08.12.2022 A: Sozialrecht Karatasiou, Rothe, Sternjakob: Beitrag A19-2022

Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten – Teil II: Mehr kollektiven Rechtsschutz wagen!

Die Autorinnen Vaia Karatasiou, Konstanze Rothe und Solveig Sternjakob setzen sich in ihrem zweiteiligen Beitrag mit der Entscheidung des OVG NRW vom 24.02.2022 – 11 B 131/22 und daran anschließend den Möglichkeiten von Verbandsklagen zur Herstellung von Barrierefreiheit auseinander. Strittig war die Frage, ob sich aus § 7 BGG NRW ein Anspruch auf die Entfernung eines Pendeltors im öffentlichen Raum ergeben kann. Das OVG verneinte das, da sich aus den geltenden Vorschriften kein subjektiver Anspruch ergebe. Die Autorinnen kritisieren, dass die Durchsetzung von Barrierefreiheit - wie an diesem Beispiel zu erkennen - im Individualrechtsschutz oft nur schwer erreichbar ist.

Im zweiten Teil beleuchten die Autorinnen Hintergrund und Zweck der Verbandsklage nach § 15 BGG bzw. § 6 BGG NRW. Sie kommen zu dem Schluss, dass Verbandsklagen ein geeignetes Mittel zur Herstellung von Barrierefreiheit sein können und geben vor dem Hintergrund der aktuellen Evaluation des BGG Hinweise, wie dieses Rechtsinstrument noch effektiver gestaltet werden könnte.

(Zitiervorschlag: Karatasiou, Rothe, Sternjakob: Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten – Teil II: Mehr kollektiven Rechtsschutz wagen!; Beitrag A19-2022 unter www.reha-recht.de; 08.12.2022.)

I. Einleitung

In Teil I des Beitrags wurde anhand der Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 2022 aufgezeigt, dass das Recht auf Barrierefreiheit zwar an mehreren Stellen gesetzlich verankert ist, die Durchsetzung dieses Rechts für die einzelne Person im Individualrechtsschutz aber oft nur schwer erreichbar ist. Darum werden nachfolgend Möglichkeiten und Grenzen des kollektiven Rechtsschutzes in solchen Fällen diskutiert.

II. Kollektiver Rechtsschutz als Ausweg?

Da im vorliegenden Fall der Individualrechtsschutz Barrierefreiheit nicht durchsetzt, wäre denkbar, die Verletzung von Regelungen zur Barrierefreiheit im kollektiven Rechtsschutz geltend zu machen. Doch auch hier zeigen sich deutliche Rechtsschutzhürden. Die Prozessstandschaft nach § 14 BGG ist nicht einschlägig, da auch hierfür eine subjektive Rechtsverletzung vorliegen müsste. Der verwaltungs- und sozialrechtliche Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen eines Menschen mit Behinderungen kann danach nicht nur vom Betroffenen selbst, sondern mit dessen Einverständnis, auch von anerkennten Verbänden nach § 15 Abs. 3 BGG im eigenen Namen beantragt werden.[1] 

Es bleibt die Verbandsklage nach § 15 BGG bzw. § 6 BGG NRW[2], die einschlägig ist, wenn keine individuelle Betroffenheit gegeben ist. Das Instrument der Verbandsklage zur kollektiven Rechtsdurchsetzung wurde bereits in der ersten Fassung im BGG 2002 vorgesehen.[3] Im NRW-Landesrecht wurde es ein Jahr später eingeführt.[4] Grund für die Forderung einer Verbandsklage im Behindertenrecht waren die objektive Ausgestaltung der Normen der Barrierefreiheit, aber auch die Tatsache, dass gerade für Menschen mit Behinderungen die Realisierung der Ansprüche oft existenzielle Bedeutung hat, jedoch an finanziellen oder gesundheitlichen Gründen scheitern kann.[5]

Die Möglichkeit eines Verbandsklageverfahrens ist aber ausschließlich auf die enumerativ aufgelisteten Fälle des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–3 BGG bzw. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 NRW BGG beschränkt.[6] Im Landesrecht heißt es, verstößt ein Träger öffentlicher Belange i. S. v. § 1 Abs. 2 BGG NRW i. V. m. § 2 S. 2 IGG NRW gegen das Diskriminierungsverbot (§§ 2 und 3 NRW BGG) oder werden Kommunikations- oder Mobilitätsbarrieren aufrecht erhalten oder errichtet (§§ 7 bis 10 NRW BGG), kommt eine Verbandsklage in Frage. Gleichzeitig setzt die Erhebung einer Verbandsklage voraus, dass es sich gemäß § 15 Abs. 2 S. 2 BGG bzw. § 6 Abs. 2 BGG NRW um einen Fall von allgemeiner Bedeutung handelt. Es ist den Vorschriften zu entnehmen, dass dies insbesondere dann anzunehmen ist, wenn eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle vorliegt. Hervorzuheben ist, dass § 6 Abs. 2 S. 2 BGG NRW als einen Beispielsfall von allgemeiner Bedeutung auch generell Fragen der Barrierefreiheit benennt.

