In dem vorliegenden Beitrag setzt sich der Autor Roland Rosenow mit der sogenannten „budgetneutralen Umstellung“ der Eingliederungshilfe und den Folgen für leistungsberechtigte Personen in besonderen Wohnformen auseinander.
Er kommt zu dem Schluss, dass der Betrag für Nahrungsmittel und Hygieneartikel, den Leistungsberechtigte an Leistungserbringer aus dem Regelsatz der Sozialhilfe bezahlen, den Betrag, den sie tatsächlich schulden, in vielen Fällen um rund 100 € monatlich übersteigt. Das könne dazu führen, dass vorhandene Verträge nach Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz unwirksam sind und Leistungsberechtigte gegenüber den Leistungserbringern Rückforderungen stellen können.
(Zitiervorschlag: Rosenow: Rechtsgrundlose Zahlungen der Leistungsberechtigten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe an die Leistungserbringer? – Zur „budgetneutralen Umstellung” der Eingliederungshilfe; Beitrag A28-2021 unter www.reha-recht.de; 22.09.2021)
I. Einleitung
Das große Versprechen des Bundesteilhabegesetzes an Leistungsberechtigte der Eingliederungshilfe ist, dass die Institutionenzentrierung überwunden und durch personenzentrierte Leistungen ersetzt werde. Der Grundsatz der Personenzentrierung wurde in der Vorschrift, die den Sicherstellungsauftrag aus § 17 SGB I für das Recht der Eingliederungshilfe konkretisiert (§ 95 SGB IX), und damit an zentraler Stelle normiert. Schon lange vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts der Eingliederungshilfe zum 1. Januar 2020 zeichnete sich die Tendenz ab, die sog. Trennung der Leistungen an die Stelle einer Personenzentrierung zu setzen. Nach der Verabschiedung des BTHG im Dezember 2016 beschäftigten sich Länder und Kommunen auf der einen und Leistungserbringer auf der anderen Seite über Jahre hinweg weniger mit den fachlichen und konzeptionellen Fragen, die sich daraus ergaben, dass die Eingliederungshilfe nun „konsequent personenzentriert ausgerichtet” werde, wie die Bundesregierung ausdrücklich formulierte.[1] Stattdessen widmeten sie sich der Frage, wie die Trennung der Leistungen möglichst ohne Änderungen der gewohnten Praxis realisiert werden könnte. Nachdem die Arbeit im Deutschen Verein[2] zum Thema Trennung der Leistungen nicht recht vorangekommen war,[3] richtete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Anfang 2018 eine Arbeitsgruppe ein, die Empfehlungen zur Trennung der Leistungen entwickelte. Der Titel diese AG lautete „AG Personenzentrierung”.[4]
Zwar ist Trennung der Leistungen etwas vollkommen anderes als Personenzentrierung.[5] Doch auch sie bedeutet an und für sich einen Fortschritt für rund 200.000 Leistungsberechtigte, [6] die in Einrichtungen leben, die bis zum 31. Dezember 2019 als „stationäre” galten. Sie führt mindestens dazu, dass sie deutlich mehr Geld zur Verfügung haben, als das bis zum 31. Dezember 2019 der Fall war – sollte man jedenfalls meinen. Tatsächlich hat sich auch in dieser Hinsicht nichts geändert. Die Träger der Eingliederungshilfe und die Leistungserbringer haben sich auf eine Konstruktion verständigt, die dazu führen soll, dass die Leistungsberechtigten in (bisher) stationären Einrichtungen aus der Sozialhilfe, die sie nun erhalten, einen Betrag an die Leistungserbringer abführen, der so hoch ist, dass ihnen nicht mehr übrigbleibt als der Barbetrag, den sie vormals erhielten. Diese Konstruktion, die in einigen Bundesländern als „budgetneutrale Umstellung” bezeichnet wird, verstößt nach Auffassung des Autors gegen zwingende Vorschriften des Zivilrechts. Sie kann zur Folge haben, dass Leistungsberechtigte weniger bezahlen müssen, als die Einrichtungsträger ihnen in Rechnung stellen. Haben sie bereits zu viel bezahlt, können daraus Rückforderungsansprüche gegen die Einrichtungsträger erwachsen.[7]
