16.07.2025 A: Sozialrecht Dose: Beitrag A11-2025

Keine Förderung einer Arbeitsassistenz durch Reha-Träger für die Tätigkeit eines Abgeordneten in der Bremischen Bürgerschaft – Anmerkung zu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER

Assistenzleistungen können für (schwer-)behinderte Menschen unerlässlich sein, um eine Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Immer wieder stellen sich dabei jedoch Fragen zur Zuständigkeit der einzelnen Leistungsträger, wenn Menschen mit Behinderungen besondere Formen von Tätigkeiten ausüben. Vor diesem Hintergrund bespricht Berit Dose den Beschluss des LSG-Niedersachsen-Bremen vom 3. Januar 2024 (L 11 AL 67/23 B ER). Das Gericht hatte darüber zu entscheiden, ob eine Mandatstätigkeit eine Arbeits- oder Berufstätigkeit im Sinne des Sozialgesetzbuches ist.

Die Autorin legt das Hauptaugenmerk ihres Beitrags auf die Voraussetzungen zur Kostenerstattung einer Arbeitsassistenz nach § 112 SGB III i. V. m. § 49 Absatz 3 Nr. 7, Absatz 8 Nr. 3 SGB IX und ordnet die Entscheidung in den völkerrechtlichen Kontext ein.

Der vorliegende Beitrag wurde bereits unter dem gleichen Titel leicht abgewandelt in der Zeitschrift RP Reha 1/2025 erstveröffentlicht. Wir danken dem Universitätsverlag Halle-Wittenberg für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

(Zitiervorschlag: Dose: Keine Förderung einer Arbeitsassistenz durch Reha-Träger für die Tätigkeit eines Abgeordneten in der Bremischen Bürgerschaft – Anmerkung zu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER; Beitrag A11-2025 unter www.reha-recht.de; 16.07.2025)

I. Thesen der Autorin

  1. Mandatstätigkeiten, die nicht unter die Leistungsvoraussetzungen des § 49 SGB IX fallen, können von Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf nur unter erschwerten Bedingungen ausgeführt werden.
     
  2. Zur Verwirklichung des Art. 29 a) ii) UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist es notwendig, dass der Gesetzgeber Maßnahmen ergreift, um das passive Wahlrecht sowie die Ausübung von parlamentarischen Tätigkeiten für Menschen mit Behinderungen mit Assistenzbedarfen zu garantieren.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Die Tätigkeit als Abgeordneter im Bremer Landtag kann aufgrund ihrer statusrechtlichen Besonderheiten nicht als Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit i. S. d. § 49 SGB IX qualifiziert werden, sodass die Voraussetzungen des Anspruchs auf Kostenerstattung für eine Arbeitsassistenz nach § 112 SGB III i. V. m. § 49 Abs. 3 Nr. 7, Abs. 8 Nr. 3 SGB IX nicht erfüllt sind.
     
  2. Die Abgeordnetentätigkeit fällt auch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Eingliederungshilfe nach §§ 76, 78 Abs. 5 SGB IX.

III. Der Sachverhalt

Dem Antragsteller, welchem ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 zuerkannt worden ist, war bis zum 30. Juni 2023 bei einem Verein sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Für diese Tätigkeit wurden ihm von der Bundesagentur für Arbeit (BA) als zuständiger Rehabilitationsträger die Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz zugesagt und vom für die Ausführung zuständigen Integrationsamt bewilligt. Zuletzt erfolgte die Kostenerstattung mit Bescheid vom 25. April 2023 für den Zeitraum vom April 2023 bis März 2024.

Nachdem der Antragsteller seit dem 8. Juni 2023 Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft (Landtag Bremens) war und er sein bis dato bestehendes Beschäftigungsverhältnis im Verein zum 30. Juni 2023 beendet hatte, hob das Integrationsamt die Bewilligung zur Förderung einer Arbeitsassistenz mit Bescheid zum 1. Juli 2023 auf. Die beantragte Kostenerstattung für eine Arbeitsassistenz während der Abgeordnetentätigkeit lehnte die BA mit der Begründung ab, zwar die zuständige Rehabilitationsträgerin für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) zu sein; die Abgeordnetentätigkeit sei jedoch nicht als förderfähige Beschäftigung anzuerkennen.

