29.10.2021 A: Sozialrecht Beetz: Beitrag A39-2021

Verfahrensrecht von Menschen mit Behinderungen im Betreuungsverfahren – Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und der notwendigen Unterstützung durch Verfahrenspfleger, Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 20. Januar 2021 – XII ZB 202/20

Menschen mit Behinderung ist der gleichberechtigte Zugang zur Justiz sowie die gleichberechtigte Teilhabe an gerichtlichen Verfahren zu ermöglichen. In einigen Fällen benötigen die Betroffenen eine spezifische Unterstützung. Der Text stellt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die fehlende Anhörung von Verfahrenspflegern vor. Die Autorin Prof. Dr. Claudia Beetz arbeitet die Voraussetzungen der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs im betreuungsgerichtlichen Verfahren sowie das Erfordernis, Menschen mit Behinderung bei der Ausübung ihrer Rechte zu unterstützen, heraus. Sie geht dabei auf die Notwendigkeit der Bestellung von Verfahrenspflegern sowie die Ausübung der Verfahrenspflegschaft im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ein.

(Zitiervorschlag: Beetz: Verfahrensrecht von Menschen mit Behinderungen im Betreuungsverfahren – Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und der notwendigen Unterstützung durch Verfahrenspfleger – Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 20. Januar 2021 – XII ZB 202/20; Beitrag A39-2021 unter www.reha-recht.de; 29.10.2021)

I. Thesen der Autorin

  1. Der Menschen mit Behinderungen ist der gleichberechtigte Zugang zur Justiz sowie die gleichberechtigte Teilhabe an gerichtlichen Verfahren zu ermöglichen.
  2. Zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 101 Abs. 1 GG ist die Information und Unterstützung der Betroffenen erforderlich.
  3. Hierbei kommt im betreuungsgerichtlichen Verfahren den Verfahrenspflegern eine wichtige Rolle zu. Deren Aufgabenausübung ist konventionskonform nach den Grundsätzen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) zu gestalten – sie ist daher nach den Wünschen und Vorstellungen der betroffenen Personen auszurichten.

II. Aussagen der Entscheidung

Gegenstand des Verfahrens war die Verlängerung der seit 2004 für die volljährige Betroffene bestehenden Betreuung. Für sie war eine Betreuung für alle Angelegenheiten einschließlich der Postangelegenheiten angeordnet. Zwischen den Beteiligten unstreitig ist, dass für die Betroffene eine Betreuung erforderlich ist. Bei der Betroffenen wurden eine Intelligenzminderung, ein beidseitiger Hörverlust sowie eine hochgradige Sehminde­rung festgestellt, aufgrund derer sie ihre Angelegenheiten nicht selbst wahrnehmen kann.

In den Anfangsjahren der Betreuung übten ihre Eltern die Betreuung gemeinschaftlich aus. Nach deren Trennung und Scheidung im Jahr 2008 erfolgte aufgrund der Meinungs­verschiedenheiten ein Wechsel in der Führung der Betreuung. Das Betreuungsgericht bestellte eine Berufsbetreuerin für die Betroffene. Den durch den Vater geäußerten Bedenken gegen die Bestellung der Mutter als Betreuerin wurde im damaligen Verfahren insoweit nicht mehr nachgegangen.

Anlass für die durch den Vater der Betroffenen nunmehr zum Bundesgerichtshof ein­gereichte Rechtsbeschwerde war die im Beschwerdeverfahren vor dem Landgericht erfolgte Bestellung der Mutter zur Betreuerin. Er begehrt die Bestellung einer anderen, geeigneten Person außerhalb der Familie als Betreuerin. Das Betreuungsgericht hatte die Betreuung zunächst unverändert, ohne Wechsel der Berufsbetreuerin, bis zum 29. August 2024 verlängert. Gegen die erstinstanzliche Entscheidung legte die Mutter der Betroffenen Beschwerde ein. Die Betroffene äußerte keinen Wunsch zur Auswahl der Betreuerin. Hierauf bestellte das Landgericht ihre Mutter zur Betreuerin, die bereit war, die Betreuung ehrenamtlich zu führen.

