27.09.2018 A: Sozialrecht Theben: Beitrag A18-2018

Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur UN-Behindertenrechtskonvention

Im vorliegenden Beitrag befasst sich Rechtsanwalt Dr. Martin Theben anhand ausgewählter Beispiele mit der Auslegung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die obersten Bundesgerichte sowie der Frage, ob die Konvention lediglich zur Auslegung herangezogen werden soll oder die Betroffenen aus ihr individuell einklagbare, subjektive Rechte ableiten können.

Der Autor geht zunächst auf die Cialis-Entscheidung des BSG ein. In dieser Sache machte der an MS erkrankte Kläger bei seiner Krankenversicherung Kosten für das Medikament Cialis gegen seine erektile Dysfunktion geltend und berief sich dabei auf das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sowie auf Art. 25 S. 3 b der UN-Behindertenrechtskonvention.

In der zweiten beispielhaften Entscheidung hatte das Bundesverwaltungsgericht darüber zu entscheiden, ob ein blinder, schwerbehinderter und in Teilzeit beschäftigter Beamter Anspruch auf eine Assistenz für eine weitere Beschäftigung hat.

Die letzte genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes beschäftigt sich mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer ärztlichen Behandlung gegen den Willen von nicht einsichtsfähigen Betreuten bei einer drohenden gesundheitlichen Beeinträchtigung.

(Zitiervorschlag: Theben: Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur UN-Behindertenrechtskonvention; Beitrag A18-2018 unter www.reha-recht.de; 27.09.2018)

I. These des Autors

Die UN-Behindertenrechtskonvention wird, soweit es ihre Geltung in der Bundesrepublik Deutschland betrifft, im kommenden Jahr 10 Jahre alt. Man kann nicht behaupten, dass diese völkerrechtliche Regelung im bundesdeutschen Justizwesen ein Schattendasein führt. Vielmehr wird sie in zahlreichen juristischen Fachpublikationen sowie in vielen Judikaten rezipiert[1]. Der nachfolgende Beitrag untersucht an einigen ausgewählten Beispielen, wie oberste Bundesgerichte die UN-Behindertenrechtskonvention auslegen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob es sich bei der Konvention um eine, wenn auch sehr umfassende, reine Umsetzungsprogrammatik handelt oder aber die Betroffenen aus ihr konkret individuell einklagbare subjektive Rechte ableiten können. Ohne das Ergebnis vorwegzunehmen, ist die Antwort auf diese Frage eine typisch juristische: Es kommt darauf an!

II. Die Cialis-Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 6. März 2012, Az. B 1 KR 10.11 R[2]

Zum ersten Mal kam das Bundessozialgericht, und hier konkret der für das Krankenversicherungsrecht zuständige 1. Senat, in die Verlegenheit, sich näher mit dem Gehalt der UN-Behindertenrechtskonvention zu befassen. In der Sache machte der an MS erkrankte Kläger gegen seine zuständige Krankenkasse Kosten geltend, die er selbst für die Beschaffung des Arzneimittels Cialis zur Behandlung seiner erektilen Dysfunktion aufgewendet hatte. Zur Begründung berief er sich neben dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention und hier insbesondere auf Art. 25 S. 3 b.[3] Diese Vorschrift bezieht sich auf das Recht von Menschen mit Behinderungen, ohne Diskriminierung umfassend an der Gesundheitsversorgung teilhaben zu können.

Das Bundessozialgericht griff hier die seitdem in vielen weiteren Entscheidungen vorgenommene Differenzierung zwischen Self-Executing- und Non-Self-Executing-Vorschriften der UN-Behindertenrechtskonvention auf. Sofern es sich um Regelungen handelt, die unmittelbar Anwendung finden und nicht noch einer konkreten Umsetzung durch den Gesetzgeber bedürfen, handelt es sich danach um Self-Executing-Vorschriften. In allen anderen Fällen muss erst noch der Gesetzgeber konkret tätig werden, um die betreffenden Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Hierbei spricht man dann von sog. Non-Self-Executing-Vorschriften[4].

Allerdings weist das Bundessozialgericht unabhängig von dieser Entscheidung darauf hin, dass sämtliche Vorschriften dieser völkerrechtlichen Konvention bei der Auslegung von Vorschriften des nationalen Rechts als Auslegungshilfe heranzuziehen sind.

Das Bundessozialgericht beantwortet in dieser Entscheidung auch noch die Frage, wann eine Vorschrift unmittelbare Anwendung findet. Sie muss hinreichend bestimmt sein, ihre Auslegung muss ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift, rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf, argumentiert das Bundessozialgericht auch unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[5] zur Auslegung anderer völkerrechtlicher Regelungen. Im konkreten Falle wies das Bundessozialgericht das Begehren des Klägers auf Kostenerstattung zurück. Insbesondere ergebe die Auslegung von Art. 25 UN-BRK, dass es sich hierbei eben gerade nicht um eine Self-Executing-Vorschrift im Sinne der Senatsrechtsprechung handele.

III. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Januar 2018, Az. 5 C 9.16

Auch der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts sah sich in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2018 veranlasst, zum Regelungsgehalt der UN-Behindertenrechtskonvention Stellung zu nehmen. In dieser Entscheidung hatte er darüber zu befinden, ob ein blinder und mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt schwerbehinderter Beamter in Teilzeitbeschäftigung die Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz im Rahmen einer weiteren Beschäftigung erstattet bekommen kann. Das Gericht bejahte den Anspruch des Klägers. Der Anspruch könne ihm nicht unter Hinweis auf die bereits vorhandene Teilzeitbeschäftigung verwehrt werden. Es sei das Recht auch von schwerbehinderten Arbeitnehmern und Beamten, selbst darüber zu befinden, ob und wie viele Tätigkeiten sie nebeneinander ausüben. In dem Zusammenhang sind dann auch die erforderlichen Unterstützungsleistungen, hier die erforderliche Arbeitsassistenz, zu gewähren bzw. die dafür entstandenen Kosten zu erstatten. Dieses Recht, so der Senat in seinen Entscheidungsgründen, ergebe sich unter anderem auch aus Art. 27 UN-BRK. Danach haben Menschen mit Behinderungen unter anderem das Recht, ihre Arbeit frei zu wählen. Ungeachtet der konkreten Frage, inwieweit diese Vorschrift einen konkreten Anspruch vermittelt, weist das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang ebenfalls darauf hin, dass die Regelungen jedenfalls als Auslegungshilfe heranzuziehen sind.

IV. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2016, Az. 1 BvL 8/15

Aufgrund einer Vorlage des Bundesgerichtshofes[6] hatte sich der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage zu befassen, inwieweit eine Behandlung von nicht einsichtsfähigen Betreuten bei drohenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch gegen ihren Willen verfassungsrechtlich zulässig ist. Im Kern ging es dabei um die Auslegung des § 1906 Abs. 3 BGB. Es entsprach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass jeder medizinische Eingriff verfassungsrechtlich nur dann gerechtfertigt ist, wenn er aufgrund einer Einwilligung des Betreffenden erfolgt. Ausnahmen würden nur bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen oder Dritter gelten.[7] Dies gelte im Zweifel auch für nicht einsichtsfähige Personen. Der Bundesgerichtshof warf mit seiner Vorlage nunmehr die Frage auf, ob vor dem Hintergrund des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, der das Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert, an dieser verfassungsrechtlichen Spruchpraxis ausnahmslos festgehalten werden könne. Das Bundesverfassungsgericht bzw. konkret der 1. Senat schränkte in seinem Beschluss vom 26. Juli 2016 seine bisherige Rechtsprechung dahingehend ein, dass bei drohender erheblicher gesundheitlicher Gefährdung eine Behandlung im Ausnahmefall auch gegen den Willen des Betreuten durchgeführt werden könne. Das Gericht wies allerdings sehr deutlich darauf hin, dass es sich hier um eine Ausnahme handelt. Diese Einschränkung zur Wahrung der Schutzrechte der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 GG werde auch nicht durch Art. 12 Abs. 4 UN-BRK[8] eingeschränkt. Zum einen weist das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung ebenfalls darauf hin, dass die Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention als einfaches Bundesrecht zur Auslegung anderer nationaler Vorschriften heranzuziehen sind. Eine konkrete Unterscheidung hinsichtlich der Frage, ob Art. 12 UN-BRK Self-Executing oder Non-Self-Executing ist, vermeidet das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle. Es weist allerdings darauf hin, dass sich der Rechtsgehalt dieser Regelung vor allem an jene Betroffenen richtet, die in der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit eben nicht eingeschränkt sind. Darüber hinaus verpflichte auch Art. 12 Abs. 4 UN-BRK die Vertragsstaaten zu geeigneten Sicherungen gegen Interessenkonflikte, Missbrauch und Missachtung sowie zur Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit;[9] eben dies entspreche der hier vorgenommenen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts von § 1906 Abs. 3 BGB im Lichte der Grundrechte.

Schließlich nimmt der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts dann auch noch zur Rechtsverbindlichkeit der Empfehlungen des UN-Fachausschusses für die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention Stellung. Auch dessen Empfehlungen in Bezug auf das Verbot von Zwangsbehandlungen von Menschen mit Behinderungen[10] stehen der hier vom Senat getroffenen Auslegung nicht entgegen. Die Stellungnahmen des Fachausschusses seien für deutsche Behörden und Gerichte nämlich nicht verbindlich. Es handele sich dabei lediglich um Empfehlungen, die allerdings auch nicht gänzlich unbeachtet bleiben dürften. Dies ist die erste Entscheidung eines obersten Gerichts in der Bundesrepublik Deutschland, die so klar und eindeutig zu den Empfehlungen des UN-Fachausschusses über die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention Stellung bezieht.