Der Antrag auf eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht Bremen[1] in erster Instanz blieb erfolglos. Ebenso wie die BA war das Gericht der Auffassung, der Antragsteller erfülle als Abgeordneter nicht die Anspruchsvoraussetzungen für eine Arbeitsassistenz gem. § 112 SGB III i. V. m. § 49 Abs. 3 Nr. 7, Abs. 8 Nr. 3 SGB IX. Der Antragsteller legte dagegen am 26. Oktober 2023 Beschwerde beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ein und verlangte sowohl die Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses als auch, die BA zu verpflichten, die Kosten für die notwendige Arbeitsassistenz in der Tätigkeit als Abgeordneter in der Bremer Bürgerschaft zu tragen.

IV. Die Entscheidung

Das LSG stimmte der Vorinstanz zu und wies die Beschwerde des Antragstellers zurück. Die Beschwerde sei zwar zulässig, aber unbegründet.

Zunächst stellte das Gericht heraus, welche Normen für den Anspruch auf Leistungen der LTA einschlägig sind und verglich dabei das für den Sachverhalt relevante SGB III mit dem des SGB IX.

Im SGB IX Teil 1 würden zwar grundsätzlich die Ansprüche geregelt, die ein Leistungsberechtigter für die berufliche Rehabilitation geltend machen kann [§§ 49–63 SGB IX], gleichzeitig stelle Teil 1 des SGB IX jedoch lediglich ein Rahmengesetz dar.[2] Die Leistungsgesetze der einzelnen Rehabilitationsträger würden die individuellen Leistungsansprüche normieren und die Normen des SGB IX nur dann greifen, wenn in den einzelnen Gesetzen der Träger keine Regelungen getroffen wurden. Der § 49 Abs. 3 Nr. 7, Abs. 8 Nr. 3 SGB IX könne damit aufgrund der lex specialis Vorschriften der §§ 112 ff. SGB III nur subsidiär herangezogen werden.[3] Das ergebe sich bereits aus § 7 Abs. 1 SGB IX.

Weiterhin wird der § 112 Abs. 1 SGB III mit seinen Voraussetzungen dargestellt: Ziel des § 112 SGB III sei – in Abgrenzung zu anderen Rehabilitationsleistungen – die (Wieder-) Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Dabei bezieht sich das LSG auf die Definition des Behinderungsbegriffs des Arbeitsförderungsrechts, welche sich im § 19 Abs. 1 SGB III befindet. Die Definition nehme zwar direkten Bezug auf die Definition aus § 2 Abs. 1 SGB IX, sei mit ihrem Wortlaut indes enger gefasst und auf LTA beschränkt.[4]

Nachdem das Gericht festgestellt hat, dass sowohl die Behinderung des Antragstellers als auch der Bedarf für eine Arbeitsassistenz unstreitig gegeben seien, setzt es sich intensiv mit der Tätigkeit als Abgeordneter in einem Landesparlament als eine Arbeits- oder Berufstätigkeit i. S. d. § 112 Abs. 1 SGB III auseinander und nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des BSG[5] sowie des BVerfG[6]. Ein Abgeordneter sei durch eine Wahl berufener Inhaber eines öffentlichen Amtes und Träger eines freien Mandats. Dieses könne keine Dienste i. S. einer Beschäftigung oder einer selbstständigen Tätigkeit darstellen.[7] Damit stelle die Abgeordnetendiät weder ein Arbeitsentgelt aus unselbstständiger Beschäftigung i. S. d. § 14 Abs. 1 SGB IV noch ein Arbeitseinkommen aus selbstständiger Tätigkeit i. S. d. § 15 S. 1 SGB IV dar.

