber entschieden, ob sich der Unfallversicherungsschutz für Teilnehmende an medizinischen Rehabilitationsleistungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auch auf Personen erstreckt, die Leistungen zur Nachsorge von der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI erhalten.[1] Das LSG vertrat ebenso wie das Sozialgericht Potsdam und die beklagte Berufsgenossenschaft die Auffassung, dass es sich bei dem Ereignis nicht um einen Arbeitsunfall handele, weil Leistungen zur Nachsorge keine Leistungen zur medizinischen Rehabilitation seien. Das LSG stützt sich in seiner Argumentation vor allem auf die Binnensystematik des SGB VI und den Wortlaut des § 17 Abs. 1 SGB VI. Im Folgenden wird dargelegt, dass sich unter Berücksichtigung des § 42 Abs. 1 SGB IX eine andere Beurteilung ergibt.
II. Sachverhalt
Die 1962 geborene Klägerin erhielt zunächst Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 15 Abs. 2 S. 1 SGB VI von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, die stationär in einer orthopädischen Rehabilitationsklinik erbracht wurden. Kurz vor dem regulären Abschluss der stationären Rehabilitation zog sich die Klägerin bei einer Faszientherapie ein Hämatom zu und wurde daher vorzeitig arbeitsunfähig entlassen.[2] Die Klägerin begab sich daraufhin in ambulante hausärztliche Behandlung, und die Rentenversicherung leitete Leistungen der „intensivierten Rehabilitationsnachsorge“ (IRENA) nach § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI ein, die ambulant in einer Rehabilitationseinrichtung durchgeführt wurden. Es sollten 24 Termine innerhalb von 6 Monaten absolviert werden, um die während der medizinischen Rehabilitationsleistung erreichten Ergebnisse zu stabilisieren. Im Rahmen des Nachsorgeprogramms „IRENA“ wurden insbesondere sport- und bewegungstherapeutische Leistungen erbracht.[3]
Auf dem Heimweg von einer dieser Behandlungseinheiten wurde die Klägerin auf dem Gehweg von einer Radfahrerin angefahren und erlitt diverse Prellungen.[4] Die zuständige Berufsgenossenschaft lehnte es ab, dieses Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen. Nachdem die Klägerin im Widerspruchsverfahren und vor dem SG Potsdam[5] erfolglos geblieben war, beantragte sie vor dem LSG Berlin-Brandenburg festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis um einen Arbeitsunfall handelt.
III. Die Entscheidung
Das LSG vertrat ebenso wie das SG Potsdam und die beklagte Berufsgenossenschaft die Auffassung, dass es sich bei dem Ereignis nicht um einen Arbeitsunfall handele. Arbeitsunfälle sind gem. § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit und auch der Heimweg von einer versicherten Tätigkeit steht gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Jedoch gehöre die Klägerin nicht zum versicherten Personenkreis der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwar sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auch Personen gesetzlich unfallversichert, die stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf Kosten einer Krankenkasse, eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse erhalten. Leistungen zur Nachsorge i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI, wie die IRENA, seien aber keine Leistungen zur ambulanten medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII.[6]
Das SGB VI differenziere sowohl in § 17 Abs. 1 SGB VI als auch in der Gesetzessystematik der §§ 15 ff. SGB VI zwischen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation einerseits und Leistungen zur Nachsorge andererseits.[7] Daraus und aus der Gesetzesbegründung zu § 17 SGB VI ergebe sich, dass Leistungen zur Nachsorge eigenständige Leistungen seien, die an Leistungen der medizinischen Rehabilitation anschließen, ohne inhaltlich und systematisch mit diesen identisch zu sein.[8] Während der Inanspruchnahme von Nachsorgeleistungen i. S. d. § 17 Abs. 1 SGB VI besteht laut dem LSG daher kein Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII. Die von der Klägerin in Anspruch genommene Leistung sei auch formell und inhaltlich keine Leistung zur medizinischen Rehabilitation gewesen.[9]
Auch eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auf Nachsorgeleistungen scheide aus, da keine planwidrige Regelungslücke vorliege.[10] Zum einen seien Personen, die an Nachsorgeleistungen teilnehmen, nicht mit den anderen in § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII genannten Personengruppen vergleichbar, da sie sich für einen deutlich geringeren zeitlichen Umfang in der jeweiligen Einrichtung aufhielten und die Unfallgefahr daher geringer sei. Zudem stellt das Gericht darauf ab, dass dem Gesetzgeber die Lücke im Versicherungsschutz bewusst gewesen sei, weil die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) ihn im Rahmen der Anhörungen zum Gesetzentwurf des § 17 SGB VI auf den nicht vorhandenen Unfallversicherungsschutz von Teilnehmenden an Nachsorgeleistungen hingewiesen habe.[11]
Die Revision zum BSG wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen[12] und ist unter dem Aktenzeichen B 2 U 3/24 R anhängig.