Die für die Antragstellerin bestellte Verfahrenspflegerin erhielt erst nach dem Anhörungstermin von diesem Kenntnis, sodass sie nicht teilnehmen konnte.

Die Rechtsbeschwerde des Vaters der Betroffenen war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung an das Landgericht erfolgreich. Der Bundesgerichtshof begründete seine Entscheidung damit, dass im Ergebnis zwar keine durchgreifenden Bedenken gegen die Auswahl der Mutter als Betreuerin bestünden, jedoch könne die Entscheidung aus verfahrensrechtlichen Gründen keinen Bestand haben. Die Anhörung der Betroffenen sei erfolgt, ohne dass ihre Verfahrenspflegerin Gelegenheit hatte, an der persönlichen Anhörung teilzunehmen. Weiter gab der Bundes­gerichtshof dem Landgericht auf, sich mit den weiteren Einwänden der Verfahrens­pflegerin sowie des Vaters der Betroffenen auseinanderzusetzen, die gerügt hatten, dass die Anhörung nicht in der üblichen Umgebung der Betroffenen, sondern in der Wohnung der Mutter erfolgt sei, und dass die Bestellung der Mutter als Betreuerin vor dem Hintergrund der Streitigkeiten der Eltern ungeeignet sei.

Im Detail begründete der Bundesgerichtshof seine Entscheidung damit, dass auch im Verfahren zur Verlängerung einer Betreuung die zu betreuende Person persönlich anzuhören sei. Das Gericht habe sich einen persönlichen Eindruck von dieser Person und ihren Wünschen zu verschaffen. Dies gelte auch im Beschwerdeverfahren (§ 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Im Betreuungsverfahren sei ein vom Gericht bestellter Verfahrens­pfleger gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG im selben Umfang, wie die betroffene Person zu beteiligen. Daher muss das Gericht diesen auch rechtzeitig von einem Anhörungs­termin in Kenntnis setzen, um sicherzustellen, dass der Verfahrenspfleger an der Anhörung der betroffenen Person teilnehmen kann. Zudem stehe dem Verfahrens­pfleger ein eigenes Anhörungsrecht zu. Zwar gebe es grundsätzlich die Möglichkeit in der Beschwerdeinstanz, von einer erneuten Anhörung der zu betreuenden Person ab­zusehen, diese setze jedoch voraus, dass die Anhörung verfahrensfehlerfrei im ersten Rechtszug erfolgt und dass keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien. Daher habe das Beschwerdegericht zutreffend die erneute Anhörung der Betroffenen für erforderlich gehalten, da die letzte Anhörung durch das Betreuungsgericht bereits mehr als drei Jahre zurück gelegen und das Gericht sich auf ein ärztliches Zeugnis gestützt habe, das nicht Gegenstand dieser Anhörung gewesen sein konnte, da es erst nach der damaligen Anhörung erstellt worden sei.

Allerdings sei diese Anhörung, ohne dass die Verfahrenspflegerin die Möglichkeit der Beteiligung hatte, erfolgt. Dies sei verfahrensfehlerhaft und verletze die betroffene Person in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

III. Würdigung/Kritik

Die vorliegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs hebt zum wiederholten Male[1] die Bedeutung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG hervor. Dies ist zu begrüßen und soll hier noch näher ausgeführt werden.

1. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs in Art. 103 Abs. 1 GG

Der Grundsatz der Gewährung des rechtlichen Gehörs beinhaltet drei Elemente,

  • das Recht auf Information,
  • das Äußerungsrecht sowie
  • das Recht auf Berücksichtigung des Vorgebrachten.[2]

Im Betreuungsverfahren haben diese Rechte zunächst die Betroffenen selbst, da sie nach § 275 FamFG, unabhängig davon, ob sie nach dem bürgerlichen Recht geschäftsfähig sind, als uneingeschränkt verfahrensfähig gelten. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass sie in allen mit der Betreuung zusammenhängenden Verfahren sämtliche Angriffs- und Verteidigungsmittel selbst vorbringen sowie von Rechtsmitteln Gebrauch machen können.[3] Diese Verfahrensfähigkeit in eigenen Angelegenheiten dient vor allem dazu, zu verhindern, dass die betroffenen Personen zum bloßen Verfahrensobjekt werden. Ihnen ist daher stets rechtliches Gehör zu gewähren.

2. Notwendigkeit der Information und Unterstützung der betroffenen Personen bei der Wahrnehmung ihrer verfahrensmäßigen Rechte

Hierin ist ein erster Schritt zur Ermöglichung der gleichberechtigen Teilhabe an betreu­ungsgerichtlichen Verfahren auch im Sinne der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)[4] zu sehen. Um diese Verfahrensrechte vollständig wahr­nehmen zu können, ist die Information der betroffenen Person zwar notwendig, vor allem ist auch deren Unterstützung zu gewährleisten, damit die Teilhaberechte ohne Nachteile ausgeübt werden können. Die Erforderlichkeit hierzu ergibt sich vor allem, da die Betroffenen durch ihre uneingeschränkte Verfahrensfähigkeit auch nachteilige Folgen für sich herbeiführen können. Sie können wirksam z. B. auf Rechtsmittel verzichten, Rechtsmittel zurücknehmen und andere gegebenenfalls belastende Erklärungen ab­geben. Solche Erklärungen sind nach der Rechtsprechung wirksam.[5] Daher ist wiederum in einem ersten Schritt die ausreichende Information der Betroffenen notwendig.

a) Information

Zum Informationsrecht gehört im Rahmen des Verfahrens zunächst, dass das Gericht die Betroffenen über den gesamten Verfahrensstoff informiert, so dass diese ihr Äußerungsrecht vollständig und effektiv wahrnehmen können.[6] Den Betroffenen sind daher Informationen über die Einleitung des Verfahrens sowie alle im Verfahren erfolgten Ermittlungen zu übersenden.[7] Dies betrifft vor allem ärztliche Zeugnisse sowie Gut­achten, die eingeholt wurden; diese sind im Volltext zu übersenden. Hiervon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 FamFG abgesehen werden. Zudem sind betreu­ungsgerichtliche Entscheidungen abweichend von § 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO den Betroffenen persönlich bekanntzugeben.

b) Personale Unterstützung durch die Bestellung von Verfahrenspflegern

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass allein die Information nicht in jedem Fall aus­reichend ist, damit die Rechte der Betroffenen gewahrt werden. Dies macht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2020[8] besonders deutlich. Aufgrund der negativen Folgen der Verfahrensfähigkeit der betroffenen Person – hier scheiterte die Einreichung der Rechtsbeschwerde an der rechtzeitigen Stellung eines Antrags auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe sowie der Beauftragung eines am Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts – hat das Gericht die Notwendigkeit der Unterstützung und die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Regelungen heraus­gearbeitet. Es hat ausgeführt, dass bei der Anwendung des Verfahrensrechts der Rechtsgedanke des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu beachten sei. Die Verfahrensfähigkeit der Betroffenen (die Anwendung von § 275 FamFG) dürfe nicht dazu führen, dass diese in der Durchsetzung ihrer Verfahrensrechte abgeschnitten werden. Hierdurch würde das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechts­staatsprinzip verletzt werden. Dabei plädiert das BVerfG aber zutreffend nicht dafür, dass von dem Grundsatz der vollen Verfahrensfähigkeit in eigenen Angelegenheiten abzuweichen ist.[9] Vielmehr müssten die verfahrensmäßigen Rechte der betroffenen Personen sichergestellt werden. Hierzu gehöre insbesondere die Bestellung von Verfah­renspflegern. Werde kein Verfahrenspfleger bestellt, liege – wie auch der Bundes­gerichtshof in dem hiesigen Fall ausgeführt hat – eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG vor.