Das Pendeltor könnte eine Mobilitätsbarriere im öffentlichen Raum darstellen. § 7 Abs. 1 BGG NRW sieht vor, dass öffentliche Wege nach Maßgabe der geltenden Rechtsvorschriften barrierefrei zu gestalten sind. Da mangelnde Barrierefreiheit eine unbestimmte Zahl von Menschen beeinträchtigt, ist die Verletzung der Norm, die eine Verbesserung der Barrierefreiheit bewirken soll, von allgemeiner Bedeutung.[7] Es spricht vieles dafür, dass eine Verbandsklage nach Landesrecht hier das geeignete Rechtsschutzmittel sein kann. Es fehlte allerdings an einem Verband, der den Sachverhalt entsprechend verfolgt hätte. Mit der Verbandsklage hätte die Feststellung einer Rechtsverletzung geltend gemacht werden können. Auf Grund ihrer Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG müsste die Klagegegnerin ein Feststellungsurteil umsetzen.

Verbandsklagen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen[8] werden nur in geringem Ausmaß genutzt. Dies bestätigt nicht nur der vorliegende Fall, sondern sowohl die erste Evaluation des BGG 2014[9] als auch die zweite Evaluation des BGG 2022.[10] Gründe hierfür sind u. a. die Beschränkung auf eine Feststellungsklage und die damit einhergehende (oft zu Unrecht) befürchteten geringe Wirkung eines (Feststellungs-)Urteils sowie fehlende finanzielle Ressourcen oder verbandliche Prioritäten.[11] Dennoch scheint die Verbandsklage, wie auch in der Evaluation des BGG 2022 bestätigt[12], weiterhin ein grundsätzlich geeignetes Instrument zur Durchsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu sein.

III. Vorschläge zur Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes im Teilhaberecht

Fälle wie der vorliegende zeigen, dass Verbände wenig Gebrauch von einem zentralen Instrument zur Durchsetzung der Regelungen der Barrierefreiheit machen. Verbände sind aber an der Durchsetzung des Rechts interessiert und setzen sich auch dafür ein. Hierfür spricht, dass sie aktiv außergerichtliche Schlichtungsstellen nutzen.[13] Warum werden Instrumente wie die Verbandsklage nicht genutzt und wie kann diese Mängellage behoben werden? Als Antwort hierauf können folgende weiterführende Überlegungen einen Ausblick geben:

Anstelle der abschließenden Enumeration der Tatbestände, in denen eine Verbandsklage einsetzbar ist, müsste mindestens ein Auffangtatbestand bestehen (wie es bei anderen Verbandsklagen der Fall ist)[14]. Alternativ ließe sich das Problem der Fallbegrenzung einfacher beheben, indem auf bisherige Aufzählungen verzichtet wird und dafür alle bundesrechtlichen (alternativ landesrechtlichen) Vorschriften zur Barrierefreiheit sowie das Benachteiligungsverbot einbezogen würden.[15] Um die Tatbestände zu verdeutlichen, könnten dennoch weiterhin einzelne Normen bespielhaft aufgelistet werden. Ein weiterer Vorteil der vorgeschlagenen Änderung wäre, dass unvollständige Aufzählungen vermieden werden. Zum Beispiel ist zurzeit das Unterlassen oder die Verweigerung einer Kommunikation in Leichter Sprache nicht vom Anwendungsbereich der Verbandsklage nach § 15 BGG erfasst, obwohl § 11 BGG seit 2016[16] Träger öffentlicher Gewalt verpflichtet, Informationen in Leichter Sprache bereitzustellen.

Zudem sollte das Verfahren zur Anerkennung der Klagebefugnis von Verbänden dem der Verbandsklagebefugnisse aus dem Verwaltungs- und Zivilrecht angeglichen werden. Denn anders als Verbraucherschutz-, Umwelt- und Naturschutz- oder Wirtschaftsverbände können Behindertenverbände keinen Antrag auf Anerkennung einer Klagebefugnis stellen, sondern müssen von Mitgliedern des Beirates für die Teilhabe behinderter Menschen vorgeschlagen werden (§ 15 Abs. 3 BGG). Es gibt Hinweise dafür, dass dieser Vorgang eine Filterfunktion einnimmt: Im Umwelt- und Naturschutzrecht, wo Verbände eigenständig einen Antrag auf Anerkennung der Klagebefugnis stellen können, sind rund 100 Verbände klagebefugt, während es nach dem BGG nur knapp 30 sind.[17]

Neben diesen gesetzlichen Änderungen sind weitere Projekte notwendig, die über die Möglichkeit der Verbandsklage informieren und bei der Verfahrensführung unterstützend wirken. Ein Beispiel ist das Projekt „Unser gutes Recht: Verbandsklagen als strategisches Instrument der Selbsthilfe“ vom Deutschen Blinden und Sehbehindertenverband (DBSV), welches eine Checkliste zur Verbandsklage erstellt hat.[18] Weitere Kommunikation über die Verbandsklage und ihre Möglichkeiten sollte auch im Anschluss an die zweite BGG-Evaluation erfolgen und ist zu begrüßen.