Dadurch sei die Abgeordnetentätigkeit des Antragstellers keine Arbeits- oder Berufstätigkeit. Diese erfülle nicht die Voraussetzungen für den Anspruch nach § 112 Abs. 1 SGB III i. V. m. § 49 Abs. 3 Nr. 7, Abs. 8 Nr. 3 SGB IX. Das Gericht stellt dazu auch auf die Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Fürsorgestellen (BIH) ab, nach der Landtagsabgeordnete ausdrücklich von den förderfähigen Beschäftigungsverhältnissen ausgenommen werden.[8] Diese entfalten zwar keinen bindenden Rechtscharakter[9], jedoch könnten sie als Ersatz der bislang fehlenden Verordnung durch den Bund gem. § 191 SGB IX zur Konkretisierung des Anspruchs gem. § 49 Abs. 8 Nr. 3 SGB IX herangezogen werden.[10]

Auch der Wortlaut der geltenden landesrechtlichen Normen der Bremischen Landesverfassung bzw. des Bremer Abgeordnetengesetzes würden nichts anderes bedeuten. Es eröffne sich auch kein Raum für eine Analogie wegen einer Regelungslücke, denn die rechtliche Ausgestaltung des Abgeordnetenmandats sei zu weitreichend. Mit Bezug auf das BSG stellt das LSG fest, dass eine Abgeordnetentätigkeit regelmäßig eine (atypische) Unterbrechung des Berufslebens darstelle.[11] Der Verweis des Antragstellers auf andere landesrechtliche Abgeordnetengesetze, die Mittel für eine Arbeitsassistenz bereitstellten, verstärke die Gründe gegen eine Analogiefähigkeit. Denn wenn Abgeordnete solche Leistungen wie die vom Anspruchsteller begehrten Mittel benötigten, sei dies in Gesetzen für die jeweiligen Abgeordneten bzw. Parlamente zu regeln.[12]

Zuletzt führte das Gericht an, dass auch ein Anspruch im Rahmen der sozialen Teilhabe gem. §§ 76, 78 SGB IX nicht gegeben sei. Die Mandatstätigkeit falle nicht unter den Wortlaut der förderfähigen Alltagsbewältigung und Tagesstrukturierung.[13]

V. Würdigung/Kritik

Der Entscheidung ist nach juristischer Betrachtung zuzustimmen, wenngleich sie eine gesetzliche Regelungslücke in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen in politischen Ämtern aufzeigt.

1. Anspruch auf Arbeitsassistenz gem. § 112 SGB III

Grundsätzlich ergeben sich die Voraussetzungen für die Kostenerstattung einer notwendigen Arbeitsassistenz aus § 49 Abs. 3 Nr. 7, Abs. 8 Nr. 3 SGB IX. Jedoch handelt es sich hierbei lediglich um ein Rahmengesetz, für welches vorrangig die jeweiligen Leistungsgesetze der Leistungsträger – im vorliegenden Fall die Bundesagentur und damit das SGB III – maßgeblich sind. Das ergibt sich aus § 7 Abs. 1 SGB IX.[14] Die konkreten Voraussetzungen für die Gewährung von LTA zu Lasten der BA regeln die §§ 112 SGB III ff. In § 118 SGB III befindet sich eine unvollständige Aufzählung von besonderen Leistungen, die von der BA als Leistungsträgerin zu erbringen sind. Der dort fehlende eindeutige Verweis auf die §§ 49 ff. SGB IX führt zu einer höheren Intransparenz sowohl für die Leistungsberechtigten als auch für die Leistungserbringer.[15] Es ist dennoch höchstrichterlich bestätigt worden, dass der § 118 SGB III in seinem Leistungskatalog um die Leistungen des § 49 SGB IX zu ergänzen ist.[16]

Der Begriff der Behinderung wird im § 19 Abs. 1 SGB III für die Leistungen der Arbeitsförderungen definiert. Durch den Verweis auf § 2 Abs. 1 SGB IX wird allerdings deutlich, dass auch das Arbeitsförderungsrecht keine eigene Definition der Behinderung geschaffen hat, sondern die bereits existierende Begriffsbestimmung lediglich für den Bereich der LTA modifiziert wird.[17] Das erkennt auch das LSG zutreffend.[18] Der Antragsteller erfüllte zweifelsfrei diese Voraussetzung.

Als Problem stellte sich jedoch die Frage, inwieweit der Abgeordnete eines Landesparlaments einen Anspruch auf LTA in Form einer Arbeitsassistenz hat.

