22.06.2017 D: Konzepte und Politik Kastl: Beitrag D25-2017

Rechtliche Grenzen von Menschenrechten – was war und was ist von der UN-Behindertenrechtskonvention zu erwarten?

Mit dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) scheint die Diskussion über die "Umsetzung" der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) an einem toten Punkt angelangt zu sein. Nach den politischen Auseinandersetzungen um das BTHG wird deutlich, dass die Erwartungen zurückgeschraubt werden müssen. Sowohl Autorinnen und Autoren wie Kritiker des BTHG hatten und haben gleichermaßen den Anspruch die UN-BRK "umsetzen" zu wollen. Der Wortlaut der UN-BRK scheint also weniger eindeutig zu sein, als zunächst erhofft.

Prof. Dr. Jörg Michael Kastl bezieht diesen Umstand auf strukturelle Paradoxien menschenrechtlicher Prinzipien in modernen Rechtssystemen, plädiert für eine größere Aufrichtigkeit aller Akteure in diesem Punkt und zugleich für eine stärker politische Diskussion.

(Zitiervorschlag: Kastl: Rechtliche Grenzen von Menschenrechten – was war und was ist von der UN-Behindertenrechtskonvention zu erwarten?; Beitrag D25-2017 unter www.reha-recht.de; 22.06.2017.)


I. Menschenrechte, Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) und das Grundgesetz

Das komplexe gegliederte Behindertenrecht in Deutschland führt in vielen Fällen dazu, dass man sich mit der Aufgabe der Lösung eines scheinbar gordischen Knotens konfligierender Rechtsgüter und Zuständigkeiten konfrontiert sieht. Ein gutes Beispiel hierfür bietet etwa ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zur Sonderbeschulung aus dem Jahr 1997.[1] Er enthält zugleich eine maßgebliche generelle Auslegung des Benachteiligungsverbots bei Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz – GG)[2]. Die Frage der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sieht das Gericht im Spannungsverhältnis von Artikel 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Artikel 3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz und Benachteiligungsverbot), Artikel 6 GG (Erziehungsrecht bzw. -pflicht der Eltern) und Artikel 7 GG (Erziehungsauftrag des Staates, Bestimmungsrecht des Staates über die Schule).[3] Daraus ergibt sich bei der Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte Beschulungsform eine verbotene Benachteiligung darstellt oder nicht, eine im Einzelfall zu vollziehende, sehr komplexe Abwägung zwischen den Rechten des behinderten Kindes aus Artikel 2 und 3 GG, denselben Rechten nicht-behinderter und behinderter (Mit-)Schüler, der Eltern des Kindes sowie den Gestaltungsrechten des Staates bezüglich des Schulwesens und des Einsatzes immer begrenzt verfügbarer öffentlicher Mittel.

Die Berufung der UN-BRK auf die Menschenrechtsdeklarationen schien für viele das Versprechen auf die Durchschlagung solcher mühsam im Einzelfall zu entwirrender „gordischer Knoten“ zu beinhalten. Auf der Basis der Menschenrechte müssten sich doch nun endlich eindeutige und nicht einschränkbare Rechtsansprüche herstellen lassen: Schule für alle, Finanzierung von Wohnwünschen, Recht auf Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Hilfsmittel zur Teilhabe ohne Wenn und Aber, Abschaffung von Betreuungsrecht und Mehrkostenvorbehalten u. a. m. Solche Erwartungen, durch von Politik und Pädagogik propagierte Zeitenwenden und Paradigmenwechsel noch verstärkt, folgen aber letztlich einem naiven Verständnis der Funktionsweise von Menschenrechten. Selbstverständlich war der Bezug auf Menschenrechte auch vor Inkrafttreten der UN-BRK im Grundgesetz in Artikel 1 GG verankert. Sie werden zudem in Gestalt von Grund- und Bürgerrechten auf einer ersten Stufe verfassungsrechtlich und in weiteren Stufen in sehr unterschiedlichen Rechtsbereichen konkretisiert.[4] Legislative und Jurisdiktion waren selbstverständlich auch schon vor Inkrafttreten der UN-BRK verpflichtet, sie auf die besonderen Probleme von behinderten Bürgerinnen und Bürgern zu beziehen. Zugleich gilt aber: auch die UN-BRK ist von denselben normativen Spannungsverhältnissen geprägt, wie sie die bisherige deutsche Rechtsprechung – wohlgemerkt: sachlich plausibel und unvermeidlich – geltend gemacht hatte.

