14.10.2020 A: Sozialrecht Jordan: Beitrag A20-2020

Welche Bedeutung hat die „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn der zweitangegangene Träger nach § 86 SGB VIII örtlich nicht zuständig ist?

Der Autor Andreas Jordan untersucht die Regelung der sogenannten „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Fällen, in denen der zweitangegangene Träger nach § 86 SGB VIII örtlich nicht zuständig ist. Er führt aus, dass eine Ermittlung der Zuständigkeit im Sinne der Turbo-Klärung unter Berücksichtigung des Leistungsgesetzes des Jugendhilfeträgers innerhalb der vorgesehen Fristen nahezu unmöglich sei und verdeutlicht die Komplexität des Prüfprozesses beispielhaft. Noch dazu liege es im Ermessen der Jugendhilfeträger, ob sie auf die Turbo-Klärung zugreifen. Der Autor stellt schließlich infrage, ob die Turbo-Klärung in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe damit überhaupt greift.

(Zitiervorschlag: Jordan: Welche Bedeutung hat die „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn der zweitangegangene Träger nach § 86 SGB VIII örtlich nicht zuständig ist?; Beitrag A20-2020, unter www.reha-recht.de; 14.10.2020.)

I. Fragestellung

Mit § 14 SGB IX wurde vom Gesetzgeber 2001 eine Regelung in das SGB IX aufgenommen, um das Teilhabeverfahren zu konzentrieren und zu vereinfachen und ein mehrfaches Hin- und Herschieben („Ping-Pong“) zwischen den Behörden zu vermeiden.[1] Im Vordergrund standen zwei wichtige Aspekte, zum einen eine rasche Klärung der Zuständigkeit[2] und zum anderen eine möglichst schnelle Leistungserbringung.

Mit der Einführung der Vorschrift wollte der Gesetzgeber eine Brücke in das gegliederte Leistungssystem des Sozialgesetzbuches schlagen, um so sicherzustellen, dass die behinderten Menschen die benötigten Teilhabeleistungen zügig und „wie aus einer Hand“ erhalten.[3]

Um die Rechte der behinderten Menschen zu stärken, wurde am 01.01.2018 das Bundesteilhabegesetz (BTHG) auf den Weg gebracht und es folgte eine ganze Reihe an Reformen, die in unterschiedlichen Stufen in Kraft traten. Allerdings ist ein Großteil der Veränderungen noch nicht in der Verwaltungspraxis aller Jugendämter angekommen,[4] wie beispielsweise die neu geregelte Turbo-Klärung nach § 14 Abs. 3 SGB IX.

In der Praxis ist zu spüren, dass die unterschiedlichen Reformstufen des BTHG für viel Verunsicherung sorgen, da die Vorschriften des Teilhaberechts (SGB IX) nicht immer deckungsgleich mit den Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) sind. Die Synchronisation der beiden Regelungskreise ist nicht immer möglich, und es entstehen aufgrund von § 7 SGB IX viele unterschiedliche Rechtsfragen, die nach und nach gelöst werden müssen.

Das Ziel des Artikels ist herauszuarbeiten, welche Bedeutung die “Turbo-Klärung” nach § 14 Abs. 3 SGB IX für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger hat, wenn der Jugendhilfeträger als zweitangegangener Träger nach § 86 SGB VIII örtlich nicht zuständig ist.

II. Die Turbo-Klärung nach § 14 Abs. 3 SGB IX

Die sogernannte „Turbo-Klärung“ wurde am 01.01.2018 neu mit in das SGB IX aufgenommen Der Begriff „Turbo-Klärung“ ist kein Rechtsbegriff, sondern eine „kreative“ Wortschöpfung des Gesetzgebers.[5] Nach § 14 Abs. 3 SGB IX hat der zweitangegangene Träger die Möglichkeit den Antrag auf Teilhabeleistungen im Einvernehmen mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger erneut weiterzuleiten, vorausgesetzt er ist für die Leistung insgesamt nicht zuständig. Nach der alten Rechtslage (bis 31.12.2017) war eine erneute Weiterleitung des Antrages durch den zweitangegangenen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 S. 5 SGB IX a. F. nur möglich, wenn er für die beantragte Teilhabeleistung nicht Rehabilitationsträger sein konnte.[6]

Aus dem Gesetz ist eindeutig zu entnehmen, dass die „Turbo-Klärung“ ausschließlich für den zweitangegangenen Rehabilitationsträger eingerichtet wurde. Nach § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX wird ein Rehabilitationsträger zum zweitangegangenen Träger, wenn der erstangegangene Träger nach Eingang des Teilhabeantrages innerhalb der Zwei-Wochen-Frist zu dem Ergebnis kommt, dass er für die Erbringung der beantragten Teilhabeleistung insgesamt nicht zuständig ist und den Antrag an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterleitet.