IV. Fazit

Das besprochene Urteil zeigt, dass der individuelle Rechtsschutz bei Fragen der Herstellung von Barrierefreiheit an seine Grenzen gerät. Es fehlt Einzelnen die Möglichkeit einer Rechtmäßigkeitskontrolle, sodass ein Leerlauf der Regelungen der Behindertengleichstellungsgesetze an diesen Stellen droht. Über das Instrument der Verbandsklage können Verbände die Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns überprüfen lassen.[19] Vor dem Hintergrund, dass die Herstellung von Barrierefreiheit eine Vielzahl von Menschen betrifft und zugleich Benachteiligungen vorbeugt, erlangt die Verbandsklage in diesem Regelungskontext eine besonders hohe Relevanz.[20] Es ist aufgrund der mangelnden praktischen Nutzung des Instrumentes dringend notwendig, die Gestaltung der Klage zu hinterfragen sowie die Adressaten mit dem Instrument vertraut zu machen.

Solche Entwicklungen entsprechen den Vorgaben des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK), welche als geltendes Recht[21] einzuhalten sind und eine weitgehende Barrierefreiheit fordern. Zugänglichkeit zählt zu den Grundsätzen der UN-BRK (Art. 3 lit. f UN-BRK) und stellt eine Voraussetzung dar, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Rechtsschutz sollte ebenfalls nach diesen Maßstäben gestaltet werden.

Beitrag von Vaia Karatasiou, LL.M., Konstanze Rothe, Ass. iur., und Solveig Sternjakob, LL.M., Universität Kassel

Fußnoten

[1] Ritz/Hlava/Ramm, in: Fuchs/Ritz/Rosenow/Ritz/Hlava/Ramm BGG § 14 Rn. 2; BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 168.

[2] Neu gefasst durch Artikel 2 des Gesetzes vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. S. 442), in Kraft getreten am 1. Juli 2016.

[3] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 154; Welti, Rechtliche Instrumente zur Durchsetzung von Barrierefreiheit, 2013.

[4] GV. NRW. ausgegeben am 23.12.2003, S. 766.

[5] Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ), Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes für Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland (BehGleichstG), Stand: 8. Januar 2000, S. 39, abrufbar unter: http://www.nw3.de/dokum/behgleichstg.rtf, zuletzt abgerufen am 07.12.2022.

[6] Hlava, in: SWK Behindertenrecht, Verbandsklage, Rn. 20; Dau, in: LPK-SGB IX, BGG § 15 Rn. 2.

[7] Hlava, Barrierefreie Gesundheitsversorgung, 2018, S. 401.

[8] Verbände sollen damit in die Lage versetzt werden, die tatsächliche Anwendung von Vorschriften durchzusetzen, die dem Schutz behinderter Menschen dienen. Vgl. Bundestags-Drucksache 14/7420, S. 30.

[9] BMAS, Forschungsbericht 445, Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes, 2014, S. 291, 295, 364, 380 f., 490, 500.

[10] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 35, S. 155, 157 f., S. 159 f., S 349 f.

[11] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 35, 39, 157 f., S. 159 f., S. 338 f. S. 349 f., S. 361.

[12] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 103, S. 120, S. 154, S. 157, S. 160, S. 349.

[13] Nach eigene Angaben der Schlichtungsstellen nutzen Verbänden das Verfahren aktiv, was auch zur Verlängerung der Verfahrensdauer führt: Jahresbericht 2021 Schlichtungsstelle, u. a. S. 42, abrufbar unter: https://www.schlichtungsstelle-bgg.de/SharedDocs/Downloads/Webs/SchliBGG/DE/AS/Jahresbericht-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 01.11.2022.

[14] Z. B. im Umweltschutzrecht (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 und 6 UmwRG) oder im Lauterkeitsrecht (§ 3 Abs. 1 UWG).

[15] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 35, S. 156.

[16] § 11 BGG n. F. in der am 27.07.2016 geltenden Fassung durch Artikel 1 G. v. 19.07.2016 BGBl. I S. 1757.

[17] Die Liste der Umwelt- und Naturschutzvereinigungen ist unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/2378/dokumente/anerkannte_umwelt-_und_naturschutzvereinigungen_0.pdf abrufbar; die Liste der Behindertenschutzvereinigungen ist unter https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Barrierefreie-Gestaltung-der-Arbeit/Zielvereinbarungen-und-Mobilitaetsprogramme/zielvereinbarungen-anerkannter-verbaende.html abrufbar, beides zuletzt abgerufen am 07.12.2022.

[18] https://www.dbsv.org/files/blindheit-sehbehinderung/beratung-reha/rechtliches/checkliste-verbandsklagen.pdf, zuletzt abgerufen am 01.11.2022.

[19] Bundestags-Drucksache 14/8043, 17 f.

[20] BMAS, Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes, 2022, S. 154, S. 349; siehe auch BMAS, Forschungsbericht 445, Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes, 2014, S. 483.

[21] BGBl. 2008 II Nr. 35, 1419.


Stichwörter:

Barrierefreiheit, Verbandsklage, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)


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