II. Die Rechtsprechung und die UN-BRK

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg z. B. formulierte in diesem Sinne schon 2012: "Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG [also das Benachteiligungsverbot bei Behinderung, jmk] muss auch nach Inkrafttreten des UN-Behindertenrechtsübereinkommens bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Einzelmaßnahme der Schulaufsichtsbehörde, wie der Feststellung einer Sonderschulpflicht, nicht anders als bisher [...] ausgelegt werden."[5] Er nimmt dabei Bezug auf den oben erwähnten Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes und bestätigt damit auch dessen Vorgabe einer genauen Abwägung im Einzelfall. Auch in anderen Fällen haben Gerichte ein uneingeschränktes Recht auf inklusive Beschulung auf der Basis des Artikels 24 der UN-BRK zugunsten einer differenzierten Abwägung im Einzelfall verneint.[6] Jedes Mal wurden die Klagen mit dem Argument zurückgewiesen, der Artikel 24 erfülle die Bedingungen für eine unmittelbare Anwendung völkerrechtlicher Regelungen nicht, weil er zu unbestimmt sei, um rechtliche Wirkungen auszulösen.

Gleichlautende Formulierungen finden sich in Beschlüssen und Urteilen im Zusammenhang mit der Versorgung mit Medikamenten und Hilfsmitteln.[7] Versuche, in der Eingliederungshilfe bislang nicht gewährte Hilfen bzw. die Finanzierung von Mehrkosten bei ambulant betreutem Wohnen unter Verweis auf Artikel 25 und Artikel 19 der Konvention zu erstreiten, liefen ins Leere.[8] Ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Fachgutachten dokumentiert insgesamt 227 Entscheidungen deutscher Gerichte, in denen auf die UN-BRK Bezug genommen wird. In keinem einzigen Fall (!) war es aber zu einer unmittelbaren Anwendung der UN-BRK gekommen. Selbst dort, wo Verfahren im Sinne der betroffenen behinderten Menschen erfolgreich waren, geschah dies durchweg im Rekurs auf Rechtsnormen außerhalb der UN-BRK.[9]

Warum das so ist, darüber kann einen ein unvoreingenommener Blick in den Wortlaut der Konvention belehren. Nehmen wir hier nur das Beispiel des Artikels 19. Behinderte Menschen sollen "gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben." Die unterzeichnenden Staaten sollen gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang "zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen" sowie zu allgemeinen Dienstleistungen und Einrichtungen haben. Von einer Finanzierungspflicht des Staates für die Umsetzung individueller Wohnwünsche und -bedürfnisse ist jedoch keine Rede. Im Gegenteil wird gerade an dieser Stelle von den Autorinnen und Autoren der Konvention alles getan, um den Eindruck zu vermeiden, hier sollten subjektive Rechte geschaffen werden. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen weist darauf hin, dass die UN-BRK an anderen Stellen sehr wohl das Wort "Anspruch" verwendet, genau an dieser entscheidenden Stelle aber völlig darauf verzichtet. Es bleibt bei einer abwehrrechtlich akzentuierten Formulierung.[10]