II. Trennung der Leistungen
Mit dem BTHG wurde das Recht der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht herausgelöst und in ein eigenständiges Leistungsgesetz, den Teil 2 des SGB IX, übertragen. Dabei wurde die Unterscheidung zwischen ambulanten und stationären Leistungen, die das Sozialhilferecht schon immer prägt, nicht übernommen. Das Leistungsgesetz der Eingliederungshilfe, §§ 90 bis 150 SGB IX, kennt keine Parallelvorschrift zu § 27b SGB XII, der besagt, dass stationäre Leistungen der Sozialhilfe auch den in der Einrichtung erbrachten Lebensunterhalt umfassen.[8] Die Eingliederungshilfe ist auf die sog. Fachleistung beschränkt.[9]
Bis zum 31. Dezember 2019 war eine Vergütungsvereinbarung nach § 76 Abs. 2 SGB XII Grundlage der Finanzierung der stationären Leistungen der Eingliederungshilfe. Danach war eine Vergütung auszuhandeln, die sich aus einer Grundpauschale, eine Maßnahmepauschale und einem Investitionsbetrag zusammensetzt. Das Gesamtentgelt wurde vom Sozialhilfeträger an den Leistungserbringer gezahlt.[10] Die Trennung der Leistungen bewirkt, dass der Träger der Eingliederungshilfe nur noch für die Fachleistungen der Eingliederungshilfe aufkommt, in denen die Kosten für die Unterkunft, die Kosten für Nahrungsmittel und die Kosten für einige Hygieneartikel nicht mehr enthalten sind. Die Vergütung musste daher in drei Teilentgelte aufgeteilt werden: die Vergütung für die Fachleistung, für die Unterkunft und für Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Die bisherige Aufteilung in Grundpauschale, Maßnahmepauschale und Investitionsbetrag war dafür nicht geeignet.
III. „Budgetneutrale Umstellung”
Die Verhandlungen über Rahmenverträge nach § 131 SGB IX begannen spät und verliefen lange Zeit schleppend. Nachdem sich Anfang des Jahres 2019 in keinem Bundesland abzeichnete, dass Rahmenverträge zur Umsetzung der Reform der Eingliederungshilfe bis zum 31. Dezember 2020 zustande kommen würden, haben sich die Vertragspartner der Rahmenverträge nach § 131 SGB IX – die Vereinigungen der Leistungserbringer und die Träger der Eingliederungshilfe – in einigen Bundesländern darauf mit sog. „Übergangsvereinbarungen” verständigt, vom bisherigen System auszugehen und nur zu ändern, was zu ändern ihnen unumgänglich erschien. Unvermeidlich erschien ihnen einzig, die Trennung der Leistungen zu vollziehen.[11] Da sie im Grunde alles beim Alten lassen wollten, erschien es ihnen angemessen, auch die Vergütung allenfalls geringfügig anzutasten. Das Problem der Umstellung auf das neue Recht der Eingliederungshilfe reduzierte sich so auf die Frage, wie das Gesamtentgelt, das die Leistungserbringer bislang erhalten hatten, auf die drei Teilpositionen Fachleistung, Kosten der Unterkunft und Nahrungsmittel/Hygieneartikel zu verteilen sei. Die Wege, die in den einzelnen Bundesländern zur Lösung dieser Frage beschritten wurden, unterschieden sich in einigen Details, folgen aber i. W. dem gleichen Muster, das hier am Beispiel Baden-Württembergs dargestellt wird.