In einem zweiten Schritt ist neben der Information der Betroffenen daher die notwendige Unterstützung bei der Ausführung ihrer Verfahrensrechte sicherzustellen. In Betreuungs­verfahren kann dies durch die Bestellung von Verfahrenspflegern erfolgen. Verfahrens­pfleger sind nach § 276 Abs. 1 FamFG zu bestellen, wenn sie zur Wahrnehmung der Interessen der betroffenen Personen erforderlich sind. Darüber hinaus werden in § 276 Abs. 1 FamFG mehrere Regelbeispiele benannt, zudem enthalten einige Spezial­regelungen die Pflicht zur Bestellung von Verfahrenspflegern. Mit der Einrichtung einer Verfahrenspflegschaft soll – wie auch das BVerfG in seiner Entscheidung heraus­gearbeitet hatte –, ein Ausgleich zu der Verfahrensfähigkeit nach § 275 FamFG ge­schaffen werden; sie knüpft daher logisch an diese an.[10] Eine Bestellung von Verfahrens­pflegern ist dann nicht erforderlich, wenn die betroffene Person genügend Schutz im Verfahren genießt, zum Beispiel dann, wenn bereits eine anwaltliche Vertretung erfolgt, § 276 Abs. 4 FamFG.[11]

aa) Fürsorgliche Verfahrenspflegschaft?

Das gesetzgeberische Ziel bei der Schaffung der Verfahrenspflegschaft mit der Ein­führung des Betreuungsrechts 1992[12] war, mit den Verfahrenspflegern einen Helfer für die Betroffenen, nicht einen „Vormund“ zu schaffen.[13] Sie sollten damit eine Art Vermitt­lungsrolle im Betreuungsverfahren wahrnehmen, hierzu gehört auch, dass sie den betroffenen Personen den Ablauf des gerichtlichen Verfahrens erklären.[14] Die Verfahrenspflegschaft ist mit der Einführung des Betreuungsrechts als Innovation in das damalige FGG eingefügt worden und diente vor allem als fürsorgliches Element dem Schutz der betroffenen Person und zur Wahrung ihrer Belange im Betreuungs­verfahren.[15] Die Verfahrenspflegerinnen und -pfleger sollten aus objektiver Sicht eines Dritten dafür Sorge tragen, dass die Vorstellungen und Interessen der betroffenen Personen im Verfahren zur Geltung gebracht werden.[16] Sie sind aber nicht gesetzliche Vertreterin oder Vertreter der betroffenen Personen.[17] Daher waren Verfahrenspfleger auch nicht weisungsgebunden und hatten nicht den Willen der betroffenen Personen durchzusetzen.[18] Sie hatten nach der Begründung im Gesetzentwurf der Bundes­regierung nur die objektiven Interessen der Betroffenen wahrzunehmen, jedoch erkenn­bare Anliegen, soweit sie mit den objektiven Interessen vereinbar sind, vorzubringen.[19] Verfahrenspflegern oblag daher eine Bewertung der Wünsche der Betroffenen. Der Gedanke hinter der Norm war vor allem, eine geschäfts- und einwilligungsunfähige betroffene Person vor rechtlichen Nachteilen aus dem Betreuungsverfahren zu schützen, unabhängig davon, ob die betroffene Person nach ihrer eigenen Einschätzung eines solchen Schutzes bedarf.[20]

bb) Ausübung der Verfahrenspflegschaft nach den Grundsätzen der UN-BRK

Der Gedanke aus der Gesetzesbegründung[21], dass es sich bei Verfahrenspflegern um Helfer der betroffenen Personen handelt, soll für die weitere Argumentation aufgegriffen werden. Die besondere Rolle der Verfahrenspfleger wird auch in der hier kommentierten Entscheidung zur Wahrung des rechtlichen Gehörs der Betroffenen hervorgehoben. Dies setzt jedoch voraus, dass die Verfahrenspfleger nicht nur die objektiven Interessen der Betroffenen geltend machen, sondern deren Wünsche und Vorstellungen dem Gericht, ohne eine Bewertung vorzunehmen, vortragen.