Damit wird auch hier ein feiner Zynismus des Gleichheitsgebots wirksam, etwa im Sinne von Anatole France ironischem Diktum von der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen und Armen gleichermaßen das Schlafen unter Brücken, das Betteln und das Stehlen von Brot untersage. "Gleichberechtigt" heißt in der UN-BRK immer "gleichberechtigt mit allen anderen", d.h. auch nicht-behinderten Menschen. Die Entscheidung über private Wohnverhältnisse ist frei. Niemand hat das Recht jemandem vorzuschreiben, wie er wohnen soll. Faktisch kann die Ausübung dieser Freiheit freilich bei jedermann, also auch bei behinderten Menschen durch einen Mangel an Ressourcen eingeschränkt sein. Die Formulierungen des Artikels 19 lassen offen, ob die zusätzliche Benachteiligung der Behinderung nicht bereits durch die "angemessene Vorkehrung" der Gewährleistung einer Infrastruktur gemeindenaher Dienste und Einrichtungen kompensiert ist. Bereits das 1961 in Kraft getretene Bundessozialhilfegesetz ist insofern über die UN-BRK hinausgegangen als es konkrete soziale Rechte in Gestalt des Rechtsanspruches auf Eingliederungshilfe verankert hat. Das Bundesteilhabegesetz geht durch die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht und die weitere Konkretisierung ihrer Inhalte noch einmal einen weiteren Schritt, den man als solchen natürlich nur begrüßen kann.

Insgesamt ist festzuhalten, dass hier eine deutliche und nahezu einhellig von den Gerichten festgehaltene Grenze der UN-BRK liegt, die sich bei der inklusiven Beschulung, der medizinischen Versorgung, der Teilhabe an Arbeit u. a. analog stellt. Über subjektive, insbesondere soziale Rechte schweigt sich die Konvention in vornehmer Allgemeinheit aus. Zudem stellen sich die für die bisherige Entscheidungspraxis maßgeblichen normativen Spannungsverhältnisse unverändert auch im Rahmen der UN-BRK. Das gilt für die Abwägung zwischen dem Recht auf bestmögliche individuelle Entfaltung (und damit Förderung ggf. auch in "besonderen" Konstellationen) und dem Recht auf Gleichheit des Zugangs.[11] Das gilt aber auch für die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Staates in Bezug auf Organisations- und Kostengesichtspunkte.[12] Die UN-BRK schließt Kostenvorbehalte keineswegs aus.[13] Deswegen konnten die Mehrkostenvorbehalte des SGB XII auch bruchlos in das BTHG übernommen und eher noch ausgeweitet als eingeschränkt werden.

III. Politische Kritik an der Rechtsprechung

Weil das so ist, greift auch eine immer wieder zu beobachtende Kritik an Entscheidungen von Sozialgerichten zu kurz. Beispiele dafür finden sich z. B. in der Dokumentation einer 2015 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales veranstalteten Tagung zum Thema "Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis".[14] Die UN-BRK werde, so ist dort zu lesen, in der Rechtsprechung zu selten herangezogen, sei "noch nicht durchgedrungen", es gebe "erhebliche Wissenslücken" bei Richterinnen und Richtern.[15] Diese würden die "Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben mit dem Hinweis [...] verweigern, es handele sich lediglich um politisch-programmatische Orientierungshilfen".[16] Eine offensive(re) Rechtsprechung wird gefordert.[17] Vor Ort fehle die "Phantasie für neue, kreative Lösungen", "Richterinnen und Richter hätten voranzuschreiten und der neuen Rechtslage Geltung zu verschaffen". [18] Kritisiert wird die Neigung vieler Richterinnen und Richter in der Konvention lediglich eine "Sammlung politischer Programmsätze zu sehen".[19]