Der Begriff „Turbo-Klärung“ verdeutlicht, dass die Klärung der Zuständigkeit schnell erfolgen muss. Die Rehabilitationsträger dürfen also nicht auf der Bremse stehen, da die bereits laufende Frist durch die „Turbo-Klärung“ nicht verlängert wird.

Eine Entscheidung über die Leistungserbringung muss demnach spätestens

  • drei Wochen nach Antragseingang beim zweitangegangenen Rehabilitationsträger erfolgen, wenn kein Gutachten erforderlich ist (§ 14 Abs. 2 S. 2 SGB IX) und
  • zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens, wenn ein Gutachten zur Bedarfsfeststellung erforderlich ist (§ 14 Abs. 2 S. 3 SGB IX).

Geht man jetzt davon aus, dass der Teilhabeantrag an das Jugendamt als Rehabilitationsträger weitergeleitet wurde, hat dieses als zweitangegangener Träger nach § 14 Abs. 3 SGB IX nunmehr die Möglichkeit seine Zuständigkeit erneut zu prüfen und den Antrag ggf. im Rahmen der „Turbo-Klärung” nach § 14 Abs. 3 SGB IX im Einvernehmen an einen weiteren (drittangegangenen) Rehabilitationsträger weiterzuleiten.

Fraglich ist jedoch, ob eine erneute Weiterleitung möglich ist, wenn das Jugendamt zwar sachlich, aber nicht örtlich zuständig ist.

III. Der zweitangegangene Träger ist örtlich nicht zuständig

Um die Frage beantworten zu können, muss zunächst geklärt werden, was der Gesetzgeber unter dem Wort „insgesamt nicht zuständig” versteht.

Dem Wortlaut nach bedeutet „insgesamt“ im Ganzen, alles in allem, alles zusammen(genommen) bzw. zusammen.[7]

Nach § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX sind die Träger der Jugendhilfe für Teilhabeleistungen gemäß § 5 Nr. 1, 2, 4 und 5 SGB IX zuständig. Dazu gehören

  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Nr. 1),
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Nr. 2),
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung (Nr. 4) und
  • Leistungen zur sozialen Teilhabe (Nr. 5).

Nach dieser Systematik sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht für unterhaltssichernde Leistungen gemäß § 5 Nr. 3 SGB IX zuständig. Eine Ausnahme sieht der Gesetzgeber nicht vor. Nach dem systematischen Verständnis des SGB IX sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe also insgesamt („im Ganzen“) nicht für unterhaltssichernde Leistungen zuständig.

Das systematische Verständnis wird jedoch erst durch die Gesetzesbegründung zur „Turbo-Klärung“ erhellt. Aus ihr ist ergänzend zu entnehmen:

„Ist der zweitangegangene Rehabilitationsträger seinerseits für keine der beantragten Leistungen zuständig, ist nach Absatz 3 weiterhin eine schnelle und einvernehmliche Klärung der Leistungsverantwortung innerhalb der bereits in Gang gesetzten Frist möglich („Turbo-Klärung“). Dies gilt zukünftig selbst dann, wenn der zweitangegangene Träger für die betreffende Leistungsgruppe gleichwohl nach § 6 Absatz 1 Rehabilitationsträger sein könnte, er aber nach seinem Leistungsgesetz nicht zuständig ist. Ob von der „Turbo-Klärung“ Gebrauch gemacht wird, steht im Ermessen der Träger.“ [8]

Mit dieser Formulierung stellt der Gesetzgeber klar, dass es bei der Prüfung der Zuständigkeit nicht nur auf die Zuständigkeit nach den Leistungsgruppen (§ 5 SGB IX) ankommt, sondern auch auf das Leistungsgesetz des Jugendhilfeträgers (SGB VIII). Danach wird ein Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuständig, wenn er sachlich und örtlich zuständig ist.

Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit knüpft in der Regel an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern oder des Personensorgeberechtigten an. Mit der Verabschiedung des SGB VIII im Jahr 1990 erfolgte ein grundlegender Paradigmenwechsel. Bei der Normierung der örtlichen Zuständigkeit versuchte der Gesetzgeber, die pädagogischen Erkenntnisse aus der systemischen Sozialforschung mit in die Neuausrichtung der gesetzlichen Grundlagen einfließen zu lassen. Das Ergebnis war eine familiensystemische Ausrichtung des SGB VIII und der Gesetzgeber entschied sich dazu, den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit zu verankern. Daraus folgte eine komplexe Regelung, die einen Modellfall erfasst (§ 86 Abs. 1 S. 1 SGB VIII) und viele weitere Ausnahmen (§ 86 Abs. 2–7 SGB VIII). Sinn und Zweck der Regelung ist, dass grundsätzlich der Jugendhilfeträger am Wohnort der Familie für die Leistungserbringung zuständig ist.[9]

Nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 SGB VIII ist die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder eine Leistung im Sinne des Leistungsbegriffes des § 86 SGB VIII ist. Folglich ist auch die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ein zentraler Baustein bei der Erbringung der Teilhabeleistungen für seelisch behinderte Kinder nach dem SGB VIII. Denn wird die örtliche Zuständigkeit vom prüfenden Jugendhilfeträger verneint, ist er nach seinen Leistungsgesetzen auch nicht dazu verpflichtet, die Leistung zu erbringen. Unter Berücksichtigung dieser Auffassung ist also der zweitangegangene Träger (in unserem Fall der Träger der öffentlichen Jugendhilfe) zwar nach den Leistungsgruppen des SGB IX zuständig, jedoch, was die örtliche Zuständigkeit betrifft, nicht nach seinen Leistungsgesetzen.

Folgt man dem Wortlaut der Gesetzesbegründung, ist dies ein klarer Anwendungsfall für § 14 Abs. 3 SGB VIII, und der zweitangegangene Träger hat die Möglichkeit, im Einvernehmen mit dem örtlich zuständigen Jugendamt den Antrag im Rahmen der “Turbo-Klärung” weiterzuleiten. Daran ändert sich auch nichts, wenn der zweitangegangene Träger demselben Sozialleistungsbereich, wie der erstangegangene Träger zugehört (z. B. zwei Träger der Eingliederungshilfe). Nach § 24 Abs. 1 Gemeinsame Empfehlung (GE) „Reha-Prozess“ kann der Antrag im Rahmen der „Turbo-Klärung“ auch wieder an den erstangegangenen Träger weitergeleitet werden. Damit wurde von den in § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 SGB IX genannten Rehabilitationsträgern in der GE „Reha-Prozess“ klargestellt, dass der Antrag auf Teilhabeleistungen auch zweimal im selben Sozialleistungssystem weitergeleitet werden kann. Nach diesem Normverständnis könnte der Jugendhilfeträger A als erstangegangener Rehabilitationsträger den Teilhabeantrag an den Jugendhilfeträger B weiterleiten, der dadurch zum zweitangegangenen Rehabilitationsträger wird. Im Rahmen der „Turbo-Klärung“ könnte dieser die örtliche Zuständigkeit erneut prüfen und im Einvernehmen an den Jugendhilfeträger C weiterleiten oder im Einvernehmen erneut an den Jugendhilfeträger A.[10]

Es steht jedoch im Ermessen des Jugendhilfeträgers, ob er von der „Turbo-Klärung“ Gebrauch macht. Die Entscheidung darüber, ob eine Behörde tätig wird oder nicht, nennt man „Entschließungsermessen“.[11] Es kann jedoch vorkommen, dass eine Behörde durch bereits getroffene Entscheidungen bei gleichem Sachverhalt in ihrem Entschließungsermessen eingeschränkt ist.[12] Was damit gemeint ist, soll anhand des folgenden Fallbeispiels verdeutlicht werden:

Ein Kind, das sich in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befindet, wohnt mit seinen personensorgeberechtigten Eltern im Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes A. Aufgrund einer Gefährdungsmeldung wird das Kind am 01.05.2020 vom dem Jugendamt A im Haushalt der Großeltern in Obhut genommen. Kurz nach der Inobhutnahme, am 15.05.2020, trennt sich die Mutter von dem Vater und verzieht in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes B. Nach dem Umzug der Mutter stellen die Eltern einen Antrag auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder gemäß § 35a SGB VIII beim Jugendamt A. Dieses prüft nach Eingang des Antrages seine sachliche und örtliche Zuständigkeit und kommt innerhalb der Zwei-Wochen-Frist zum Prüfergebnis, dass es zwar sachlich, aber nicht örtlich zuständig ist. Daraufhin leitet es den Antrag nach § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX an das Jugendamt B weiter. Das Jugendamt A begründet die Weiterleitung mit § 86 Abs. 2 S. 3 SGB VIII. Dort heißt es:

„Hatte das Kind oder der Jugendliche im Fall des Satzes 2 (vor Beginn der Leistung) zuletzt bei beiden (personensorgeberechtigten) Elternteilen seinen gewöhnlichen Aufenthalt, so richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen tatsächlichen Aufenthalt hatte.“

Nachdem der Antrag weitergeleitet wurde, prüft das Jugendamt B in der bereits laufenden Frist des § 14 SGB IX seine örtliche Zuständigkeit und kommt zum Ergebnis, dass das Jugendamt A den Antrag auf Eingliederungshilfe zu Unrecht weitergeleitet hat, da das Kind „vor Beginn der Leistung“ (das tatsächliche Einsetzen der Jugendhilfe[13]), seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht bei einem der Elternteile, sondern bei der Großmutter hatte. Problematisch ist, dass das Kind in der vorliegenden Fallkonstellation seinen tatsächlichen Aufenthalt in den letzten sechs Monaten sowohl bei den Eltern als auch bei den Großeltern begründet hatte. Da diese Fallkonstellation nicht in § 86 SGB VIII geregelt ist, handelt es sich um eine planwidrige Regelungslücke[14] und das Jugendamt B vertritt die Auffassung, dass in diesen Fällen § 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII analog anzuwenden ist. Nach § 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII hat der Umzug der Eltern nach Beginn der Leistung keinen Einfluss auf die örtliche Zuständigkeit, sofern die Eltern vor Beginn der Leistung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Jugendamtsbereich begründet hatten. Diese Ansicht ist jedoch nicht unproblematisch, da die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII keine Leistung, sondern eine andere Aufgabe der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII ist. Das Jugendamt B nimmt nunmehr im Rahmen der „Turbo-Klärung“ Kontakt mit dem Jugendamt A auf und überzeugt es von seiner Rechtsauffassung. Die beiden Jugendämter einigen sich einvernehmlich darauf, dass das Jugendamt B den Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 14 Abs. 3 SGB IX an das Jugendamt A weiterleitet. Aufgrund des vom Jugendamt A getroffenen Entschließungsermessens ist es bei ähnlich gelagerten Fallkonstellationen in seinem Ermessen eingeschränkt und müsste bei zukünftigen Fällen des gleichen Sachverhaltes im Rahmen der „Turbo-Klärung“ seine Zuständigkeit anerkennen.

Hinsichtlich der Frage, was der Gesetzgeber unter „Einvernehmen” versteht, greift Schaumberg bei der Auslegung des Begriffes auf ein Rechtsinstitut zurück, das bereits im besonderen Verwaltungsrecht verankert ist (§ 36 Baugesetzbuch, BauGB). Demnach setzt „Einvernehmen” eine völlige Willensübereinstimmung der beteiligten Rehabilitationsträger voraus. Damit ist klargestellt, dass eine Weiterleitung ohne die eindeutige Einverständniserklärung des drittangegangenen Rehabilitationsträgers nicht möglich ist. Bloßes Schweigen (Untätigkeit) reicht für eine Weiterleitung also nicht aus.[15]

Fraglich ist jedoch, ob das Versagen der Einwilligung schriftlich begründet werden muss, da sich im Gesetz selbst keine Hinweise zu einer schriftlichen Begründungspflicht befinden. Lediglich aus § 21 Abs. 3 GE „Reha-Prozess“ ist zu entnehmen, dass im Falle einer Weiterleitung eine schriftliche Begründung beigefügt werden muss, aus der hervorgeht, dass eine inhaltliche Prüfung der Zuständigkeit (…) stattgefunden hat. Die Rehabilitationsträger einigten sich mit der „Gemeinsamen Empfehlung“ (§ 26 SGB IX) darauf, dass eine schriftliche Begründung immer dann notwendig ist, wenn einer der Träger (§ 6 SGB IX) zu dem Ergebnis kommt, dass er für die Leistungserbringung nicht zuständig ist. Überträgt man den Sinn und Zweck der Norm auf die „Turbo-Klärung“, muss auch der drittangegangene Träger das Versagen der Einwilligung schriftlich begründen, wenn er zu dem Prüfergebnis kommt, dass er für die Leistung nicht zuständig ist. Nur die schriftliche Begründung hilft dabei, das gesamte Verwaltungsverfahren transparent zu gestalten und die Zusammenarbeit unter den Trägern nicht zu gefährden.