Die oben geschilderte frühere Auslegung verkehrt die als helfendes Instrument gedachte Verfahrenspflegschaft in Fremdbestimmung und ist mit den Anforderungen der UN-BRK, insbesondere mit Art. 12 und 13 nicht vereinbar. Nach dieser erkennen die Vertrags­staaten an, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Rechts- und Handlungs­fähigkeit genießen und ihnen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen ist, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen sowie der gleich­berechtigte Zugang zur Justiz ermöglicht wird und die wirksame unmittelbare Teilnahme durch verfahrensbezogene und altersgemäße Vorkehrungen zu erleichtern sind.

Eine lediglich fürsorglich verstandene Verfahrenspflegschaft widerspricht diesen Grund­sätzen. Daher ist im Rahmen der konventionskonformen Auslegung der Norm zwar keine Weisungsabhängigkeit zu statuieren, jedoch eine stärkere Bindung der Verfahrens­pfleger an die Wünsche der betroffenen Personen. Die Orientierung an objektive Interessen ist nicht ausreichend. Im Ergebnis stellen an die Wünsche der betroffenen Person gebundene Verfahrenspfleger eine wichtige Unterstützungsmöglichkeit für die Betroffenen bei der Wahrnehmung ihrer Interessen dar und dienen der Stärkung des Teilhaberechts.

3. Umsetzung in der Entscheidung

Zutreffend haben die Vorinstanzen nach den geschilderten Grundsätzen die Notwendig­keit der Bestellung einer Verfahrenspflegerin beurteilt. In dem vorliegenden Verfahren tritt die Notwendigkeit der Bestellung einer Verfahrenspflegerin aufgrund der Sach­verhaltsgestaltung besonders deutlich hervor. Durch die bestehenden Differenzen zwischen den Eltern und dem gegebenenfalls vorliegenden Einfluss der Mutter auf die Betroffene liegt das Vorliegen eines Loyalitätskonflikts nahe und macht die Beteiligung einer familienfremden Unterstützerin umso notwendiger. Verfahrensrechtlich wird dieser Konflikt durch die Anhörungssituation ggf. sogar noch verstärkt, da die Betroffene nicht in ihrer üblichen Umgebung angehört wird, sondern in der Wohnung der Mutter, in der sie gar nicht lebt.

Damit die Verfahrenspfleger diese Rolle sowie ihre eigenen verfahrensmäßigen Rechte, die ihr neben der betroffenen Person zustehen,[22] wahrnehmen können, stellt der Bundes­gerichtshof zutreffend fest, dass sie an den Anhörungen sowie allen anderen Verfahrens­abschnitten zu beteiligen sind. Erfolgt dies nicht, ist der Anspruch der betroffenen Personen auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

IV. Fazit

Die Wahrnehmung von Verfahrensrechten durch Menschen mit Behinderungen bedarf, um den Anforderungen der UN-BRK gerecht zu werden und nicht zu einer Benachteili­gung zu führen, der ausreichenden Information aber auch der Unterstützung der Betroffenen im Verfahren. Hierzu ist die Verfahrenspflegschaft ein geeignetes Instru­ment, das der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs der Betroffenen dient. Eine rein fürsorgliche Wahrnehmung der Aufgaben der Unterstützung erfüllt die Anforderungen der UN-BRK nicht. Die Aufgabenwahrnehmung hat daher die Wünsche der betroffenen Personen zugrunde zu legen und ist nicht objektiv zu verstehen. Insoweit sind die Änderungen im Verfahrensrecht des § 275 FamFG n. F. ab 1. Januar 2023 ausdrücklich zu begrüßen. Verfahrensrechtlich sind zur Wahrung der Rechte der Betroffenen Verfahrenspflegschaften in größerem Umfang einzurichten und diese an Verfahrens­handlungen zu beteiligen, um den Anspruch auf rechtliches Gehör zu erfüllen.