VI. Rechtliche Würdigung
Im Folgenden wird aufgezeigt, dass das streitige Ereignis abweichend von der Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg als Arbeitsunfall anzuerkennen ist. Dies erfolgt in zwei Schritten.
Zunächst wird dargelegt, dass der Begriff der medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII unter Anwendung der bereichsübergreifenden Regelung des § 42 Abs. 1 SGB IX zu bestimmen ist. Die Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg, das sich insofern vor allem auf die Systematik des SGB VI und den Wortlaut des § 17 Abs. 1 SGB VI bezieht, die Wertungen des SGB IX aber außer Betracht lässt, vermag insofern nicht zu überzeugen.
Im zweiten Schritt wird sodann erläutert, dass Nachsorgeleistungen i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI, wie die IRENA, ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sind, weil sie die in § 42 Abs. 1 SGB IX genannten Ziele verfolgen. Auch Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sprechen dafür, diesen Versicherungstatbestand auf Nachsorgeleistungen zu erstrecken.
1. Der Begriff der medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sind Personen, die stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf Kosten einer Krankenkasse, eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse erhalten, gesetzlich unfallversichert. Leistungen zur Nachsorge werden in § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII nicht ausdrücklich erwähnt.
Nicht nur das LSG Berlin-Brandenburg folgert daraus, dass während der Teilnahme an Nachsorgeleistungen nach § 17 Abs. 1 SGB VI grundsätzlich kein Unfallversicherungsschutz bestehe. Das LSG Baden-Württemberg vertrat diese Auffassung bereits zu § 31 SGB VI a. F.,[13] der Vorgängernorm des § 17 SGB VI, und auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird dies vertreten.[14]
Dennoch bleiben Zweifel. Das LSG Berlin-Brandenburg argumentiert vor allem systematisch mit der im SGB VI vorgefundenen begrifflichen Trennung zwischen medizinischer Rehabilitation und Nachsorge sowie mit dem Wortlaut des § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI. Leistungen zur Nachsorge sind gem. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI Leistungen, die erforderlich sind, um den Erfolg der vorangegangenen Leistung zur Teilhabe zu sichern. Daraus folgert das LSG, dass Nachsorge etwas anderes sein müsse als die vorangehende medizinische Rehabilitation. Diese Argumentation hat etwas für sich, aber die systematische Stellung der Nachsorgeleistungen im SGB VI dürfte letztlich nicht entscheidend dafür sein, was unter ambulanter medizinischer Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII zu verstehen ist. Dieser Ansatz vernachlässigt die Wertungen des SGB IX.
Entscheidend für die Definition der medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sollte § 42 Abs. 1 SGB IX sein, der bereichsübergreifend für alle Rehabilitationsträger Ziele und Inhalte der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vorgibt. Die Anknüpfung an die bereichsübergreifende Regelung des § 42 SGB IX ist notwendig, weil § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auch für die Rehabilitation auf Kosten der Krankenkassen gilt. Für den Begriff der medizinischen Rehabilitation kann es also nach Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII nicht auf die Binnensystematik des SGB VI ankommen, vielmehr muss es sich um einen einheitlichen Begriff handeln. Statt auf die Binnensystematik des SGB VI abzustellen, ist daher im Sinne einer leistungsbereichsübergreifenden systematischen Auslegung auf § 42 Abs. 1 SGB IX zurückzugreifen, der gemeinsamer Anknüpfungspunkt für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem SGB VI und dem SGB V ist und somit eine einheitliche Handhabung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sicherstellt.