§ 6 Abs. 11 der Übergangsvereinbarung für Baden-Württemberg lautet:
„Die budgetneutrale Umstellung erfolgt nach folgendem Rechenweg:
Gesamtentgelt (Grundpauschale, Maßnahmepauschale, Investitionsbetrag jeweils multipliziert mit 30,42 Tage) zzgl. Barbetrag + Bekleidungspauschale (jeweils Stand 31.12.2019) abzgl. angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung für Wohnraum nach § 42a SGB XII abzgl. Regelsatz Regelbedarfsstufe 2 ergibt Monatsbetrag Eingliederungshilfeleistung (inklusive Aufwendungen für Wohnraum oberhalb der Angemessenheitsgrenze nach § 42a Absatz 6 SGB XII im Sinne des § 113 SGB Absatz 5 IX) am 01.01.2020 dividiert durch 30,42 Tage ergibt neuen Tagessatz Eingliederungshilfeleistung”.[12]
Die Übergangsvereinbarung sieht damit vor, dass die Leistungserbringer davon absehen, die Einkaufskosten der Güter, die sie den Leistungsberechtigten zur Verfügung stellen, zu ermitteln, und stattdessen von dem Betrag ausgehen, der den Leistungsberechtigten nach altem Recht monatlich zur Verfügung stand. Leistungserbringer und Träger der Eingliederungshilfe verständigten sich darauf, den Leistungsberechtigten nur so viel Geld zu lassen, wie ihnen unter der Geltung der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe zur Verfügung stand. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus dem Barbetrag und der Bekleidungspauschale gem. § 27b Abs. 2 SGB XII.[13] In Baden-Württemberg legte man den Barbetrag aus dem Jahr 2019 zugrunde, der 114,48 € betrug. Der Regelsatz, den Leistungsberechtigte in bisherigen stationären Einrichtungen erhalten, die seit dem 1. Januar 2020 durch § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und S. 3 SGB XII umschrieben werden,[14] betrug im Jahr 2020 389 € monatlich (Regelbedarfsstufe 2). Von diesem Betrag war nach der Übergangsvereinbarung die Summe aus Barbetrag 2019 (114,48 €) und Bekleidungspauschale, die hier mit 23 € angenommen wird, also der Betrag 137,48 € abzuziehen. Der Rest (389 € - 137,48 € = 251,52 €) sollte von den Leistungsberechtigten an die Leistungserbringer gezahlt werden. Dazu bedurften diese eines Anspruchs gegen die Leistungsberechtigten.
IV. Gestaltung der WBVG-Verträge ab 2020
Das Rechtsverhältnis zwischen Leistungserbringer und den Personen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, ist zivilrechtlich. Immer dann, wenn die Voraussetzungen des § 1 WBVG erfüllt sind,[15] gelten die Vorschriften des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG). Das ist in Fällen von Leistungen der Eingliederungshilfe, die bis 2019 als stationäre galten, nahezu ausnahmslos der Fall. WBVG-Verträge sind in aller Regel Formularverträge, die von den Leistungserbringern gestaltet werden.[16] Zum 1. Januar 2020 verlangten die Leistungserbringer die Zustimmung zu einer Änderung der bestehenden WBVG-Verträge bzw. den Abschluss neuer Verträge, die für die Lieferung von Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln ein Teilentgelt in Höhe der Beträge aus der „Übergangsvereinbarung” vorsahen.[17]
§ 7 Abs. 2 S. 1 WBVG normiert, dass der Verbraucher (leistungsberechtigte Person) das Entgelt nur schuldet, soweit es „insgesamt und nach seinen Bestandteilen im Verhältnis zu den Leistungen angemessen” ist. Ein in diesem Sinne angemessenes Verhältnis wurde mit der „budgetgleichen Umstellung” nicht angestrebt. Es kam auch nicht zufällig zustande. Die Aufwendungen für Nahrungsmittel und Hygieneartikel werden i. d. R. zwischen 130 € und 160 € liegen. Das ergibt sich aus den regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben, die in § 5 RBEG festgeschrieben sind.[18] Ein Teilentgelt i. H. v. 251,52 € ist im Verhältnis zur Lieferung von Waren, die im Einkauf etwa 150 € kosten, sicher nicht angemessen. § 7 Abs. 2 S. 1 WBVG ist zwingendes Recht. Das Teilentgelt von 251,52 € konnte daher nicht wirksam vereinbart werden.
V. „Kostenbeitrag” in Höhe des Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs. 1 SGB XII
Viele Leistungsberechtigte, die in Wohnformen leben, die § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und S. 3 SGB XII unterfallen, haben Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII. Voraussetzungen sind eine volle Erwerbsminderung[19] und die Feststellung einer Schwerbehinderung und des Merkzeichens G. Der Mehrbedarfszuschlag beträgt pauschal 17% der maßgebenden Regelbedarfsstufe (hier Stufe 2), hier also 66,13 € im Jahr 2020 und 68,17 € im Jahr 2021.