2. Abgeordnetentätigkeit als Beschäftigung

Schon lange beschäftigt die deutsche (Sozial-)Gerichtsbarkeit die Frage, ob die Mandatstätigkeit in einem Parlament als eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verstanden werden kann.[19]

Das Bundesverfassungsgericht[20] hat die Tätigkeit von Abgeordneten wie folgt definiert:

„Der Abgeordnete ist ein vom Vertrauen der Wähler berufener Inhaber eines öffentlichen Amtes und Träger des freien Mandats. (…) [Er] „schuldet“ [insoweit] rechtlich keine Dienste.“[21]

Die Abgeordnetendiäten sollen also nicht als Bezahlung – und dadurch vergleichbar mit Beamtenbesoldung – verstanden werden, sondern als Entschädigung die Unabhängigkeit der vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter garantieren.[22] Damit stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass Abgeordnete nicht mit Beamten oder gar sozialversicherungspflichtig Beschäftigten i. S. d. § 7 SGB IV vergleichbar sind. Richtigerweise ändert auch der Wortlaut in der Bremischen Landesverfassung, nach dem die Abgeordneten einen „Anspruch auf ein angemessenes Entgelt“[23] haben, daran nichts.

Da der Anspruch aus § 112 Abs. 1 SGB III i. V. m. § 49 Abs. 3 Nr. 7 SGB IX jedoch verlangt, dass mit der Leistung die Teilhabe am Arbeitsleben (wieder-)hergestellt bzw. erhalten werden soll, bedarf es zumindest einer Arbeits- oder Berufstätigkeit. Es bleibt also festzuhalten, dass ein Abgeordneter eines (Landes-)Parlaments nicht als Selbstständiger oder Beschäftigter i. S. d. Sozialgesetzbuches anzusehen ist und damit auch nicht die Voraussetzungen des SGB III bzw. des SGB IX erfüllt.

3. Abgeordnetentätigkeit förderfähig im Weg von §§ 76, 78 Abs. 5 SGB IX?

Das LSG stellt kurz fest, dass eine Assistenzleistung auch nicht auf der Grundlage von §§ 76, 78 Abs. 5 SGB IX erstattet werden könne. Begründet wird dies mit dem Wortlaut von § 78 Abs. 5 SGB IX: Eine Abgeordnetentätigkeit stelle keine förderfähige Alltagsbewältigung bzw. Tagesstrukturierung dar.[24] Tatsächlich gibt es indes weder in der Norm selbst noch in der Literatur Ausführungen dazu, ob eine Abgeordnetentätigkeit unter den Anwendungsbereich von § 78 SGB IX fallen kann.[25]

Der Gesetzgeber nimmt an, dass Menschen mit Behinderungen die notwendige Unterstützung in ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit grundsätzlich vorrangig aus ihrem persönlichen Umfeld erhalten können, z. B. durch Freunde oder Familie, und hat dazu eine Regelung in § 78 Abs. 5 S. 2 SGB IX getroffen.[26] Wenn eine unentgeltliche Unterstützung allerdings nicht zumutbar ist, sieht das Gesetz in § 78 Abs. 5 S. 1 SGB IX, einen Erstattungsanspruch gegenüber den Trägern der sozialen Teilhabe vor.[27] Im vorliegenden Fall geht es um die Ausübung eines politischen Mandates. Für das zivilgesellschaftliche Ehrenamt finden sich in der Gesetzesbegründung zu § 78 SGB IX besondere Ausführungen. Insoweit betont schon der Gesetzgeber des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), dass er dem Ehrenamt wegen dessen Förderung und Stärkung der Zivilgesellschaft eine besondere Bedeutung beimisst und betont dies gerade auch im Zusammenhang mit der Sicherung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.[28] Die ehrenamtliche Tätigkeit von Menschen mit Behinderungen soll mit dem § 78 Abs. 5 SGB IX gestärkt und in ihrer Ausübung gefördert werden.[29]

Doch bleibt auch hier festzuhalten, dass eine Assistenzleistung aus den Leistungen der Eingliederungshilfe lediglich nachrangig beansprucht werden kann, wenn kein anderer Sozialleistungsträger zuständig ist oder die Hilfe nicht von Dritten (z. B. (Landes-)Parlamenten) geleistet wird, vgl. § 91 Abs. 1 SGB IX.