Aus der Perspektive des Jahres 2017 erscheint freilich die bei der Tagung geäußerte Richter-Kritik, auch wenn sie von Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern geäußert wurde, nachträglich in einem zwiespältigen Licht. Denn nachdem das BTHG nunmehr vorliegt, nachdem auch mehrere Bundesländer das Schulrecht im Sinne der UN-BRK reformiert haben, wissen wir Genaueres über die Bereitschaft der Politik die angeblichen menschenrechtlichen "Vorgaben" umzusetzen. Von einer Zerschlagung der eingangs apostrophierten gordischen Knoten kann keine Rede sein. Zwar wurde damit begonnen die Eingliederungshilfe aus ihrer fürsorgerechtlichen Einbettung zu lösen – gewiss ein wichtiger Schritt. Er liegt aber als solcher durchaus in der Linie des bereits mehrfach zitierten Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1997 und hätte nicht der Begründung durch die UN-BRK bedurft (die sich ja ohnehin zu sozialen Rechten prinzipiell ausschweigt). Allerdings bleibt es auch im BTHG dabei, dass der Staat nicht die vollständige Verantwortung für den Nachteilsausgleich der Behinderung übernimmt. Wer dazu in der Lage ist, muss nach wie vor einen Eigenbeitrag leisten. Besonders gravierend aber: die Hilfe zur Pflege wird im Sozialhilferecht belassen, gerade Menschen mit einem sehr umfassenden Hilfebedarf profitieren also nicht von der Regelung. Mehrkostenvorbehalte bestehen im BTHG in Gestalt des § 104 SGB IX-neu[20] nach wie vor. Zudem entstehen durch die Ermächtigung des Eingliederungshilfeträgers zu einer gemeinsamen Leistungserbringung auch im ambulanten Bereich weitere Einsparmöglichkeiten zulasten der Leistungsberechtigten. Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was – sicherlich nach eingehender juristischer Prüfung durch die Bundesregierung – alles auf dem Boden eines Gesetzes möglich ist, das den Anspruch hat "die Behindertenpolitik im Einklang mit der UN-BRK" weiterzuentwickeln.[21]

Was die Politik letztlich bereit war zu konkretisieren, gibt unfreiwillig der zunächst so geschmähten Tendenz von Sozialrichterinnen und Sozialrichtern Recht, "in der Konvention lediglich eine Sammlung politischer Programmsätze zu sehen" (Rudolf, vgl. FN 19). Die Kritik daran fordert ausgerechnet von den Richterinnen und Richtern einen politischen Impuls ein, den die Politik selbst zu geben nicht bereit war. Auch im Bereich der Schulgesetzgebung der Länder lässt sich zeigen, dass die Politik sich mittlerweile faktisch die vorsichtigere (ich würde sagen: genauere) Lesart der Richterinnen und Richter zu eigen gemacht hat. Die schulrechtlichen Veränderungen beinhalten allenfalls Akzentverschiebungen, meist in Richtung einer größeren Stärkung des Elternrechtes. Ein uneingeschränktes Elternrecht gibt es jedoch genauso wenig wie die flächendeckende Einführung einer Schule für alle bzw. die Abschaffung von Sonderschulen.

Das wirft nachträglich die Frage auf, ob sich die allenthalben zu beobachtende Überschätzung sozial(leistungs)rechtlicher Implikationen der UN-BRK sich nicht einfach einer bildungs- und sozialpolitischen Aufbruchseuphorie verdankt, die aber keine Entsprechung in der rechtlichen Substanz des Konventionstextes findet. Es wäre dann ein Zeichen der Qualität und Unabhängigkeit unserer Gerichte, dass sie sich nicht dazu instrumentalisieren ließen, etwas "umzusetzen", was rechtlich nicht geboten war und von dem die Politik nachträglich erkennen lässt, dass sie dazu auch nicht den politischen Willen hat.