Beitrag von Prof. Dr. Claudia Beetz, Ernst-Abbe-Hochschule Jena

Fußnoten

[1] Vgl. beispielhaft: BGH vom 22.07.2020 – XII ZB 228/20 – NJW 2021, 77; vom 06.05.2020 – XII ZB 504/19 – NJOZ 2020, S. 1029; vom 22.05.2019 – XII ZB 7/19 – NJW-RR 2019, S. 1026; vom 15.05.2019 – XII ZB 57/19; vom 14.02.2018 – XII ZB 465/17 – NJW-RR 2018, S. 514.

[2] BeckOK GG/Radtke GG Art. 103 Rn. 7.

[3] Vgl. hierzu gehe es in Keidel, FamFG, 20. Auflage 2020, § 275 FamFG Rn. 2.

[4] Vom 13.12.2006 ratifiziert durch das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21.12.2008 – BGBl. II, 1419 in Verbindung mit den Bekanntmachungen vom 05.06.2009 (BGBl. II, 812, 818).

[5] Vgl. hierzu BGH vom 30.10.2013 – XII ZB 317/13 – NJW 2014,215, Rn. 15.

[6] Ausführlich m. w. N. BeckOK GG/Radtke, 2021, Art. 103 Rn. 8.

[7] Vgl. hierzu BeckOK FamFG/Günter, § 275 Rn. 5.

[8] BVerfG vom 06.07.2020 – 1 BvR 2843/17 – NJW 2021, 691, NZFAm 2020, 909 mit Anm. Giers; mit Anm. Beetz BTPrax 2021, S. 135.

[9] Vgl. zur Kritik BeckOK FamFG/Günter FamFG § 275 Rn. 6; zustimmend Beetz BTPrax 2021, S. 135.

[10] MüKoFamFG/Schmidt-Recla, 3. Aufl. 2019, FamFG § 276 Rn. 1.

[11] Zur gegenteiligen Auffassung zur Beiordnung eines Rechtsanwaltes im Rahmen der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe: Bundestags-Drucksache 16/6308, 214 – hiernach ist eine Beiordnung nachrangig zur Bestellung von Verfahrenspflegern, kritisch hierzu: Weber in: FamFG, 20. Aufl. 2020, § 78 Rn. 7.

[12] Betreuungsgesetz vom 12.09.1990, BGBl. I 1990, 2002, zuvor gab es Verfahrenspfleger nur bei Unterbringungssachen sowie in den Unterbringungsgesetzen der Länder.

[13] GesE der Bundesregierung Bundestags-Drucksache 11/4528, S. 171.

[14] Leeb/Weber, NJOZ 2014, 1201, 1207 m. w. N.

[15] MüKo-FamFG/Schmidt-Recla FamFG § 276 Rn. 2.

[16] Vgl. hierzu: Giers in: Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 276 Rn. 1.

[17] Eine ausdrückliche Regelung wie in § 158 FamFG fehlt hierzu bislang. Diese wird in der Fassung ab 01.01.2023 in Absatz 3 Satz 3 durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrecht vom 04.05.2021 – BGBl. I, S. 882 eingefügt.

[18] Vgl. BVerfG vom 22.05.2013 – 1 BvR 372/13, Rn. 5 – BtPrax 2013, 150.

[19] Bundestags-Drucksache 11/4528, S. 171.

[20] MüKoFamFG/Schmidt-Recla, 3. Aufl. 2019, FamFG § 276 Rn. 1.

[21] Bundestags-Drucksache 11/4528, S. 171.

[22] Vgl. dazu ausführlich Leeb/Weber NJOZ 2014, 1201, 1207 f.


Stichwörter:

Betreuung, rechtliches Gehör, Verfahrensrecht, Art. 13 UN-BRK


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