Nicht nur in (Landes-)Parlamenten besteht für Abgeordnete mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf die Frage nach einer Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers zur Kostenerstattung. Auch für Menschen mit Behinderungen in kommunalen Vertretungen bleibt dieselbe Frage nach einer (zumindest nachrangigen) Kostenerstattung für eine notwendige Assistenzleistung bestehen.[30] Es sollte sich damit bestenfalls ein originärer Anspruch im Verhältnis Staat – Mandatsträger aus der bereits bestehenden öffentlich-rechtlichen Normenhierarchie ergeben, ohne dass auf das Sozialstaatssystem zurückgegriffen werden muss.[31]

4. Vereinbarkeit mit der UN-BRK

Es wird in einigen Urteilsbesprechungen zurecht die Frage aufgeworfen, inwieweit die Regelungslücke des Teilhaberechts mit Art. 29 UN-BRK vereinbar ist.[32] In Art. 29 a) UN-BRK werden die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und umfassend zu gewährleisten. Darunter fallen explizit auch das passive Wahlrecht sowie die Ausübung eines politischen Amtes.[33] Eine solche Teilhabe ist für Menschen, die z. B. auf eine Arbeitsassistenz angewiesen sind, nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

Die UN-BRK ist in der Bundesrepublik mit dem 26. März 2009 in Kraft getreten und hat seither den Rang von einfachem Bundesrecht.[34] Ob es sich bei einzelnen Artikeln der UN-BRK sogar um sogenannte „self-executing“-Normen mit unmittelbarer Anwendbarkeit handelt, muss für jede Bestimmung im Einzelfall durch Gerichte festgestellt werden.[35] Aber auch wenn der jeweilige Artikel der UN-BRK nicht unmittelbar anwendbar ist, so sind die sich aus den Artikeln ergebenden Bestimmungen von den Vertragsstaaten im nationalen Recht heranzuziehen. Insbesondere unter dem verfassungsrechtlich verankerten Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG muss die UN-BRK Berücksichtigung finden.[36] 

Dabei sind unbestimmte Rechtsbegriffe bei der Auswahl z. B. von Sozialleistungen wie den Assistenzleistungen im Lichte der UN-BRK auszulegen.[37] Inwieweit bei kollidierenden Ergebnissen der völkerrechtliche Vertrag vorrangig anzuwenden wäre, bleibt weiterhin im Einzelfall zur Überprüfung den Gerichten überlassen. Dass das LSG in seiner Entscheidung nicht auf die Ziele der Behindertenrechtskonvention eingeht, sondern die Prüfung sehr gezielt auf die Normen der einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches beschränkt, ist angesichts der besonderen Thematik und deren bislang seltener juristischer Diskussion zumindest plausibel. Die Betroffenen werden allerdings mit ihren begründeten und auch unstreitigen Bedarfen allein gelassen. Das Rechtsschutzersuchen an die Sozialgerichtsbarkeit hat im konkreten Fall nicht dazu beigetragen, die erkannte Versorgungslücke zu schließen. Denkbar wäre allerdings, an genau dieser Stelle anzusetzen und durch Fälle wie den hier besprochenen einen Anstoß zur Rechtsfortentwicklung zu geben. Die Sozialleistungsträger und insbesondere die Rehabilitationsträger können in Vorleistung gehen, wenn andere die von ihnen zu erbringenden Leistungen nicht wie geschuldet erfüllt haben. §§ 14 ff. SGB IX ist Ausdruck dessen, kam aber hier gegenüber einem Parlament bzw. dem Bundesland nicht in Betracht. Denkbar wäre aber, über den im Sozialrecht geregelten Weg der Legalzession Rechtsschutz zu ermöglichen. So könnten sich originäre Ansprüche gegen andere Pflichtige (dazu unten Nr. 5) und bei deren Nichterfüllung auch ein Schadenersatzanspruch ergeben. Darüber ließe sich dann eine Vorleistung durch den Sozialleistungsträger, hier die BA oder die Eingliederungshilfe, vorstellen, die den leistenden Träger zum Rückgriff gegen den eigentlich Pflichtigen berechtigt. Dieses Prinzip verdeutlicht § 116 Abs. 1 SGB X.[38]

5. Die Einführung des § 10a Bremer AbgG

Ein Rückgriff auf Sekundäransprüche ist allerdings dort nicht nötig, wo durch unmittelbare Anspruchsregelungen die Bedarfe direkt gedeckt werden können. Umso erfreulicher ist es, dass im Nachgang der Entscheidung der Bremischen Bürgerschaft die Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Völkerrecht ebenso aufgefallen ist. Seit der Einführung des § 10a des Bremischen Abgeordnetengesetzes am 14. März 2024[39] können Landtagsabgeordnete mit Behinderungen Leistungen beantragen, die die Mandatstätigkeit erleichtern bzw. erst ermöglichen. Damit orientiert sich Bremen an den Leistungen nach dem SGB IX.