Obwohl die „Turbo-Klärung“ auf Schnelligkeit setzt, und damit auf kompetente Verwaltungsmitarbeiter, ist die neue Verfahrensvorschrift ein zahnloser Tiger, da ein versagtes Einvernehmen weder durch Widerspruch noch durch eine Leistungsklage herstellbar ist. Auch ein offensichtlich rechtswidriges versagtes Einvernehmen hat demnach keinen Einfluss auf die Sachentscheidung des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers.[16] Im Gegensatz dazu hat eine erfolgreich durchgeführte „Turbo-Klärung“ den Vorteil, dass die Entscheidungshoheit über die Leistung beim zuständigen Jugendhilfeträger bleibt und die Bearbeitung möglicher Kostenerstattungsansprüche wegfällt. 

Wenn man sich die Klagen im Bereich der örtlichen Zuständigkeit betrachtet, wird jedem Rechtsanwender schnell bewusst, dass die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ein komplexer Prüfprozess ist. Die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nimmt in der Praxis der Jugendämter viel Raum und Zeit ein,[17] da der rechtliche Anknüpfungspunkt in der Regel der gewöhnliche Aufenthalt der Eltern bzw. der Personensorgeberechtigten ist.

Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Um den gewöhnlichen Aufenthalt und damit auch die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers zu bestimmen, werden in der Praxis verschiedene Dokumente benötigt. Zu den Nachweisen gehören die Geburtsurkunde, die Vaterschaftsanerkennung, der Nachweis über den Eintrag im Sorgerechtsregister (§ 58a Abs. 1 SGB VIII), ggf. Beschluss über den Entzug des Sorgerechts und/oder die sog. „Negativbescheinigung“, die jedoch nur von der Kindesmutter beantragt werden kann.[18] Problematisch ist, dass diese Dokumente in den seltensten Fällen mit dem Antrag vorliegen und erst im Rahmen der Amtsermittlung nach § 20 SGB X von den Jugendämtern angefordert werden müssen. Die Ermittlungsarbeit kostet dementsprechend viel Zeit, die der Behörde jedoch über den zeitlichen Zwangsmechanismus in § 14 SGB IX nicht zur Verfügung gestellt wird.

IV. Ergebnis

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass eine erneute Weiterleitung im Rahmen der „Turbo-Klärung“ nach § 14 Abs. 3 SGB IX möglich ist, wenn das Jugendamt sachlich, aber nicht örtlich zuständig ist. Es liegt jedoch im Ermessen der Jugendhilfeträger, ob sie auf die Turbo-Klärung zugreifen.

In der Praxis wird es wahrscheinlich nahezu unmöglich sein, in der bereits laufenden Frist eine allumfassende „Turbo-Klärung“ durchzuführen. In arbeitsaufwendigen Zweifelsfällen könnte es sich der drittangegangene Jugendhilfeträger einfach machen und sein Einvernehmen mit der Begründung versagen, dass es für ihn nicht möglich war, die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit in diesem kurzen Zeitfenster (die Frist läuft ja weiter) durchzuführen. Zu kritisieren ist, dass für die Praxis völlig unklar bleibt, welche Priorität die „Turbo-Klärung“ im Tagesgeschäft der Jugendämter haben soll, wenn man bedenkt, dass es für den zweitangegangenen Jugendhilfeträger nicht möglich ist, Rechtsmittel einzulegen. Es ist also fraglich, ob die „Turbo-Klärung“ in der Praxis überhaupt greift und umgesetzt wird. Vermutlich lassen viele Jugendhilfeträger die Regelung bei uneindeutigen Fällen ins Leere laufen, was letztendlich auch ein Grund dafür war, warum § 14 SGB IX überhaupt in das Gesetz aufgenommen wurde. Damit ist § 14 Abs. 3 SGB IX nicht mehr als ein politischer Kompromiss, der mit hoher Wahrscheinlichkeit keine tragende Bedeutung für die Praxis der Rehabilitationsträger haben wird, anders lässt sich die rechtliche „Zahnlosigkeit“ der „Turbo-Klärung“ nicht erklären.