Die Übergangsvereinbarung für Baden-Württemberg enthält zu diesem Thema die Passage:
„Im Einzelfall sind bei der Gewährung der Eingliederungshilfeleistungen individuelle Mehrbedarfe i. S. d. § 30 SGB XII im Rahmen der existenzsichernden Leistungen zu berücksichtigen. Maßgeblich ist, wer für die Deckung des jeweiligen Mehrbedarfs sorgt.”[20]
In der Praxis bedeutet das, dass der Träger der Eingliederungshilfe den Mehrbedarfszuschlag von der Vergütung, die er an den Leistungserbringer zahlt, in Abzug bringt. Die Leistungserbringer stellen diesen Betrag den Leistungsberechtigten in Rechnung, offenbar ohne eine vertragliche Anspruchsgrundlage zu behaupten. In einem Beispiel, das dem Autor bekannt ist, fordert der Leistungserbringer (nicht etwa der Träger der Eingliederungshilfe) von der leistungsberechtigten Person ausdrücklich einen „Kostenbeitrag” in Höhe des Mehrbedarfszuschlags.[21]
VI. Rechtsfolge
Wegen § 7 Abs. 2 S. 1 WBVG schulden die leistungsberechtigten Personen das (Teil-) Entgelt nur, soweit es im Verhältnis zur Gegenleistung angemessen ist. Einen „Kostenbeitrag” schulden sie ohnehin nicht.[22] Wenn die Auffassung des Autors zutrifft, nach der ein Teilentgelt für Nahrungsmittel und Hygieneartikel in der Höhe, in der es in der Praxis verlangt wird, nicht angemessen i. S. v. § 7 Abs. 2 S. 1 WBVG ist, dann besteht keine Anspruchsgrundlage für den Teil der Forderungen der Leistungserbringer gegen die leistungsberechtigten Personen, der das angemessene Teilentgelt übersteigt. Das gilt auch dann, wenn ein überhöhtes Teilentgelt vertraglich vereinbart wurde. Die WBVG-Verträge sind dann insoweit unwirksam (§ 16 WBVG). Die Folge ist, dass der Teil des Entgelts, der das angemessene Maß übersteigt, nicht geschuldet wird. Wurde dieser Betrag dennoch gezahlt, handelt es sich um eine rechtsgrundlose Zahlung, die einen Rückforderungsanspruch aus § 812 BGB auslöst. Für den „Kostenbeitrag” in Höhe des Mehrbedarfszuschlages, der in einigen Bundesländern gefordert wird, gilt das erst recht. Eine Anspruchsgrundlage ist nicht ersichtlich.
Das WBVG ist ein Verbraucherschutzgesetz i. S. v. § 2 Unterlassungsklagengesetz (UKlaG).[23] Wenn Wohn- und Betreuungsverträge gegen Vorschriften des WBVG verstoßen, sind qualifizierte Einrichtungen wie die Verbraucherzentralen – zu ihnen können auch Verbände von Menschen mit Behinderungen zählen – daher berechtigt, Leistungserbringer abzumahnen und Unterlassung zu verlangen. Möglicherweise haben sie darüber hinaus auch einen Beseitigungsanspruch gegen die Leistungserbringer, der sich auf Rückzahlung der rechtsgrundlos vereinnahmten Beträge richten kann.[24] Dies kann auch für Beträge gelten, die ohne Bezugnahme auf einen WBVG-Vertrag rechtsgrundlos verlangt und gezahlt wurden.[25]
Wenn es zutrifft, dass der Betrag für Nahrungsmittel und Hygieneartikel, den Leistungsberechtigte zumeist aus dem Regelsatz der Sozialhilfe bezahlen, den Betrag, den sie tatsächlich schulden, um rund 100 € monatlich übersteigt, müssen sich die Leistungserbringer darauf einstellen, erheblichen Rückforderungen ausgesetzt zu sein.
Beitrag von Roland Rosenow
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