Das Land Bremen begründet diesen Schritt mit der gleichberechtigten Teilhabe: Die bloße Tatsache der festgestellten Behinderung mit Unterstützungsbedarf solle niemanden daran hindern dürfen, eine Abgeordnetentätigkeit wahrzunehmen. Eine solche Schlechterstellung im Vergleich zu behinderten Menschen mit einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt müsse verhindert werden.[40]

Auch in anderen Bundesländern gibt es Normen, die einen Nachteilsausgleich für Abgeordnete mit Behinderungen schaffen[41]; diese bleiben jedoch meist hinter den sozialrechtlichen Ansprüchen auf LTA zurück. Eine entsprechende Norm gibt es im Abgeordnetengesetz des Bundes bisher nicht. Lediglich über § 12 Abs. 3 AbgG wäre eine Bezahlung von Arbeitsassistenzen denkbar. Denn nach dieser Norm stehen dem Bundestagsabgeordneten Aufwendungen zur Beschäftigung von Mitarbeitenden zu, die ihn bei der parlamentarischen Arbeit unterstützen sollen. Da Arbeitsassistenzen jedoch gerade nicht inhaltliche Arbeit übernehmen, kann schon nach dem Wortlaut der Norm diese Abrechnung nicht gewollt sein. Noch dazu sind die finanziellen Mittel für alle Abgeordneten gleich hoch begrenzt, sodass in der Konsequenz den Abgeordneten mit Behinderung und notwendiger Arbeitsassistenz die Gelder für fachliche Mitarbeitende fehlen würden.[42]

Einen weiteren Lösungsansatz könnte der § 12 Abs. 2 S. 3 AbgG darstellen. Nach dem Wortlaut der Norm muss sich die zu erteilende Kostenpauschale für die Aufwandsentschädigung am tatsächlichen Aufwand orientieren. Sie wird näher durch das Haushaltsgesetz und Ausführungsbestimmungen des Ältestenrats bestimmt. Hier gilt es, die verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung des Wortlauts in den Fokus zu rücken: In Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG ist das Behinderungsverbot der Mandatsausübung verfassungsrechtlich garantiert. Wenngleich sich das weithin anerkannte Verständnis des Begriffs „Hinderung“ in diesem Kontext auf „ein Verhalten [bezieht], das die Übernahme oder Ausübung des Abgeordnetenmandats erschweren oder unmöglich machen soll[43], müssen zumindest entgegenstehende Interessen von Verfassungsrang bei der Auslegung berücksichtigt werden. Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich ein umfassendes Benachteiligungsverbot gegenüber Menschen mit Behinderungen. Konkretisierender wird noch der Art. 29 a) ii) UN-BRK, durch den insbesondere die Ausübung des passiven Wahlrechts für Menschen mit Behinderung garantiert und Benachteiligungen verhindert werden sollen.[44] Eine solche tatsächliche Benachteiligung besteht aber, wenn ein Abgeordneter seine erforderlichen Rehabilitationsleistungen wie z. B. Assistenzleistungen nicht entschädigt bekommt und damit gerade schlechter gestellt wird als vergleichbare Abgeordnete ohne eine (Schwer-)Behinderung.

Ein intentionales schädigendes Verhalten für den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG vorauszusetzen, kann also eine (zu weite) Einschränkung des Wortlauts darstellen und damit zu unvorhergesehenen Schutzlücken führen.[45] Es wäre wünschenswert, den § 12 Abs. 2 S. 3 AbgG rehabilitationsgerecht auszulegen und den tatsächlichen Aufwand von Abgeordneten mit erforderlichen Assistenzbedarfen in pauschalierten Kostensätzen auch auf Bundesebene zu berücksichtigen.[46]

VI. Ausblick

So wie Bremen im vergangenen Jahr vorangeschritten ist, sollte es auch in allen anderen (Landes-)Parlamenten möglich sein, Aufgaben der Inklusion mithilfe eines normativen Rahmens umzusetzen. Assistenzbedarfe sind nicht weniger erforderlich, nur weil der (schwer-)behinderte Mensch eine Tätigkeit ausübt, die nicht unter die engen Voraussetzungen der Leistungsgesetze der Rehabilitationsträger, § 6 SGB IX, fällt.