Schließlich ergibt sich auch aus der historischen Auslegung ein enger Zusammenhang des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII mit dem SGB IX. Der Unfallversicherungsschutz der Rehabilitanden wurde erstmals 1974 durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz eingeführt,[15] bei dem es sich um ein Vorgängergesetz des SGB IX handelt. Zunächst bestand nur Versicherungsschutz während der stationären Behandlung, aber mit der Einführung des SGB IX wurde der Versicherungsschutz des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auf ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erweitert, damit „Rehabilitanden auch bei ambulanten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Unfallversicherungsschutz haben.“[16] Da diese Änderung mit dem SGB IX eingeführt wurde, liegt es nahe, für den Begriff der ambulanten medizinischen Rehabilitation auf das SGB IX zurückzugreifen.
Im Ergebnis ist anhand der in § 42 Abs. 1 SGB IX genannten Ziele zu bewerten, ob eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII vorliegt oder nicht. Bestärkt wird dieses Zwischenergebnis auch durch das bereits oben erwähnte Urteil des LSG Baden-Württemberg. Das Gericht verneint zwar – wie bereits erwähnt – grundsätzlich den Unfallversicherungsschutz während der Teilnahme an Nachsorgeleistungen.[17] Es erkennt aber gleichwohl an, dass es für die Einordnung als Leistung zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII auf die „Zielrichtung der bewilligten Maßnahme“ und die „Art der entsprechend der Bewilligung erbrachten Einzelmaßnahmen“ ankommt.[18] Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, verkennt das LSG Baden-Württemberg zwar die grundsätzlich rehabilitative Zielsetzung der Leistungen zur Nachsorge. Zugleich bestärkt dieses Urteil aber das hier gefundene Zwischenergebnis, nach dem es für das Vorliegen einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation darauf ankommt, ob die Leistung angesichts ihrer Leistungsziele und Leistungsinhalte als medizinische Rehabilitation i. S. d. § 42 SGB IX anzusehen ist.
2. Nachsorgeleistungen als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 42 Abs. 1 SGB IX
Nach § 42 Abs. 1 SGB IX zielen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation darauf ab, Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern bzw. eine Verschlimmerung zu verhindern. § 42 Abs. 2 SGB IX enthält eine nicht abschließende Aufzählung möglicher Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Anhand dieser in § 42 Abs. 1 SGB IX genannten Ziele und der in § 42 Abs. 2 und 3 SGB IX beispielhaft genannten Leistungsinhalte ist zu bestimmen, ob Leistungen zur Nachsorge i. S. d. § 17 Abs. 1 SGB VI unter den Begriff der medizinischen Rehabilitation i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII zu fassen sind.
Im Rahmenkonzept der DRV zur Nachsorge heißt es, dass die Rehabilitationsnachsorge nach § 17 Abs. 1 SGB VI und die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 15 Abs. 1 SGB VI „ein gemeinsames Ziel haben: den Erhalt oder die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.“[19] Nachsorgende Leistungen sind oft zur Erreichung des jeweiligen Rehabilitationsziels notwendig bzw. erforderlich und damit Mittel, ohne die der Rehabilitationserfolg nicht eintreten würde.[20] Dementsprechend wird die Auffassung vertreten, dass nachsorgende Leistungen ebenfalls den Zielen des § 42 Abs. 1 SGB IX dienten und ein zentraler Bestandteil der rehabilitativen Versorgungskette seien.[21] Daran anknüpfend geht ein Teil der Literatur davon aus, dass die Nachsorge i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 42 SGB IX gezählt werden muss, da sie der Sache nach eine Konkretisierung der in § 42 Abs. 2 und 3 SGB IX genannten Leistungen darstellt.[22] Dafür spricht auch, dass die in der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 1 SGB VI genannten Ziele der Nachsorge („In der Nachsorgephase sollen verstärkt Eigeninitiativen gefördert, Selbsthilfepotenziale geweckt und gestärkt und die Rehabilitanden in den Alltag eingebunden werden“[23]) mit einigen der in § 42 Abs. 3 S. 2 SGB IX genannten Leistungen korrespondieren. Die Nachsorgeleistungen sind demnach auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 42 SGB IX, wurden im SGB VI aber in einem eigenen Paragraphen geregelt.