V. Zusammenfassung und Ausblick

Es bleibt am Ende auch unter Berücksichtigung der soeben wiedergegebenen höchstrichterlichen Rechtsprechung der klare Befund: Wesentliche Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention bedürfen der konkreten Umsetzung durch den Gesetzgeber. Die Politik auf allen Ebenen bleibt hier also aufgefordert, unter Einbeziehung der Betroffenen in den jeweiligen Lebensbereichen zu angemessenen Regelungen zu gelangen. Ungeachtet dessen sind die Rechtsanwender, vor allem aber auch die Anwaltschaft, weiterhin aufgerufen, die Behörden und auch die Gerichte immer wieder zur Auseinandersetzung mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention „zu zwingen“. In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit der UN-Monitoring-Stelle, die in Deutschland beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, nicht hoch genug einzuordnen. Nicht nur, dass die Monitoring-Stelle regelmäßig Verbändekonsultationen[11] durchführt und die Selbsthilfeorganisationen bei der Abfassung der Schattenberichte unterstützt. Die UN-Monitoring-Stelle hat auch maßgeblich an der Weiterentwicklung des Rechts, etwa von Landesgleichstellungsgesetzen, unter Einhaltung der Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention mitgewirkt. Neuerdings, und dies stellt einen besonderen Beitrag zur von der Konvention geforderten Bewusstseinsbildung dar, führt sie auch Schulungen von Richtern durch. Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Rechtsanwender die Chance erkennen, sich hier von kompetenter Seite ihren völker- und menschenrechtlichen Blick im Interesse einer diskriminierungsfreien und teilhabeorientierten Rechtsprechung erweitern zu lassen.

Beitrag von RA Dr. Martin Theben, Berlin

Fußnoten

[1] Vgl. die Aufsätze von Aichele,Valentin https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Weitere_Publikationen/die_un_behindertenrechtskonvention_in_der_gerichtlichen_praxis_anwaltsblatt_2011.pdf, zuletzt abgerufen am 24.09.2018;  https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/policy_paper_9_die_un_behindertenrechtskonvention_und_ihr_fakultativprotokoll.pdf, zuletzt abgerufen am 24.09.2018, und Tolmein, Oliver https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Gleichbehandlung_und_die_UN_BRK_in_der_sozialrechtlichen_Praxis.pdf, zuletzt abgerufen am 24.09.2018; Masuch https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/diskussionsbeitrag-d5-2012/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018, Kastl https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d25-2017/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[2] Anmerkung von Theben, Martin in http://www.archiv.berliner-behindertenzeitung.de/kostenuebernahme-fuer-empfaengnisverhuetungsmittel/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[3] Der Wortlaut nebst Erläuterungen findet sich beispielsweise hier https://www.behindertenrechtskonvention.info/gesundheitssorge-3910/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[4] Grundlegend zu dieser völkerrechtichen Auslegungspraxis, hier in Bezug auf die unmittelbare Rechtswirkung einer EU-Richtline vgl. EuGH, Urteil vom 26.02.1986 Rs. 152/84 „Marshall“ Rz. 46 juris http://lorenz.userweb.mwn.de/urteile/eugh1986,723.htm, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[5] Vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 22.03.2000 1 BvR 1500/93 Rz. 5 juris https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2000/03/rk20000322_1bvr150093.html, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[6] BGH, Beschluss vom 01.07.2015 XII ZB 89/15 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=f67f3fe6bd118a0b6dae3433ffacd740&nr=71667&pos=0&anz=1, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[7] Vgl. schon zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug BVerfG, Beschluss vom 12.11.2007 2 BvR 9/06 Rz. 25–27 juris https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2007/11/rk20071112_2bvr000906.html, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[8] Der Wortlaut und Erläuterungen zu Art. 12 UN-BRK findet sich hier https://www.behindertenrechtskonvention.info/rechtsfaehigkeit-und-geschaeftsfaehigkeit-3808/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[9] Vgl. dazu jetzt auch das Urteil des BVerfG zur Fixierung von Patienten, BVerfG Urteil vom 24.07.2018 2 BvR309/15 Rz. 90f. juris https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/07/rs20180724_2bvr030915.html, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.

[10] Vgl. z. B. den Bericht des UN Fachausschuss vom Januar 2015 https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G15/004/88/PDF/G1500488.pdf?OpenElement (Englische Version, zuletzt abgerufen am 24.09.2018) S. 12 Rz 68–72.

[11] Nähere Informationen dazu finden sich hier https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/verbaendekonsultationen/, zuletzt abgerufen am 24.09.2018.


Stichwörter:

UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Monitoring-Stelle, Art. 25 UN-BRK, Deutsches Institut für Menschenrechte, Art. 3 GG, Gesundheitsversorgung, UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, (ärztliche) Zwangsbehandlung


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