Das Bundesverfassungsgericht selbst hat zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG festgestellt, dass „eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluß von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein [kann], wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Beförderungsmaßnahme kompensiert wird.“[47]

Damit ist der jeweils zuständige öffentliche Träger grundsätzlich in der Pflicht, sogenannte „angemessene Vorkehrungen“ i. S. d. Art. 5 UN-BRK i. V. m. Art. 2 Abs. 4 UN-BRK zu ergreifen, um eine politische Teilhabe von Menschen mit behinderungsbedingten Assistenzbedarfen zu ermöglichen.[48]

Letztlich lässt sich zusammenfassen, dass mit der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen eine klare Regelungslücke aufgezeigt worden ist, die es auf allen Ebenen, sowohl vertikal (Bund, Länder und Kommunen) als auch horizontal (vergleichbare Leistungen in allen Bundesländern entsprechend ihrer finanziellen Haushaltsmöglichkeiten) zu schließen gilt. Andernfalls bleibt Deutschland in seinen Bemühungen der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem Gebiet der politischen Mitwirkung hinter den Bestimmungen der UN-BRK zurück.

Beitrag von Berit Dose, LL.M.oec., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten

[1] SG Bremen, Beschl. v. 09.10.2023 – S 13 AL 87/23 ER.

[2] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn 18.

[3] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn 18 mit Verweis auf Schubert in: Schubert/Schaumberg, juris-PK SGB III, 3. Aufl. 2023, § 112 Rn. 14.

[4] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn 19; ebenso Banafsche in: LPK-SGB III, 3. Aufl. 2019, § 112 Rn. 2.

[5] BSG v. 23.02.2000 – B 5 RJ 26/99 R, juris Rn. 13.

[6] BVerfG v. 30.09.1987 – 2 BvR 933/82, juris Rn. 161.

[7] BSG v. 23.02.2000 – B 5 RJ 26/99 R, juris Rn. 13, 17 mit Verweis auf BVerfG v. 30.09.1987 – 2 BvR 933/82, juris Rn. 161; BVerfG v. 05.11.1975 – 2 BvR 193/74, juris Rn. 42.

[8] BIH, Liste der förderfähigen Beschäftigungsverhältnisse, S. 2, 14, abrufbar im Internet: https://www.bih.de/integrationsaemter/aufgaben-und-leistungen/empfehlungen/, zuletzt abgerufen am 30.01.2025.

[9] Wurtmann in: Knittel, SGB IX, 12. Aufl. 2024, § 191 Rn. 1.

[10] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER juris Rn. 21.

[11] BSG v. 23.02.2000 – B 5 RJ 26/99 R, juris Rn. 17.

[12] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn. 21.

[13] Luthe in: Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB IX, 4. Aufl. 2023, § 78 Rn. 4.

[14] Joussen in: LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 7 Rn, 6 ff.; Nebe in BeckOGK (Gagel) SGB III, vor § 112 Rn. 4.

[15] Nebe in BeckOGK (Gagel) SGB III, § 118 Rn. 1.

[16] Damals noch die Vorgängernormen § 103 SGB III a. F. sowie § 33 SGB IX a.F., BSG, Urt. v. 04.06.2013 – B 11 AL 8/12, juris Rn 19; ebenso BVerwG, Urt. v. 10.01.2013 – 5 C 24/11,
juris Rn. 32.

[17] Banafsche in: LPK-SGB III, 3. Aufl. 2019, § 112 Rn. 2; Nebe in BeckOGK (Gagel) SGB III, § 19 Rn. 3; zu den verschiedenen Ansichten zum Behinderungsbegriff im SGB III Banafsche in: LPK-SGB III, 3. Aufl. 2019, § 112 Rn. 2 Fn. 1.