IV. Rechtliche Grenzen der Menschenrechte

Insgesamt haben wir es hier mit einem Anwendungsfall des von Niklas Luhmann postulierten Paradoxes der "Positivierungsbedürftigkeit des vorpositiven Rechts" zu tun.[22] Menschenrechte sollen jeder konkreten, gesetzten und gesatzten (positiven) Rechtsordnung vorausgehen und somit unabhängig von jedem konkreten Anwendungskontext Gültigkeit haben. Menschenrechte sind in ihrer Bedeutung am eindeutigsten, wenn es um die Verletzung elementarer Rechtsgüter geht, wie sie typischerweise in Unrechtsstaaten vorkommen. Gerade dort sind sie aber für die davon Betroffenen in der Regel nicht wirksam einklagbar. Um wirksam werden zu können, sind Menschenrechte auf die Positivierung, Anerkennung und Konkretisierung in einer konkreten rechtsstaatlichen Ordnung angewiesen. Gerade in Rechtsstaaten bilden nun zwar elementare und eindeutige Menschenrechtsverletzungen eher die Ausnahme. Aber nur dort können sie, wenn sie denn vorkommen, wirksam eingeklagt werden. Das eigentliche rechtsstaatliche Problem stellt sich aber in der Anwendung, Konkretisierung und Bestimmung der Bedeutung und Reichweite von Menschenrechten auf alle Bereiche einer Rechtsordnung, den "rechtlichen Alltag", z. B. im Sozialrecht, im bürgerlichen Recht, im Strafrecht. Auf dieser Ebene produzieren die notwendig generalisierten Menschen- (Grund-, Bürger-) Rechte aber unvermeidlich regelmäßig normative Spannungsverhältnisse: "Freiheit muss rechtlich akzeptierte Einschränkungen, die Gleichheit muss rechtlich akzeptierte Ungleichheiten akzeptieren." schreibt Niklas Luhmann lapidar.[23] Menschenrechte müssen daher – auf den jeweiligen rechtlichen Kontext bezogen – inhaltlich bestimmt, gegeneinander abgegrenzt, damit aber zwangsläufig wechselseitig "eingeschränkt" werden. Kein Sozialstaat wäre überlebensfähig, gäbe es nicht "völkerrechtlich erlaubte, weil diskriminierungsfreie gesetzliche Anspruchsbeschränkungen".[24]

Menschenrechte können auf dieser Ebene nicht "uneingeschränkt", "unmittelbar", "direkt" angewendet werden. Einschränkungen, Abwägungen, Ausbalancierungen von Grundrechtskonflikten, scheinbar gordische Knoten müssen in einem Rechtsstaat ausgehalten werden. Eine Rhetorik wechselseitiger Vorwürfe, Menschenrechte und UN-BRK "nicht umsetzen zu wollen" sowie eine überzogene Moralisierung führt bei den anstehenden behinderungspolitischen und -rechtlichen Diskussionen nicht mehr weiter. Menschenrechte und UN-BRK tragen für die Frage, ob und welche Geldbeträge der Staat für Schulbegleitung, Realisierung von Wohnwünschen oder für kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Einzelfall bereitstellen muss und nach welchen Kriterien er dies tun soll, wenig oder nichts bei. Es hilft nichts – hier wird man pragmatischer, gleichsam nach einer "gewerkschaftlichen" Logik denken und handeln müssen als es bislang der Fall ist. Betroffene müssen ihre konkreten Forderungen stellen. Gesellschaft und Politik müssen Farbe bekennen, welche Ressourcen sie bereit sind, auch in der Abwägung mit anderen, ebenso berechtigten sozialen Anliegen zur Verfügung zu stellen und welche nicht.[25] Darüber muss politisch gestritten, verhandelt und entschieden werden. Bei aller berechtigten Hochachtung für die UN-BRK sollte man dabei eines nicht aus dem Blick verlieren: in Gestalt des Grundgesetzes und des daran anschließenden Sozialrechts verfügt Deutschland über eine der sowohl im historischen wie im Weltmaßstab fortschrittlichsten Institutionalisierungen gesellschaftlicher Einbeziehung behinderter Menschen. Das kann man anerkennen und zugleich an der Verbesserung dieses Systems arbeiten.