Zu diesem Ergebnis kam auch das SG Berlin im Jahre 2008, indem das Gericht die Ziele einer Nachsorgeleistung nach der IRENA-Rahmenkonzeption mit den Zielen der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 1 SGB IX a. F., der inhaltsgleichen Vorgängernorm des § 42 Abs. 1 SGB IX, verglich.[24] Das SG Berlin urteilte, dass die Nachsorgeleistungen nach der IRENA-Rahmenkonzeption an den Rehabilitationszielen des § 26 Abs. 1 SGB IX a. F. ausgerichtet seien und es sich somit um Leistungen zur ambulanten medizinischen Rehabilitation handele.[25] Unschädlich sei auch, dass die Aufzählung in § 26 Abs. 2 SGB IX a. F. die konkret erbrachten Leistungen nicht erwähnt, denn diese Aufzählung sei nicht abschließend.[26] Auch der erste Senat des LSG Berlin-Brandenburg ging im Rahmen eines früheren Verfahrens, in dem es um eine Erstattungsstreitigkeit zwischen einem Träger der Rentenversicherung und einer Krankenkasse ging, davon aus, dass es sich bei den Leistungen der IRENA um ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 40 SGB V handelt.[27]
Zudem sprechen Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII für eine Anwendung der Norm auf Nachsorgeleistungen. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII soll die versicherten Personen während der Inanspruchnahme von Leistungen schützen, an denen sie nach den §§ 60 ff. SGB I zur Mitwirkung verpflichtet sein können. Zudem sollen sie vor den besonderen Gefahren geschützt werden, die sich aus der Aufnahme in eine Einrichtung ergeben.[28] Hinsichtlich der Mitwirkungspflichten unterscheiden sich Nachsorgeleistungen nicht von anderen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Die Teilnahme an Nachsorgeleistungen dürfte aufgrund der geringeren zeitlichen Einbindung zwar typischerweise weniger gefahrträchtig sein, die möglichen Gefahrenquellen dürften sich aber nicht von denen anderer Leistungen zur ambulanten medizinischen Rehabilitation unterscheiden.
Einen weiteren Anhaltspunkt für die Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII bietet die jüngst erfolgte Erweiterung des § 2 Abs. 1 Nr. 15 SGB VII um einen Buchstaben d),[29] der die Teilnahme an Präventionsleistungen auf Kosten eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung, der landwirtschaftlichen Alterskasse oder eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung ausdrücklich unter Unfallversicherungsschutz stellt. Der Einführung eines neuen Buchstabens d) ging ein restriktives Urteil des SG München aus dem Jahr 2018 voraus, in dem das Gericht den Unfallversicherungsschutz während der Teilnahme an von der gesetzlichen Rentenversicherung genehmigten Präventionsleistungen verneinte, weil diese zwar Teilhabeleistungen, aber keine Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII seien.[30] Darauf reagierte der Gesetzgeber mit der Einführung des § 2 Abs. 1 Nr. 15d SGB VII. Ausweislich der Gesetzesbegründung beabsichtigte er damit eine Lücke im Unfallversicherungsschutz zu schließen.[31] Auch diese Reaktion des Gesetzgebers spricht dafür, den Begriff der medizinischen Rehabilitation in § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII weniger restriktiv auszulegen und ihn auf Leistungen zu erstrecken, die den Zielen und Leistungsinhalten des § 42 SGB IX entsprechen.
Es spricht somit viel dafür, Nachsorgeleistungen i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB VI unter den Begriff der medizinischen Rehabilitation zu subsumieren. Sie sind an den Zielen des § 42 Abs. 1 SGB IX ausgerichtet und sind oft notwendig für den Erfolg einer Rehabilitation. Folgt man dieser Auffassung, sind Nachsorgeleistungen ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII, sodass während der Inanspruchnahme dieser Leistung und auf dem Hin- und Rückweg zu den Leistungserbringern Unfallversicherungsschutz besteht. Der Unfallversicherungsschutz für Personen, die an Nachsorgeleistungen teilnehmen, ließe sich also durch Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII ermitteln.[32] Einer analogen Anwendung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII bedürfte es damit auch nicht.
Das BSG hat nun die Chance, diese Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII zu korrigieren.
Beitrag von Henri Hofene, Universität Kassel
Fußnoten
[1] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris; WzS 2024, 96 (96) (Kurzwiedergabe).
[2] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 2.
[3] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 3.
[4] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 4.
[5] SG Potsdam, Urt. v. 25.08.2021 – S 2 U 62/19.
[6] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 33, 35.
[7] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 36.
[8] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 39 f. mit Bezug auf Bundestags-Drucksache 18/9787, S. 36.