Es wäre wünschenswert, wenn die düstere Prognose nicht eintrifft, da es für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe unverantwortlich wäre, wenn ein örtlich zuständiger Jugendhilfeträger sein Einvernehmen rechtswidrig versagen würde. Denn die Jugendhilfe speist ihre normative Energie aus dem Grundgesetz (Art. 6 GG) und der UN-Kinderrechtskonvention. Das Wohl der Kinder und dessen Schutz stehen im Mittelpunkt der gesetzlichen Systematik (Art. 3 Abs. 1 UN-KRK). Eine rechtswidrige Ablehnung würde demnach das ganze Rechtsinstitut des Kinderschutzes in Frage stellen. Denn zum Wohl der Kinder gehört auch die wohnortnahe Unterstützung der Familien (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII).

Beitrag von Von PhDr. Andreas Jordan, LL.M, Sozialjurist beim Landkreis Kassel und Lehrbeauftragter an der CVJM-Hochschule Kassel sowie der Universität Kassel

Fußnoten

[1] SG Osnabrück, Urt. v. 22.8.2019 - S 43 AL 155/16.

[2] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 95.

[3] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 102; dazu: Schaumberg: Das gegliederte System des Rehabilitationsrechts; Beitrag A9-2020 unter www.reha-recht.de; 14.05.2020; Schaumberg: Zuständigkeitsklärung gemäß § 14 SGB IX – Allgemeine Vorgaben für das Verfahren; Beitrag A10-2020 unter www.reha-recht.de; 18.05.2020; Schaumberg: Zuständigkeitsklärung gemäß § 14 SGB IX – Bedarfsermittlung, Folgeanträge und Nichteinhaltung von Zuständigkeitsregelungen; Beitrag A11-2020 unter www.reha-recht.de; 26.05.2020; Fuchs: Intention des Gesetzgebers zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX und Begriffsbestimmung – Teil I: Intention des Gesetzgebers hinter altem und neuem Recht; Beitrag A16-2018 unter www.reha-recht.de; 19.09.2018.

[4] Ulrich, Das BTHG und seine Folgen: Re- oder Umorganisationswelle in den Jugendämtern, JAmt 2019, 603. Siehe dazu auch Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter www.reha-recht.de; 16.07.2019.

[5] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 234.

[6] Vgl. dazu auch Hoffmann, Probleme und perspektiven der Behandlung und Rehabilitation psychisch kranker bzw. seelisch behinderter -insbesondere traumatisierter- Kinder und Jugendlicher, in: Das Jugendamt (JAmt) 1/2010, S. 12.

[7] https://www.duden.de/rechtschreibung/insgesamt; zuletzt abgerufen am 16.06.2020.

[8] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 234.

[9] Nickel/Eschelbach, in: Nickel/Eschelbach, ÖZKE-Komm., Einführung, Rn. 6.

[10] § 24 Abs. 1 in Verbindung mit § 22 Abs. 2 GE „Reha-Prozess“.

[11] Sommer, Lehrbuch Sozialverwaltungsrecht, Berlin 2009, S. 91.

[12] Vgl. https://www.juraforum.de/lexikon/entschliessungsermessen; zuletzt abgerufen am 14.10.2020.

[13] BVerwG, Urt. v. 19.10.2011 - 5 C 25.10.

[14] Vgl. dazu ausführlich Jung und Sitner, in: ÖZKE-Komm., § 86 SGB VIII, Rn. 30.

[15] Schaumberg, Zuständigkeitsklärung gemäß § 14 SGB IX – Allgemeine Vorgaben für das Verfahren; Beitrag A10-2020 unter www.reha-recht.de; 18.05.2020.

[16] So auch Schaumberg, Zuständigkeitsklärung gemäß § 14 SGB IX – Allgemeine Vorgaben für das Verfahren; Beitrag A10-2020 unter www.reha-recht.de; 18.05.2020.

[17] Vgl. dazu auch Jordan, Die praktischen Probleme der Zwei-Wochen-Frist gem. § 14 SGB IX aus der Perspektive der Jugendhilfe. in: Zeitschrift für Sozialrecht - Sozialrecht aktuell (SozRa) 2/2020, S. 56-61.

[18] Vgl. dazu auch § 58a Abs. 2 S. 1 SGB VIII.


Stichwörter:

Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII, § 14 Abs. 3 SGB IX, Zuständigkeitsklärung, Zuständigkeitsregelung, Weiterleitung des Antrags


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