[18] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn. 19.

[19] Das Abgeordnetenverhältnis in Abgrenzung zum Beamtenverhältnis BVerfG v. 05.11.1975 – 2 BvR 193/74; BSG v. 23.02.2000 – B 5 RJ 26/99 R.

[20] BVerfG v. 30.09.1987 – 2 BvR 933/82.

[21] BVerfG v. 30.09.1987 – 2 BvR 933/82, juris Rn. 161.

[22] BVerfG v. 05.11.1975 – 2 BvR, juris Rn. 42.

[23] Vgl. Art. 82 II BremVerf.

[24] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 03.01.2024 – L 11 AL 67/23 B ER, juris Rn. 22.

[25] Dazu auch Sulzbach, SGb 2024, 718 (719).

[26] Zur Begründung wird auf Chorbesuche oder Sportveranstaltungen verwiesen, Bundestag Drucksache 18/9522, S. 263.

[27] Conrad-Giese in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX Kommentar, 5. Aufl. 2023, § 78 Rn. 24.

[28] Bundestag Drucksache 18/9522, S. 263; kritisch zu den Differenzen zwischen § 78 Abs. 1 und Abs. 5 SGB IX mit Verweis auf Art. 30 Abs. 2 UN-BRK insoweit v. Boetticher/Kuhn-Zuber, Rehabilitationsrecht, 2. Aufl. 2022, Rn. 239.

[29] Conrad-Giese in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX Kommentar, 5. Aufl. 2023, § 78 Rn. 23;

[30] Zu einer bundeseinheitlichen Lösung für Abgeordnete im SGB IX plädiert daher Sulzbach, SGb 2024, 718 (720).

[31] Dazu noch unten unter 5.

[32] Barkhoff, RdLH 2024, 67 (68); Sulzbach, SGb 2024, 718 (718).

[33] Vgl. Art. 29 a) ii) UN-BRK.

[34] Trenk-Hinterberger in: Kreutz/Lachwitz/Trenk-Hinterberger, die UN-BRK in der Praxis,
Einführung Rn. 4.

[35] Trenk-Hinterberger in: Kreutz/Lachwitz/Trenk-Hinterberger, die UN-BRK in der Praxis,
Einführung Rn. 33 ff.

[36] Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 18. Aufl. 2024, Art. 3 Rn. 160 mit
Verweis auf BVerfGE 160, 79, Rn. 102 m. w. N.

[37] Trenk-Hinterberger in: Kreutz/Lachwitz/Trenk-Hinterberger, die UN-BRK in der Praxis,
Einführung Rn. 43.

[38] Dazu Nebe, Vortrag „Berufliche Inklusion von behinderten Menschen – Koordinierung sozial- und arbeitsrechtlicher Ansprüche auf behinderungsgerechte Arbeitsplatzgestaltung“ 20. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium, Bochum 15.03.2011.

[39] GBl. Bremen 2024 Nr. 18, S. 94 f.

[40] Bremische Bürgerschaft Drucksache 21/297, S. 3.

[41] So z. B. in § 8 I Nr. 4 AbgG Brandenburg, § 6 III 7 AbgG Nordrhein-Westfalen.

[42] So auch Barkhoff, RdLH 2024, S. 67 (69).

[43]  BVerfG, Beschl. v. 21.09.1976, BVerfGE 42, 312 (329); dieser Entscheidung zustimmend Schulze-Fielitz in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 48 Rn. 15 m. w. N.

[44] Dazu bereits unter 4.

[45] Ausführlich zum Art. 48 Abs. 2 GG Welti, die soziale Sicherung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der Landtage und der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament, 1998, S. 110 ff.

[46] Zum Problem grundsätzlich bereits Welti. ArbuR 1998, 345 (348f.); ders., ZParl 2000, 254 (256, 273).

[47] BVerfG, Urt. v. 8.10.1997, BVerfGE 96, 288 (303).

[48] Zum Begriff ausführlich Welti in: Gesellschaftliche Bewegungen – Recht unter Beobachtung und in Aktion, FS Wolfhard Kohte, 1. Aufl. 2016, S. 649 f.


Stichwörter:

Arbeitsassistenz, Teilhabe am politischen Leben, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Eingliederungshilfe, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)


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