Beitrag von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

 


Fußnoten:

[1] BVerfG, Beschluss des ersten Senats vom 8. Oktober 1997 – 1 BvR 9/97: insbes. Rz. 54 ff.; auch: BVerfGE 96, 288–315.

[2] Ebd. Rz. 50-52, vgl. dazu Jörg M. Kastl: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden (VS) 2017: 222.

[3] Ebd., Rz. 54.

[4] Obwohl vor Inkrafttreten der UN-BRK veröffentlicht, ist hierfür nach wie vor einschlägig: Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat. Tübingen (Mohr Siebeck) 2005. Zu den Auswirkungen der UN-BRK vgl. Felix Welti: Potenzial und Grenzen der menschenrechtskonformen Auslegung des Sozialrechts am Beispiel der UN-BRK. In U. Faber u. a. (Hrsg.): Gesellschaftliche Bewegungen – Recht unter Beobachtung und in Aktion. Festschrift für Wolfhard Kohte. Baden-Baden (Nomos) 2016: 635–658.

[5] VGH Baden-Württemberg vom 21.11.2012 – Az. 9 S 1833/12: 1.

[6] Z. B. Hessischer VGH 12.11.2009/ Az. 7 B 2763, OVG Lüneburg vom 16.09.2010 Az. 2 ME 278//10

[7] Z. B. BSG vom 06.03.2012 B1/KR10/11 R und vom 21.03.2013 B3 KR3/12 R.

[8] Z. B. LSG Baden-Württemberg vom 18.07.2013 L7 SO 4642/12, LSG Nordrhein/Westfalen vom 06.02.2014 L 20 SO 436/13 B ER.

[9] Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Deutsches Institut für Menschenrechte: Dokumentation der Fachtagung "Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis" des Deutschen Instituts für Menschenrechte am 6. März im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin. Berlin 2015. Internetressource: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Dokumentation/Dokumentation_Fachtagung_Menschenrechte_und_Sozialrecht.pdf, Anhang; vgl. insgesamt auch Matthias Röhl: Die UN-Behindertenrechtskonvention in der Rechtsprechung des BSG. jM 2016: 461–466 sowie Ernst-Wilhelm Luthe: Die Behindertenrechtskonvention – leicht überstrapaziert. jM 2015: 190-196.

[10] Vgl. auch Matthias Münning: Mehrkostenvorbehalt ade? Subjektiv-öffentliche Rechte aus Art. 19 der UN-BRK? In: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht. Fachbeitrag D32-2013; anders dagegen Peter Masuch: Die Behindertenrechtskonvention anwenden! In: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht. Fachbeitrag D5-2012.

[11] Vgl. dazu etwa Art. 2, 5, Abs. 4, 7 Abs. 2 UN-BRK.

[12] Vgl. dazu die Definition "angemessener Vorkehrungen" in Artikel 2 UN-BRK.

[13] Vgl. dazu Matthias Münning: Mehrkostenvorbehalt ade? Subjektiv-öffentliche Rechte aus Art. 19 der UN-BRK? In: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht. Fachbeitrag D32-2013

[14] BMAS/DIM 2015 a. a. O. (Fußnote 8).

[15] Monika Paulat in BMAS/DIM 2015 a. a. O.: 11.

[16] Peter Masuch in BMAS/DIM 2015 a. a. O.: 12 f.

[17] Ders.: 14.

[18] Theresia Degener in BMAS/DIM a. a. O.: 16 f.

[19] Beate Rudolf in BMAS/DIM a. a. O.: 25.

[20] Tritt ab 1. Januar 2018 in Kraft.

[21] Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode, Drucksache 18/9522, 5.9.2016: S. 3.

[22] Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1995: 233.

[23] Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1995: 234.

[24] Röhl a. a. O.: 466.

[25] So auch Luthe a. a. O.: 194.


Stichwörter:

UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Sonderbeschulung, Gleichberechtigung, Behinderung, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft


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