[9] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 41.
[10] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 42 ff.
[11] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 49 mit Bezug auf Walling, Die rehabilitationsrelevanten Regelungen der Formulierungshilfe des BMAS zum Flexi-Renten-Gesetz, Beitrag D39-2016 unter www.reha-recht.de.
[12] LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.01.2024 – L 21 U 180/21, juris Rn. 51.
[13] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 30.04.2020 – L 10 U 1168/17, juris Rn. 25.
[14] Holtstraeter, in: Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, SGB VII, § 2 Rn. 44; nur bezogen auf isolierte Nachsorgeleistungen Lilienfeld, in: KassKomm Sozialversicherungsrecht, SGB VII, § 2 Rn. 83a.
[15] § 539 Abs. 1 Nr. 17 RVO, die Vorgängernorm des § 2 Abs. 1 Nr. 15 SGB VII, wurde durch § 21 Nr. 37 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation v. 07.08.1974, BGBl. I, S. 1881 eingeführt.
[16] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 120; § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII wurde insofern durch Art. 7 Nr. 2 b) Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen v. 19.06.2001, BGBl. I, S. 1045 geändert.
[17] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 30.04.2020 – L 10 U 1168/17, juris Rn. 25.
[18] LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 30.04.2020 – L 10 U 1168/17, juris Rn. 26.
[19] Deutsche Rentenversicherung, Rahmenkonzept zur Nachsorge i.d.F. v. 01.07.2019, S. 4.
[20] Köpke, SozSich 2016, 245 (245) m.w.N.; Stähler, in Lachwitz/Schellhorn Welti, HK-SGB IX, § 26 Rn. 10; Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB IX, § 42 Rn. 52; ähnlich auch Bundestags-Drucksache 18/9787, S. 36.
[21] Stähler, in Lachwitz/Schellhorn Welti, HK-SGB IX, § 26 Rn. 10; ähnlich Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB IX, § 42 Rn. 52.
[22] Welti, in: Deinert/Welti/Luik/Brockmann, StichwortKommentar Behindertenrecht, Stichwort: Medizinische Rehabilitation, Rn. 14; im Ergebnis auch Welti, in: Igl/Welti, Gesundheitsrecht, § 32 Rn. 12.
[23] Bundestags-Drucksache 18/9787, S. 36.
[24] SG Berlin, Urt. v. 09.04.2008 – S 112 KR 328/07, juris Rn. 14, in dem Verfahren ging es um einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F.; auch das SG Augsburg ordnete eine IRENA-Maßnahme im Rahmen einer Erstattungsstreitigkeit als Leistung zur medizinischen Rehabilitation ein, jedoch ohne nähere Begründung, siehe SG Augsburg, Urt. v. 18.02.2010 – S 12 KR 337/06, juris Rn. 19.
[25] SG Berlin, Urt. v. 09.04.2008 – S 112 KR 328/07, juris Rn. 14.
[26] SG Berlin, Urt. v. 09.04.2008 – S 112 KR 328/07, juris Rn. 14.
[27] LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.03.2011 - L 1 KR 368/08, NZS 2012, 18 (19 f.).
[28] Zum Zweck des § 2 Abs. 1 Nr. 15 SGB VII siehe BSG, Urt. v. 27.04.2010 - B 2 U 11/09 R, NZS 2011, 313 (314, Rn. 17); BSG, Urt. v. 27.06.1978 - 2 RU 20/78, NJW 1978, 2357 (2358).
[29] Art. 7 Nr. 2 des Gesetzes v. 12.06.2020, BGBl I, S. 1248.
[30] SG München, Urt. v. 06.12.2018 - S 33 U 542/17, juris Rn. 32 mit Bezug auf § 9 Abs. 1 SGB VI.
[31] Art. 7 Nr. 2 des Gesetzes v. 12.06.2020, BGBl I, S. 1248; Bundestags-Drucksache 19/17586, S. 100 f.
[32] So auch Walling, Die rehabilitationsrelevanten Regelungen der Formulierungshilfe des BMAS zum Flexi-Renten-Gesetz, Beitrag D39-2016, S. 5, unter www.reha-recht.de.
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Nachsorge, Unfallversicherungsschutz, Medizinische Rehabilitation, Arbeitsunfall, gesetzliche Rentenversicherung
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